Das Mittelmeer als grosse Bühne: Kronprinz Franz, Sohn von Siziliens König Ferdinand, erreicht am 31. Januar 1801 Neapel (zeitgenössisches Gemälde von Giovanni Cobianchi). DeAgostini/Getty Images

«Was Europa bedeutet, definiert heute der Norden»

Einst war das Mittelmeer das Herz der Welt. Wie verlor es an Bedeutung? Der Historiker David Abulafia ehrt seine grosse Geschichte als Ort des Austausches – und will doch, dass Britannien die EU verlässt.

Ein Interview von Olivia Kühni, 23.08.2019

Meere verbinden und trennen, und manchmal tun sie das eine mehr als das andere. Das Mittelmeer, das die meiste Zeit drei Kontinente miteinander verbunden hat, ist heute eine Grenze, die diese Kontinente voneinander trennt.

David Abulafia, «Das Mittelmeer. Eine Biografie», Kapitel «Das letzte Mediterrane Zeitalter – 1950 bis 2010».

Der Hochsommer ist stets eine seltsame Zeit im englischen Cambridge. Der Himmel spannt sich weit wie immer, aber die altehrwürdigen Colleges stehen ratlos herum, ihre Bewohnerinnen sind ausgeflogen. Dieser eine Tag, drückend und heiss, ist besonders seltsam: Vor wenigen Stunden hat das britische Parlament Boris Johnson zum neuen Premier­minister gewählt.

Er hat hundert Tage, um sein Land von der Europäischen Union zu trennen.

Das Haus von David Samuel Harvard Abulafia, Professor für Mittel­alterliche Geschichte und Autor eines umfassenden Werks zur Geschichte des Mittelmeers, liegt unten am Fluss Cam. Es sind eigentlich zwei Häuser, ausgebaut wie viele dort, wo die Familie seiner Mutter herstammt – in Marokko. Aussen schlichte Fassade, innen eine kühle Oase voller Bücher und Familien­fotos, mit einer Tür zu einem leicht abfallenden Garten. Abulafia bringt frisches Wasser und nimmt sich Zeit.

Zum Buch

David Abulafia: «Das Mittelmeer. Eine Biografie». Aus dem Englischen von Michael Bischoff. S. Fischer 2013, 960 Seiten, ca. 48 Franken (ca. 23 Franken als Taschenbuch). Der Verlag bietet eine Leseprobe.

Sein Plan für Europa, dies vorweg, überrascht für jemanden, der mit seiner Arbeit Jahrhunderte des Austausches und des Handels ehrt: Er würde es am liebsten zerschlagen sehen.

Herr Abulafia, was verdankt Europa dem Mittelmeer?
Europa hat im Mittelmeer begonnen. Das zeigt bereits der Mythos, in dem eine junge Europa vom griechischen Gott Zeus in Stiergestalt übers Meer entführt wird. Europa stammt aus Phönizien, dem heutigen Libanon. Dort entstanden im zweiten Jahr­tausend vor Christus die ersten Hoch­kulturen in dieser Region. Gemeinsam mit den Griechen, den Ägyptern und den Etruskern schufen die Phönizier im Laufe der Zeit ein riesiges Handels­netzwerk, das sie bis ins 9. Jahrhundert über das gesamte Mittelmeer ausbauten. Es gab einen enormen wirtschaftlichen und kulturellen Austausch, die europäische, die afrikanische und die asiatische Küste waren eng verbunden.

Die Phönizier waren nicht nur eine der herrschenden Handelsnationen vor 2000 Jahren, sie waren auch mit ihren Kriegsruderschiffen, den «Biremen», auf dem Mittelmeer gefürchtet. Wandmalerei aus dem siebten Jahrhundert vor Christus im Königspalast von Ninive. AKG Images

Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie Menschen aus allen Himmels­richtungen über das Meer ziehen: Kaufleute und Gelehrte, Feldherren, Piraten, Aristokraten, Missionare. Auch Frauen waren darunter, wie Sie betonen – sie verwalteten die Stammsitze der Handels­familien in den Hafen­städten, reisten als Adels­gattinnen und Prostituierte mit oder wurden als Sklavinnen verschleppt.
Das Ausmass des Austausches und des Handels war wirklich bemerkens­wert. Eine wichtige Rolle spielte auch das Römische Reich. Den Römern gelang etwas, das später nie wieder gelingen sollte: Sie stellten das gesamte Mittelmeer unter eine einzige politische Macht. Mare nostrum nannten sie es, «unser Meer», und das war es zu dieser Zeit tatsächlich. Die Herrschaft stellte sicher, dass Rom und das spätere Istanbul mit Getreide aus Nordafrika versorgt werden konnten, was damals die Kornkammer der gesamten Region war. Rom zerfiel, wie wir alle wissen, und seither hat es nie mehr eine einzige Macht über das Mittelmeer gegeben.

Ein Händler des 2. Jahrhunderts n. Chr. mochte sich fragen, ob die Einheit des Mittelmeeres überhaupt erschüttert werden konnte. Es war eine politische Einheit unter Rom. Es war eine ökonomische Einheit, die es den Kaufleuten ermöglichte, ohne Störungen kreuz und quer über das Mittelmeer zu fahren. Es war eine kulturelle Einheit, die ihren Ausdruck entweder in griechischer oder in lateinischer Sprache fand. Es war in mancherlei Hinsicht sogar auch eine religiöse Einheit oder eine Einheit in Vielfalt, da die Menschen des Mittelmeer­raums ihre Götter miteinander teilten, sofern sie keine Juden oder Christen waren. Die einheitliche Herrschaft über mare nostrum sicherte die Bewegungs­freiheit und führte zu einer kulturellen Durchmischung des Mittelmeer­raums, wie man sie in solchem Ausmass bis dahin noch nicht erlebt hatte.

Kapitel «‹Unser Meer› – 146 v. Chr. bis 150 n. Chr.».

Nach den Römern waren es die arabischen Kalifen, die bis an die europäischen Küsten vorrückten und unter anderem Südspanien und Sizilien besetzten.
Ja, aber sie scheiterten mit dem Versuch, die ganze Region unter eine Kontrolle zu bringen. Die Intensität des Handels aber blieb erhalten. Im Mittelalter dominierten Venedig, Genua und die Katalanen die Handels­netzwerke. Die Kreuzritter sorgten dann wieder für einen engen Kontakt in die Levante, als die Küste des heutigen Libanon unter christlicher Kontrolle stand.

Sehr aktiv und zeitweise mächtig waren im Mittelalter auch die Piraten und Seeräuber im Mittelmeer. Was war ihre Rolle?
Eine der interessanteren Ideen von Karl Marx war die Feststellung, dass Handels­hochburgen wie Venedig ihren Reichtum der Piraterie verdankten. Marx wusste nicht sehr viel über dieses spezifische Phänomen, er meinte es als Vorwurf, aber er hatte recht damit. Das Fundament von Handel ist oft die Piraterie, nicht nur im Mittelmeer, sondern etwa auch bei den Wikingern oder in der Karibik. Es ist schwierig, die Grenze zum anerkannten Unternehmer­tum zu ziehen. Oft bestand sie nur darin, dass eine politische Macht Piraten ihren offiziellen Segen gab.

Wo waren die Piraten stationiert?
Das bewegte sich im Laufe der Jahrhunderte hin und her. Malta beispiels­weise war ein Standort von Piraten mit halboffiziellem Rückhalt der Republik von Genua. Eine wahre Plage ab dem 14. Jahrhundert waren die Korsaren vor der Küste Tunesiens, die teilweise unter dem Schutz der Sultane standen. Der berühmteste von ihnen war Barbarossa, von dem haben Sie bestimmt schon gehört. Man sollte die Piraterie nicht zu romantisch sehen. Die Gefahr war gross, dass man gefangen genommen und als Sklave verkauft wurde, wenn man auf einer Mittelmeer­insel lebte. Das sieht man beispiels­weise in Mallorca sehr gut: Alle Städte sind etwas ins Landes­innere gebaut, um die Einwohner zu schützen.

Wüstes Treiben, manchmal sogar mit dem Segen der Politik: «Mittelmeer-Piraten würfeln um ihre Gefangenen», W. Ridgway (1869). Print Collector/Getty Images

Wie wichtig war der frühe Kapitalismus für den Aufstieg der Stadtstaaten rund um das Mittelmeer? Seefahrt kostet viel Geld.
Das ist ein sehr wichtiger Aspekt. In den Stadtstaaten wie Barcelona, Pisa oder Genua gab es eine für diese Zeit typische Zusammen­arbeit von Bürgern und lokalem Adel. Die Bürger hatten ein wenig Geld übrig, beispiels­weise aus dem Betrieb von Getreide­mühlen oder der Fischerei, das sie investieren konnten, und der Adel sah Möglichkeiten, das Einfluss­gebiet auszubauen. Die Feudalelite und die städtische Handelselite taten sich zusammen und begannen, Handels­flotten loszuschicken. Das war das Fundament des wachsenden Wohlstands auf der europäischen Seite des Mittelmeers. Der Fall Venedig ist etwas komplizierter, da gab es keinen Adel.

Die italienischen Stadtgemeinden führten den niederen Adel des umliegenden Landes, der dort schon lange seinen Wohnsitz genommen hatte, mit einer Gruppe relativ neureicher Bürger zusammen, deren Stellung auf dem in Handel, Textil­gewerbe und Bankwesen erworbenen Reichtum basierte. Im frühen 12. Jahrhundert hatten diese Gruppen sich in Pisa und Genua bereits in erheblichem Masse durch Heirats­allianzen miteinander vermischt, die neues Geld in alte, dringend auf Bares angewiesene Familien brachten. Das Ansehen, das ihnen der Eintritt in Familien einbrachte, die sich auf dem Schlacht­feld oder in Seegefechten einen Namen gemacht hatten, übte grosse Anziehungs­kraft auf die reichsten Mitglieder der Kaufmanns­gilde aus. So entstand eine neue Solidarität. Die Patrizier waren gewiss nicht bereit, ihre Macht mit Handwerkern und Seeleuten zu teilen, die einen grossen Teil der Bürger­schaft ausmachten. Der Aufstieg der Kommune bedeutete nicht, dass die Städte zu Republiken wurden. Vielmehr bewies er, dass die Oligarchie gesiegt hatte – deshalb auch die erbitterten Fraktions­kämpfe auf den Strassen von Genua. Zwischen diesen Ausbrüchen von Gewalt gab es jedoch Gelegenheit, in bislang ungeahntem Ausmass Geld zu verdienen.

Kapitel «Der grosse Gezeitenwechsel – 1000 bis 1100».

Die ganze Mittelmeer­region scheint bis weit ins Spätmittelalter beeindruckend lebendig, unternehmens­lustig und abenteuerlich. Wie muss man sich in der Zeit den Kontinent vorstellen? Die Schweiz? Sie wirkt daneben wie unbedeutendes Hinterland.
Nicht nur. Die Schweiz hatte einen grossen Vorteil, nämlich den, dass alle Routen über die Schweiz führten. Der deutsche Adel liess sich also dort in Schlössern nieder und machte klar, dass niemand würde vorbeiziehen können, es sei denn, er zahlte eine Steuer.

Bedrohung und Erpressung waren nicht nur auf See ein gutes Geschäft.
So ist es. Man kontrollierte die Flüsse, insbesondere den Rhein und die Rhone, die wichtige Transport­wege waren. Es gab dort einige Stationen, und dort hatten die Händler Geld abzugeben. Relativ unbedeutende deutsche Prinzen – im Mittelalter gab es massenhaft davon – hielten sich in der Schweiz einfach ein Schloss, ein bisschen Land und den Blick auf den Fluss, und Letzteres war, was zählte. Davon liess sich ganz gut leben.

Sie stammen ebenfalls aus einer Handels­familie. Waren Ihre Vorfahren auch im Mittelmeer unterwegs?
Mein Grossvater wurde in Tiberias geboren, im heutigen Israel/Palästina. Meine Grossmutter stammte aus einer jüdischen Handels­familie in Marokko, die mit Tee mit England handelten. Ihr Haupt­fokus war aber der Atlantik, das Mittelmeer war eher sekundär.

Ab dem 17. Jahrhundert bewegte sich der Schwer­punkt Europas ganz langsam in Richtung Norden. Was der Anfang werden sollte vom Verblassen des Mittelmeers.
Das ist eine sehr wichtige Entwicklung. Sie begann mit den Nieder­landen und ging später weiter mit Gross­britannien. Die Holländer lebten ursprünglich vom Handel in der Ostsee. Doch mit den neuen Märkten in Amerika wurde der Atlantik wichtiger, und davon konnten die Niederländer und die Briten profitieren. Das Mittelmeer verlor auch an Attraktivität wegen der Osmanen, von denen man stets Eroberungs­versuche fürchtete. 1669 eroberten sie Kreta. Danach wurden sie schwächer, aber die ständige Bedrohung trug dazu bei, dass das Mittelmeer unwichtiger wurde.

Über die nächsten zweihundert Jahre verlor das Mittelmehr dramatisch an Bedeutung. Warum?
Wegen des Aufstiegs der Weltmeere, der Globalisierung. Das Mittelmeer ist seither nur noch eine Durchgangs­station. Im 19. Jahrhundert gab es auf den ersten Blick eine Erneuerung. Die Briten, mittlerweile die wichtigste Marine, nahmen Gibraltar ein, später Malta und Zypern. Sie kontrollierten Menorca, gingen eine Union mit Korsika ein, nahmen grossen Einfluss in Ägypten, was schliesslich im Bau des Suezkanals gipfelte. Der entscheidende Punkt aber ist: Der Suezkanal ist eine Route aus dem Mittelmeer hinaus. Es ging nicht mehr um das Mittelmeer – es ging um die Passage nach Indien. Die Briten sicherten sich ihren Weg über die Meere.

All das änderte sich mit dem neuen Vizekönig, Saids fähigem und effizientem Neffen Ismail. (…) Er war es, der sagte: «Ägypten muss ein Teil Europas werden.» Ismail war überzeugt davon, seine Beiträge zum Bau des Kanals mit seinen beträchtlichen Einnahmen aus der Baumwoll­produktion zahlen zu können.

(...) 1875 hatten seine Schulden die Gesamtsumme von drei Milliarden Franc überstiegen, und allein der Schuldendienst von jährlich mehr als 150 Millionen Franc liess seine Ressourcen schneller schmelzen, als er sie erneuern konnte – 1863 hatten die gesamten Steuer­einnahmen des ägyptischen Staates unter dieser Summe gelegen.

Französische Käufer waren bereit einzuspringen. Dann erhielt Benjamin Disraeli Kenntnis von diesen Vorgängen und erkannte, dass sich ihm für vier Millionen Pfund Sterling die Möglichkeit bot, teilweise die Kontrolle über die Mittelmeer­route nach Indien zu erlangen. Er informierte Königin Viktoria, ein Kauf der Anteile, «eine Sache von Millionen», werde «dem Besitzer einen gewaltigen, um nicht zu sagen überragenden Einfluss auf die Verwaltung des Kanals sichern. Es ist zu diesem Zeitpunkt von entscheidender Bedeutung für die Autorität und Macht Eurer Majestät, dass der Kanal England gehört.» Ende 1875 befand sich die britische Regierung im Besitz von 44 Prozent der Anteile, wodurch sie zum grössten Anteils­eigner aufstieg. Disraeli teilte der Königin mit: «Soeben hat es sich entschieden; Sie haben ihn, Madame.»

Kapitel «Und sie werden zueinanderfinden – 1830 bis 1900».

Dazu kam in Nordafrika und der Levante der Imperialismus.
Frankreich kontrollierte nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches Algerien, Marokko, Tunesien und Syrien, während Italien Libyen, die Briten Ägypten und Palästina kontrollierten. Doch das Interesse rund um das Mittelmeer war nicht mehr, gegen­seitigen Handel zu fördern. Es ging um anderes: in Algerien beispiels­weise darum, möglichst viele Franzosen anzusiedeln, dort französische Städte aufzubauen, die Einheimischen zu dominieren. Das ist eine andere Agenda.

Mit dem Suezkanal verabschiedeten sich die Briten von Europa und machten sich auf den Weg nach Indien (Foto aus dem Jahr 1935). AP Photo/Keystone

Was bedeutete das für die Region?
Die Kolonialisierung hat viel Unheil gebracht, insbesondere in Algerien. Das Ausmass der Diskriminierung war enorm, die muslimische Bevölkerung waren Menschen zweiter Klasse. Für die jüdische Bevölkerung war es etwas anders; die Europäer hielten Juden für sogenannt zivilisierbar nach europäischem Standard. Aber man muss sich im Klaren sein: Die gesamte Elite, etwa auch alle Studenten an der Universität, war französisch. Wie gesagt: Für die kolonialistische Ökonomie und all ihre Folgen spielte die Mittelmeer­region eine viel kleinere Rolle als beispiels­weise der Pazifik. Die Gewichte hatten sich bereits verschoben.

Das hat sich seither nicht mehr geändert. Heute ist das Mittelmeer erstens Tourismus­region und zweitens der Ort, an dem Menschen sterben auf dem Weg nach Europa.
Europa wird heute im Norden definiert, in Brüssel und Frankfurt. Die südlichen EU-Staaten werden behandelt wie Entwicklungs­länder. Dass über das Mittelmeer hinaus die Welt überhaupt weitergeht, hat man offenbar ganz vergessen.

Sie schrieben öffentlich, Europa müsse sich von Brüssel und Frankfurt abwenden und wieder mehr in Richtung Mittelmeer, Nordafrika und Levante blicken. Was meinen Sie damit?
Mir ist bewusst, dass das nicht einfach ist. Die Beziehungen sind angespannt. In Algerien gibt es ein grosses Misstrauen gegenüber der einstigen Kolonial­macht Frankreich; die Gräuel­taten sind lange nicht vergessen. Die ganze Region ist, vielleicht mit Ausnahme von Marokko und Tunesien, instabil. Wer in die Bresche sprang, war früher die Sowjetunion, heute Russland. Es unterhält enge Beziehungen mit Ägypten, Algerien, Tunesien, Libyen. Es nutzt auch den Israel-Palästina-Konflikt, um sich als der grosse Fürsprecher der arabischen Welt zu inszenieren. Kurz: Die ganze Region ist ein Hotspot für heikle politische Manöver. Mit wem als Partner sollte man Freihandels­verträge oder andere Abkommen abschliessen? Worauf will man vertrauen?

Nun, das ist das Problem.
Ich halte Euromed für eine gute Initiative, die Union der Mittelmeer­staaten, die der frühere französische Präsident Nicolas Sarkozy initiiert hatte. Im Moment ist das leider ein bisschen ein schlechter Witz. Sie haben es geschafft, die Israeli und Araber an einen Tisch zu bringen, das ist ein wichtiger Erfolg. Darüber hinaus aber bleibt ihr Einfluss begrenzt. Weil eben auch Frankreich, Italien oder Griechen­land mehr nach Norden blicken statt übers Mittelmeer.

Nicht nur die Mittelmeer­staaten, auch das Vereinigte Königreich sollte Ihrer Ansicht nach Brüssel und Frankfurt hinter sich lassen: Sie haben sich als einer von sehr wenigen britischen Wissenschaftlern öffentlich für den Brexit ausgesprochen. Das überrascht bei jemandem, der ein ganzes Werk der Bedeutung des Austausches gewidmet hat. Was ist der Grund?
Ich befürworte Handel und Austausch. Das Königreich ist traditionell sehr offen für Freihandel; Margaret Thatcher trat für einen integrierten Markt ein. Die EU aber geht viel weiter. Wir haben inzwischen Gerichts­höfe, wir haben Schengen, wir haben den Euro. Da hat UK zum Glück nicht mitgemacht, sonst wäre der Austritt jetzt noch viel komplizierter.

Aber gerade Ihre Geschichte des Mittelmeers zeigt doch: Enge wirtschaftliche Zusammen­arbeit braucht mit der Zeit gemeinsame Institutionen. Es wird sonst schlicht zu kompliziert, ständig Standards auszuhandeln.
Das stimmt. Vor einigen Jahren traf ich auf einer Konferenz in Istanbul Gerhard Schröder, ein sehr freundlicher Mensch übrigens. Er war überzeugt, dass der Euro ein Fehler war. Weil eben, wie er sagte, politische Integration zuerst kommen müsse. Das leuchtete mir natürlich ein, aber es bestätigte für mich: Daran kann das Vereinigte Königreich nicht teilnehmen.

Warum nicht?
Nationale Souveränität ist für mich ein hohes Gut.

Wie stellen Sie sich die Zukunft vor?
Für mich ist klar, dass das Vereinigte Königreich seine Handels­beziehungen mit Partnern stärken muss, die dafür offen sind. Mit den USA und Kanada, auch mit Japan. Daran arbeitet man ja. Das Problem ist, dass wir erst den Austritt unterzeichnet haben müssen, bevor wir Freihandels­abkommen aushandeln können. Deswegen bin ich übrigens auch dafür, dass wir so schnell wie möglich rausgehen.

Das ist auch die Haltung Ihres neuen Premiers Boris Johnson.
Wir müssen das riskieren.


Auf dem Rückweg durch das Städtchen füllen sich die Strassen mit kichernden chinesischen Teenagern in Neonshirts und mit riesigen Namens­badges um den Hals. Seit einigen Jahren reisen Hunderte von ihnen im Sommer zu Sprach­kursen nach Cambridge. Die Colleges vermieten ihnen einen Teil ihrer leer stehenden Zimmer und füllen so ihre Kassen.

Vor dem gepflegten Rasen – Betreten verboten – und der steinernen Eingangs­pforte des King’s College stehen sie so dicht, dass man kaum vorbeikommt.

Gegenüber sitzt ein Mann im Werks­overall auf einer Mauer und beobachtet mit finsterer Miene den Platz. «Coming to see Europe, are you», sagt er zischend. Und spuckt auf den Boden.