Bergs Nerds

Nerds retten die Welt

Folge 17: Gespräch mit Elizabeth Anne Montgomery, Professorin für Pathologie und Onkologie an der Johns Hopkins School of Medicine in Baltimore, USA.

Von Sibylle Berg, 20.08.2019

Elizabeth Anne Montgomery ist Professorin für Pathologie und Onkologie am Johns Hopkins University Medical Center in Baltimore, USA. Ihre Fachgebiete sind Knochentumoren, gastrointestinale Pathologie, allgemeine Pathologie, Weichteiltumoren und Magenkrebs. Sie forscht über gastrointestinale Krankheiten und Weichteiltumoren.

Guten Morgen, Dr. Montgomery, haben Sie sich heute schon Sorgen um den Zustand der Welt gemacht?

Natürlich.

Ich versuche zu konkretisieren: Was scheint Ihnen momentan die grösste Beleidigung Ihres Verstandes?

Die Menge an reiner Sekretariats­arbeit, die ich jeden Tag mache.

Wie kam es zu Ihrem Berufswunsch? Können Sie sich an den Moment erinnern?

In der Tat. Ich hatte noch nie davon gehört, als ich mit dem Medizin­studium begann, aber ich habe mich verliebt, sobald ich meinen ersten Objekt­träger gesehen habe.

War er … atemberaubend schön?

Eher hoffnungslos langweilig. Es war nur eine Hautwunde, aber ich war fasziniert von der Symphonie der Zellen in ihren koordinierten Bemühungen, das Gewebe zu reparieren.

Ich fasse Ihre Fachgebiete noch mal zusammen: Gastrointestinale Pathologie – also im Wesentlichen die Verdauungs­organe von der Speiseröhre bis zum Anus –, Gallenblase, Leber und Bauch­speichel­drüse. Das klingt erst einmal ein wenig … darmig. Hatten Sie als Studentin eine Vorstellung davon, wie Ihre spätere Arbeit aussehen könnte?

Ich wollte eine Weltklasse-Pathologin sein und in der Lage, exakte Diagnosen für Patienten zu erstellen. Immer eine einwandfreie Diagnose stellen zu können und eine interessante akademische Karriere zu haben, das war mein Traum.

Was auch immer eine interessante akademische Karriere heisst – hat sich Ihr Wunsch erfüllt?

In hohem Masse. Allerdings habe ich nicht immer eine einwandfreie Diagnose gestellt. Unabhängig davon ist dies eine aufregende Zeit für eine Pathologin mit einer Explosion innovativer Behandlungen, insbesondere für Krebs­erkrankungen, die früher ein automatisches Todes­urteil waren. Die Behandlungen hängen von einer exakten Diagnose ab, und wir werden immer besser. Natürlich liest man immer wieder von den Ausnahmen in der Zeitung.

Apropos Medien und populär­wissenschaftliche Vorstellungen: Spüren Sie als Lehrende die plötzliche Popularität der Pathologie durch Kriminal­bücher und -serien?

Ja, und das ist etwas komisch. Ein Grossteil der Pathologie im Fernsehen betrifft Autopsien und die Suche nach der passenden DNA, mit dem Ziel, verrückte Vergewaltiger und Mörder zu finden. Die hochmodernen Geräte funktionieren im Fernsehen viel besser als im wirklichen Leben. Und die Figuren sind oft sehr glamourös und sehen gut aus. Dies hat den amüsanten Effekt, dass intellektuell verhinderte, aber mediensüchtige Schüler dazu inspiriert werden, sich mit der Pathologie auseinander­zusetzen. Infolge­dessen tun einige der Leute, die am Ende Autopsien durchführen, dies, weil ihnen die Fähigkeiten fehlen, mit Proben von lebenden Menschen umzugehen, da ihre Unfähigkeit ja keine Konsequenzen hat, wenn der Patient bereits tot ist. Keine Verbrechen werden durch stationäre Autopsien aufgeklärt, die oft in Universitäts­kliniken von Kollegen durchgeführt werden, deren Forschungs­mittel versiegt sind und die eine undankbare Pflicht gegenüber dem Krankenhaus erfüllen müssen. Aber natürlich gibt es auch ausser­gewöhnlich brillante forensische Pathologen, also ignorieren Sie meine abgebrühte Sicht der Dinge.

Ist die Enttäuschung der Studierenden gross?

Diejenigen, die dachten, dass die Geräte aus dem Fernsehen echt seien, müssen zutiefst enttäuscht sein. Aber diejenigen, die daran interessiert sind, Proben von lebenden Patienten mit modernsten Techniken zu untersuchen und auf der Grundlage solider diagnostischer und forschender Fähigkeiten zu analysieren, die sind jeden Tag von der Pathologie begeistert.

Ihr Arbeitsalltag unterscheidet sich vermutlich stark von dem der eleganten Pathologinnen in Krimifilmen, die immer erregt atmend auf den Leichen-Wurmbefall starren.

Abgesehen davon, dass ich atemberaubend schön und glamourös bin – ja, richtig! –, ist mein Tag in der Tat ganz anders.

Eigentlich ist die Forschung nicht mein Haupt­augenmerk, und die Dinge, die ich veröffentliche, sind sehr praktische Artikel zur diagnostischen Pathologie. Mein Tag beginnt mit der Überprüfung meiner Beratungs­fälle mit meinen Kollegen. Dabei geht es um mikroskopische Objektträger aus Patienten­proben. Diese Proben wurden von einem anderen Pathologen in einem anderen Spital in den Vereinigten Staaten oder einem anderen Land überprüft, und sie werden mir zur Unterstützung bei der Diagnose zugesandt. Die kann ich normalerweise auch stellen, weil ich ein massiver Nerd bin.

Sie sehen mich nicht, aber mein Gesicht drückt im Rahmen seiner Ausdrucks­losigkeit grosse Begeisterung aus.

Viele der Proben auf den Objektträgern stammen aus Biopsien des Magen-Darm-Traktes, die bei der Koloskopie gewonnen wurden, oder aus Biopsien der Speiseröhre und des Magens und anderer Verdauungs­organe, andere aus Weichteil­tumoren. Mit den Ergebnissen dieser Proben wird zum Beispiel die zukünftige Behandlung bestimmt oder festgestellt, dass der Tumor gutartig ist. Oder es wird ein ungewöhnlicher Zustand diagnostiziert. Das alles bei einem lebenden Patienten, der oft gespannt auf die Ergebnisse wartet.

Nachdem ich die Beratungsfälle durchgeführt habe, wende ich mich den routinemässigen Biopsien der Johns-Hopkins-Universität zu und überprüfe sie mit unseren Residents (Red.: nicht spezialisierte Ärzte, die gerade Pathologie lernen). Derweil bringen mir Kollegen aus der Abteilung ihre Problemfälle, die ich überprüfe. Manchmal fühle ich mich wie ein Orakel, und ich vermute, dass mein Rat manchmal genauso verwirrend ist.

Danach kümmere ich mich um administrative Angelegenheiten und arbeite an Forschungs­projekten und anderen akademischen Aufgaben. Vergangenen Sonntag etwa versteckte ich mich in meinem Büro und überprüfte Schnitte* von Patienten mit ulzerativer Kolitis. Und gestern Nachmittag, nachdem ich alle meine patienten­bezogenen Arbeiten erledigt hatte, die immer an erster Stelle stehen, habe ich ein Manuskript zur Rosai-Dorfman-Krankheit überarbeitet.

Am Ende der meisten Tage (und immer am Freitag­abend, gottverdammt!) treffen Proben von ziemlich kranken Patienten in unserem Spital ein, die eine dringende Diagnose brauchen. Das Problem ist in der Regel eine böse Infektion oder eine dringende Krebs­diagnose. Und manchmal halte ich Vorträge vor Medizin­studenten und Residents oder werde von Kollegen weltweit zu Vorträgen eingeladen.

Sich im Büro verbergend die Schnitte* von Patienten mit ulzerativer Kolitis zu überprüfen, das klingt nach den guten Momenten. Gibt es mehr davon, und was sind die unangenehmen Seiten Ihrer Arbeit?

Das Beste: Diagnostische Pathologie ist für mich eine grosse Freude. Ich werde nie müde, Schnitte* zu betrachten und grossartige Diagnosen zu stellen, Diagnosen, die eine echte Herausforderung sind. Und zu sehen, wie Auszubildende tolle Arbeit leisten, immer besser werden, ist auch für mich eine grosse Freude.

Das Schlimmste: die Frustration, wenn ich bestimmte Dinge nicht herausfinden kann. Auch der administrative Unsinn, dem Ärzte ausgesetzt sind, ist ein ständiger Kopfschmerz. Die vielen Sekretariats­aufgaben, die ich deshalb zu bewältigen habe. Die nicht seltenen hartnäckigen Anfragen von Internisten und Onkologen, dies oder jenes zu tun, wenn ich weiss, dass es eine nullprozentige Chance gibt, dass solche Tests einen Mehrwert schaffen, aber eine hundertprozentige Chance, dass sie nur Geld verschwenden.

Ich wollte früher Wissenschaftlerin werden wegen der Nerdhaftigkeit, weitgehend ohne andere Menschen in einem geschlossenen System zu arbeiten. War das bei Ihrer Berufswahl ausschlaggebend?

Überhaupt nicht. Ich ging zur medizinischen Fakultät, um Geburts­helferin und Gynäkologin oder Chirurgin zu werden – und verliebte mich einfach in die Pathologie. Heute freue ich mich jedoch wie Sie über die Nerdhaftigkeit, mich in meinem Büro zu verstecken und meine Lehrbücher und so weiter zu schreiben, wenn niemand da ist. Als Medizin­studentin habe ich erkannt, dass ich ein eher zurückgezogener Mensch bin, und die Pathologie kam mir da entgegen. Ich verbringe heutzutage viel Zeit damit, mit Chirurgen und Gastro­enterologen zu kommunizieren. Auch Patienten rufen mich an. Aber es ist nicht dasselbe, wie wenn ich den ganzen Tag in einer Klinik verbringen und mit Patienten sprechen würde.

Durch das wundervolle Internet ist heute jede eine Spezialistin für alles geworden. Die Menschen wissen über die Auswirkungen von Impfungen und Weltraum­technik Bescheid. Spüren Sie in Ihrem Bereich auch die neue Dreistigkeit der halb informierten Laienkritik und der Wissenschaftsungläubigkeit?

Das tun wir in der Tat, aber natürlich nicht in dem Masse, in der Kinder­ärztinnen unter fehlgeleiteten Impfgegnern leiden. Laienkritik richtet sich eigentlich recht selten gegen die Pathologie. Vielleicht liegt es daran, dass die Geräte in den Krimis so gut funktionieren und die Pathologen in dieser fiktionalen Welt das Verbrechen immer aufklären.

In vielen Regierungen westlicher Länder sitzen heute populistische Neoliberale oder auch faschistoide Regierungs­mitglieder, die wissenschafts­feindlich agieren, um ihren Wählerinnen und Wählern zu gefallen. Welche Auswirkung hat das auf die Gesellschaft und auf Sie als Wissenschaftlerin?

Da ich keine Grundlagen­forschung oder Forschung über die Erd­erwärmung, über die Auswirkungen einer Waffen­kontrolle oder von Impfungen durchführe, ist meine persönliche Arbeit nicht betroffen. Natürlich könnten die gesellschaftlichen Auswirkungen von Impfgegnern in den kommenden Jahren verheerend sein. Wenn eine ganze Gemeinschaft geimpft wird, werden die Krankheiten, für die die Impfungen erstellt wurden, in dieser Gesellschaft im Wesentlichen eliminiert. Dies wird als Herden­immunität bezeichnet. Das hat zur Folge, dass die kleine Gruppe von Kindern, die die Impfstoffe nicht bekommen können, weil ihr Immun­system geschädigt ist, sicher ist, da es fast keine Infektionen mehr gibt. Die Herden­immunität schützt damit jene, die die Impfstoffe nicht vertragen, sowie Ungeborene. Beispielsweise können Schwangere, die Röteln ausgesetzt sind, schwer geschädigte Babys zur Welt bringen. Kinder, denen keine Impfstoffe verabreicht werden können, sind etwa jene, die aufgrund einer Chemo­therapie bei einer Krebs­erkrankung gebrechlich sind oder mit einem abnormen Immun­system geboren wurden.

Das Risiko schwerer Komplikationen durch moderne Impfstoffe ist geringer als das Risiko, vom Blitz getroffen zu werden. Andererseits ist das Risiko schwerer Komplikationen und des Todes durch die Krankheiten, die die Impfstoffe verhindern, recht hoch, weshalb wir unsere Kinder impfen. Wahrscheinlich wäre ich im Rollstuhl, wenn ich nicht geimpft worden wäre. Ich bin Anfang 60 und habe den ersten Polio-Impfstoff bekommen, während etwas ältere Kinder in meiner Nachbarschaft noch an Polio erkrankten. Für mich sind Eltern, die sich weigern, ihre Kinder zu impfen, egoistisch, weil sie sich weigern, Teil des grösseren Gemeinwohls zu sein, nur weil sie die Risiken für ihre eigenen Kinder falsch einschätzen. Wegen solcher Eltern sind Masern jetzt wieder in der Gemeinschaft, und ungeimpfte Kinder sterben an der Krankheit. Das ist wirklich beelendend. Masern sollten vollständig vom Erdboden verschwinden. Sie waren fast ausgerottet.

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«Wäre ein Mensch so schwach­sinnig wie eine künstliche Intelligenz, es wäre eine Katastrophe.»
Elizabeth Anne Montgomery

Künstliche Intelligenz (KI) hat zur Folge, dass der Pathologe dank darauf basierenden Bild­analyse­verfahren optimal unterstützt wird. Heisst es. Und dass bald überall Autos herumfliegen, kollidieren und auf Passanten fallen. Wie ist der momentane Stand der KI in der Pathologie wirklich?

Momentan ist die KI in der diagnostischen Pathologie nutzlos, aber sie wird sich mit der Zeit verbessern. An einem guten Tag muss die KI eine Million Versuche machen, nur um bestimmen zu können, ob das Gewebe aus dem Magen oder dem Dickdarm kommt. Wäre ein Mensch so schwachsinnig wie eine KI, es wäre eine Katastrophe. So haben zum Beispiel in einer Studie die neuronalen Netzwerke die Hälfte der Magenkrebse übersehen. Magen­krebs ist schwierig zu erkennen. Ein neuerer Artikel zeigte zwar, dass der Computer gelehrt werden konnte, Helicobacter-pylori-Infektionen recht gut zu erkennen. Aber er würde den damit verbundenen Magenkrebs übersehen! Die KI ist auch wirklich sehr langsam, weil die Intelligenz künstlich ist, während ein Mensch zum Beispiel sehr schnell mit Glasdias umgehen kann.

Doch die Technologie verbessert sich. So hat eine aktuelle Studie in «Nature Medicine» gezeigt, dass ein Computer – mit dem Einsatz massiver Kosten und einer unglaublichen Anzahl gescannter Bilder – lernen kann, bestimmte Arten von Proben zu testen, die für einen Menschen mühsam zu überprüfen sind.

Die Verwendung von KI erfordert die Vorbereitung ganzer Schnittscans*, was eine Ewigkeit dauert, und diese Scans zu überprüfen, ist mühsam und zeitintensiv. Einer meiner Kollegen in der Pathologie verbringt viel Zeit damit, solche Schnittscans* herzustellen und in Meetings die Anwendung von KI zu fördern – das gehört zu seinem Job. Seine Arbeit in der Pathologie aber erledigt er mit den traditionellen Methoden, weil sie blitzschnell und den aktuellen KI-Methoden weit überlegen sind.

Die populär­wissenschaftliche Behauptung, dass KI – besser als Fachärzte – Weichteil­tumoren erkennt, ist also kompletter Quatsch und stimmt nicht?

Sie stimmt nicht einmal im Ansatz. Es gibt Hunderte Arten von Knochen- und Weichteil­tumoren, die als schwer zu diagnostizieren gelten. Die KI kann heute kaum die anatomische Lage einer Probe erkennen. Aber irgendwann könnte sie eine grosse Rolle spielen, indem sie jene Analyse­arbeiten bewältigt, die repetitiv und für einen Menschen nicht besonders interessant sind. Klassisches Beispiel sind Prozess­zellen in Pap-Abstrichen. Die KI ist grossartig, um den Job eines Menschen dort zu ersetzen, wo er sich durch eine Unmenge von meist normalen Zellen durcharbeiten muss. Der oben erwähnte Artikel in «Nature Medicine» wählte genau solche Arbeiten, bei denen Langeweile oder Unterbrechungen dazu führen können, dass Menschen kleine Stellen mit abnormalem Gewebe übersehen. In der Gastrointestinal-Pathologie könnte die KI beispielsweise routine­mässig Darmpolypen (Adenome) erkennen. Dem stehen zurzeit allerdings noch Kosten- und Daten­management­probleme entgegen. Ausserdem ist die KI immer noch sehr langsam, während eine Person viele Schnitte* sehr schnell und präzise analysieren kann. Ich habe mit einigen Unternehmen über Anwendungen gesprochen, und dabei ging es jeweils darum, dem Computer beizubringen, sehr einfache spezifische Dinge zu identifizieren, die eher langweilig zu diagnostizieren sind.

Könnten Sie mir erklären, was genau Molekular­pathologie ist und wie sie funktioniert?

Es gab eine Revolution in unserem Verständnis der genetischen Ereignisse sowohl bei Tumor- als auch bei Nicht-Tumor-Erkrankungen des Menschen. Dazu hat die Molekular­pathologie beigetragen. Das Wissen kann genutzt werden, um eine Diagnose einer bestimmten Krebsart zu bestätigen oder um eine wirksame Behandlung für einen Tumor oder eine Erkrankung zu wählen.

Molekulare Tests für bestimmte Chromosomen-Translokationen können beispielsweise die Diagnose mehrerer Tumor­arten bestätigen. Das einzige Problem ist, dass die gleichen Translokationen bei Tumoren mit völlig unterschiedlicher Biologie zu finden sind, wobei die eine tödlich und die andere völlig gutartig sein mag, aber sie teilen eine charakteristische Chromosomen-Translokation. Das heisst, die altmodischen Methoden sind immer noch wichtig. Wenn wir aber wissen, dass ein Tumor bösartig ist, kann dieselbe Art der Prüfung angewendet werden, um die exakten niedermolekularen Medikamente zu bestimmen, die eine Heilung bieten könnten.

Es werden auch Tests auf Mutationen in bestimmten Genen durchgeführt, entweder um die Reaktion auf eine bestimmte Chemo­therapie vorherzusagen oder um vorherzusagen, wie aggressiv der Tumor sein könnte. Diese Art von Tests gehört zum Bereich der Pathologie. Wir überprüfen die Schnitte* und wählen die besten Testbereiche aus, um ein repräsentatives Ergebnis zu erzielen (ich würde nicht darauf vertrauen, dass ein Computer dies tut). Das Gewebe in diesem Bereich kann dann entweder vom Objekt­träger abgekratzt und in Reagenz­gläsern auf Genveränderungen analysiert werden, oder es können spezifische Reagenzien direkt auf die Objekt­träger aufgebracht werden, sodass jede Veränderung mit unterschiedlichen Mikroskopie­techniken und mit Kenntnis des genauen Gewebetyps und der jeweiligen Anomalie visualisiert werden kann. Ein Problem in einigen Studien ist, dass die falsche Art von Gewebe die analysierte Probe verunreinigt und zu irreführenden Ergebnissen führt.

Und noch was: Molekulare Tests, wie sie in Fernseh­sendungen zu sehen sind, sind sehr lebendig und gut und wichtig. Diese Art von Tests erfolgt an der sogenannten Mikrosatelliten-DNA, dem nicht codierenden Teil der DNA. Diese DNA-Sequenzen sind für jede Person einzigartig. Natürlich sind die forensischen Anwendungen von molekularen Tests bekannt. Dazu gehören das Bestimmen der Vaterschaft, das Identifizieren von Kriminellen durch die biologischen Beweise, die sie am Tatort hinterlassen, und das Identifizieren verkohlter menschlicher Überreste bei Katastrophen wie Flugzeug­abstürzen. Diese Techniken haben die Arbeit der forensischen Pathologen modernisiert. Die Beurteilung der Mikrosatelliten-DNA kann aber auch im Spital genutzt werden, um festzustellen, ob ein Tumor mit einer Immuntherapie behandelbar ist.

Sie nahmen an der WHO-Weichgewebe­klassifizierung teil, die zwei neue Einheiten umfasste. Welche waren das, und was war das Bahnbrechende an dieser Klassifizierung?

Ich habe Abschnitte sowohl für die gastro­intestinale als auch für die Weichteil­klassifikation der WHO gemacht, aber meine Rolle war in beiden Fällen relativ klein. Diese Klassifizierungen werden dieser Tage veröffentlicht. In beiden Klassifikationen gibt es viele Neuerungen, von denen sich ein Grossteil um Verbesserungen aus der Molekular­pathologie dreht. Die beiden neuartigen Entitäten, die ich zur Klassifikation der Weichteile beigetragen habe, gibt es schon seit einiger Zeit, aber es dauert, bis sie international akzeptiert werden. Jetzt werden wir wirklich nerdig: Die eine Entität heisst myxoinflammatorisches fibroblastisches Sarkom, das bösartig, aber nicht sehr stark ist, und die andere heisst anastomosierendes Hämangiom, das für manche Pathologen wie ein bösartiger Tumor aussieht, aber vollkommen gutartig ist. Beide sind meine Babys, vor allem das anastomosierende Hämangiom. Meine Arbeit baute auf jener von Sharon Weiss auf, einer sehr berühmten Weichteil­pathologin für das Sarkom!

Ein Hoch auf Ihre Babys und deren unkomplizierte Namen! Wenn man sie zu Tisch ruft, kann man sie vielleicht Fibi und Ana nennen.

Was halten Sie für die grösste Erkenntnis der letzten Zeit in Ihrem Fachgebiet?

Das Erkennen von rechtsseitigen Darmkrebs-Vorläufern, die bis vor kurzem niemand bemerkt hat. Da sie nicht wussten, wie man sie erkennt, haben Gastro­enterologen sie nicht entfernt, und die Darm­spiegelung hat daher bis vor kurzem den rechtsseitigen Darmkrebs nicht verhindert. Das scheint so einfach und altmodisch zu sein, aber es ist wirklich sehr modern und wichtig. Ein Pathologie­kollege namens Dale Snover von der University of Minnesota fand heraus, welche Art von Polypen sich auf der rechten Seite befand, sich als nichts ausgab und sich dann in Krebs verwandelte. Wir dachten sogar, dass rechtsseitige Darm­krebs­erkrankungen einfach aus dem Nichts auftauchten! Niemand hat Dale beachtet, und dann erkannte plötzlich jeder, dass er recht hatte. Der Polyp wird als sessiler gezackter Polyp oder sessiles gezacktes Adenom oder sessile gezackte Läsion bezeichnet, je nachdem, welche Bezeichnung Sie mögen.

Ich mag eigentlich alle …

Erst 2012 gab die American Gastroenterological Association sogar Richtlinien für diese Art von Polypen heraus. Heisst kurz: Die Gastroenterologin weiss jetzt, wie man diese Art von Polypen entfernt, um zu verhindern, dass Sie einen rechtsseitigen Darmkrebs bekommen. Juhu!

Gibt es Erkenntnisse, die uns helfen, Magenkrebs prophylaktisch einzuschränken?

Sicher, das ist einfach. Die Ausrottung von Helicobacter pylori ist die grosse Veränderung. Früher war Magenkrebs weltweit die Nummer 1, heute nicht mehr.

Der World Cancer Research Fund sagt uns, dass die Magen­krebs­raten in Asien am höchsten sind, in Afrika und Nordamerika am niedrigsten. Haben Sie eine einfache Erklärung für uns, die wir unser Wissen aus dem Netz beziehen?

Es gibt viele Daten über die Synergie von Helicobacter-pylori-Infektionen und Ernährungen, die reich an geräucherten Lebens­mitteln und arm an Obst und Gemüse sind und die Zahl der Fälle von Magenkrebs erhöhen. Auch das Rauchen ist ein Faktor. All diese Dinge prägen das häufige Vorkommen von Magen­krebs in Südostasien.

Hatte die industrielle Landwirtschaft einen Einfluss auf die Krebsrate?

Das ist kein Thema, in dem ich viel Erfahrung habe. Falls Sie sich wegen gentechnisch veränderter Stämme von Pflanzen sorgen, die für die Resistenz gegen Krankheiten geschaffen wurden: Dies scheint keine Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen zu haben. Jedoch könnte das Essen von Fleisch, das Hormone enthält, etwas bewirken, aber ich bin nicht über echte Daten informiert.

Was wissen wir (vor allem ich) heute über Knochen­krebs, was wir vor zehn Jahren noch nicht wussten?

Wenn Sie über Osteosarkome sprechen, gibt es viele aktuelle Daten zur molekularen Pathologie, aber diese haben keine erstaunlichen Verbesserungen in der Behandlung bewirkt. Wenn es um die Ausbreitung anderer Krebs­arten in den Knochen geht, ist die Revolution die Immun­therapie, bei der das Immun­system des Patienten genutzt werden kann, um Tumorzellen abzutöten. Das hat die Krebs­behandlung radikal verändert.

Gibt es Nahrungszusätze, die nachweislich krebsfördernd wirken? Und wenn ja, wird von Lobby­gruppen ein entsprechendes Verbot (siehe Zucker, Tabak, Umwelt­hormone) verhindert?

Das ist eine interessante Frage. Es gibt Daten darüber, dass rote Farbstoffe krebserregend sind, aber um eine Wirkung zu erzielen, sind massive Dosen erforderlich. Dasselbe gilt für verschiedene künstliche Süssstoffe. Offensichtlich sollten Menschen mit der angeborenen Stoffwechsel­krankheit Phenylketonurie (Säuglinge in den USA werden darauf getestet) kein Aspartam einnehmen, aber der Rest von uns wird keine LKW-Ladungen dieser Verbindungen zu uns nehmen, sodass das Risiko gering ist.

Interessanterweise werden zumindest in den USA Big-Pharma-Medikamente einer grossen Prüfung sowie einer Prüfung mit Offenlegung von Problemen und Klagen unterzogen, wenn Probleme auftauchen, von denen das Unternehmen in der präklinischen Phase nichts wusste. Im Gegensatz dazu unterliegen Nahrungs­ergänzungs­mittel, die in trendigen Lebens­mittel­geschäften verkauft werden, keiner Standardisierung und keiner Verantwortung. Du hast keine Ahnung, was in der Flasche ist. Bei den Pharmazeutika dagegen sind die Inhalte und Neben­wirkungen aufgeführt. Ich nehme an, dass die Inhaber von Unternehmen wie GNC (Red.: General Nutrition Centers, US-Nahrungs­ergänzungs­mittel­konzern) und anderen Firmen, die Ergänzungen verticken, das gutheissen. Sie können da unreguliert absahnen, was unter dem Radar der Öffentlichkeit zu liegen scheint.

Das ist etwas, das mich entsetzt, da ich Leber­biopsien sehe, die Leber­erkrankungen und Tumoren bei Patienten aufzeigen, welche Nahrungs­ergänzungs­mittel einnehmen. Wir sehen auch offene Leber­zirrhosen, die eine Transplantation erfordern, bei Menschen, die Nahrungs­ergänzungs­mittel einnehmen, die von Naturkostläden gehandelt werden und alle möglichen ungeprüften Vorteile bieten sollen. Postmenopausalen Leserinnen empfehle ich diese Website, wenn sie tatsächlich denken, dass die Einnahme von Trauben-Silberkerze ihnen das Gefühl gibt, sich frisch und jung zu fühlen. Auch junge Männer, die denken, dass anabole Steroid­cocktails ohne Etikett sie sexyer machen werden, sollten erst mal einen Blick darauf werfen. Die Website ist durch US-Steuergelder finanziert und eine grossartige Quelle. Hoffentlich bleibt sie unter dem Radar der staatlichen Budgetkürzungen!

Helfen also Nahrungsergänzungs­mittel ähnlich wie Homöopathie?

Ich denke, dass sie wertlos sind. Unsere Körper sind brillant. Durch eine ausgewogene Ernährung erhält unser Körper alles, was er braucht, und es gibt keinen Grund, etwas aus einem Geschäft hinzuzufügen. Das gilt für Vitamine und Mineralien, Aminosäuren und alles andere. Natürlich können Menschen, die sich schlecht ernähren, von einer täglichen Multi­vitamin­tablette profitieren, aber alle anderen benötigen das nicht. Darüber hinaus gibt es einige Krankheiten, die die Einnahme bestimmter Vitamine notwendig machen, und Menschen mit diesen Erkrankungen sollten dies auch tun. Und wenn jemand es vorzieht, Protein aus einem Pulver anstatt aus einem Lebensmittel zu erhalten, kann er das natürlich gerne tun, aber eine proteinhaltige Ernährung erfüllt dieselbe Aufgabe und ist wahrscheinlich viel billiger. Klar gibt es essenzielle Aminosäuren, die man braucht, aber man kann sie durch die Nahrung aufnehmen. Hüten Sie sich auch vor der Einnahme von zu vielen Vitaminen. So kann beispielsweise eine übermässige Einnahme von Vitamin A die Leber schädigen. Die Nahrungs­ergänzungs­mittel­industrie verdient Unmengen an Geld, und die Verbraucher haben nicht viel von diesen Produkten.

Frau Dr. Montgomery, vielen Dank für Ihre Zeit und Ihren Optimismus.

Illustration: Alex Solman

* In einer früheren Version stand hier «Dia» oder «Folie». Gemeint sind jedoch Schnittpräparate auf Objektträgern. Auf diesen wird Gewebe zur Ansicht unter dem Mikroskop präpariert.