Am Gericht

Stunk im Bunker

Ein Unteroffizier will für nächtliche Ruhe und Ordnung sorgen und zieht den Zorn seiner Kameraden auf sich. Diese beschliessen, ihm eine Lektion zu erteilen. Ein Fall für die Militärjustiz.

Von Brigitte Hürlimann, 14.08.2019

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Ort: Bezirksgericht March, Lachen SZ
Zeit: 12. August 2019, 9.15 Uhr
Fall-Nr.: MG 6 17.000626
Thema: Nötigung, Drohung, Tätlichkeit

Die Woche könnte besser beginnen. Die Nacht auf den Montag war zu kurz, der Schlaf miserabel. Als am frühen Morgen der Wecker klingelt: Faust drauf und weiterschlafen. Bis die Militärpolizei unten an der Haustüre steht und Sturm klingelt. Wie es danach weitergeht? Der Langschläfer darf sich rasch zurechtmachen und ein paar Unterlagen packen, dann wird er in Handschellen gefesselt und im Auto ins schwyzerische Lachen geführt.

Dort tagt seit knapp zwei Stunden das Militärgericht 2 in den Räumen des Bezirksgerichts March. Ab 11 Uhr wird der Prozess in Anwesenheit des angeklagten Wachtmeisters fortgesetzt. Er nimmt Platz neben seinem Verteidiger, Harold Külling, und legt sogleich die mitgebrachten Zeitungen vor sich auf den Tisch. Er ahnt, dass ihm ein langer Tag bevorsteht.

Das fünfköpfige Gerichts­gremium unter dem Präsidium von Oberst­leutnant Patrick Fluri hat zu Beginn der Haupt­verhandlung beschlossen, den Angeklagten polizeilich suchen und zuführen zu lassen. Sein Nichterscheinen war unentschuldigt, und das Gericht war letzten Dezember schon einmal vergebens zusammengekommen. Damals hatte sich der Wachtmeister wegen Krankheit abgemeldet, kurz vor Prozessbeginn. Beim zweiten Fernbleiben gibt es nun nicht mehr viel Federlesen. Der 33-Jährige entschuldigt sich, begründet sein Verhalten mit dem schlechten Schlaf und dem reflexartig abgestellten Wecker. Überhaupt belaste ihn dieses Verfahren sehr, es daure nun schon über drei Jahre. Völlig unverhältnismässig sei das Ganze, und er sei froh, wenn die Sache endlich beendet werde.

Zur Sache also: Der Wachtmeister wird beschuldigt, im Juni 2016 einen gleichrangigen, jüngeren Kameraden mitten in der Nacht drangsaliert zu haben, zusammen mit weiteren Armee­angehörigen. Es ist Samstagmorgen, zwei Uhr, die Männer befinden sich im Wiederholungs­kurs in Oberurnen. Tatort: das Zimmer Nr. 18 in der Zivilschutz­anlage, im Bunker unten, wo die Unter­offiziere schlafen und schnarchen (was man später auf einer heimlich erstellten Handy­aufnahme deutlich hören kann).

Der angetrunkene Wacht­meister soll seinem im Bett liegenden, 27-jährigen Kameraden zunächst eine schallende Ohrfeige verpasst haben, so die Anklage des Auditors, Major Manuel Inderbitzin. Dann schleicht sich der Betrunkene wieder weg, kommt ein paar Minuten später zurück und klebt dem verängstigten Mann Panzertape auf Mund und Oberkörper. Es gebe jetzt «sinnbildlich no es Chläbband uf d Schnurre», lallt der Angreifer. Und wenn er, der Gepiesackte, das nochmals mache, werde er mit Hand­schellen ans Bett gefesselt, dann sei Schluss mit Ausgang und Abtreten: «Isch min Ernscht.» Auch diese Worte sind auf der Ton­aufnahme festgehalten und werden im Gerichts­saal abgespielt.

Was das Panzertape und die Drohung betrifft, ist der ältere Wacht­meister geständig. Er betont allerdings, er sei betrunken gewesen, niemand habe seine Worte ernst genommen, auch der überfallene Kamerad nicht. Und von einer Fesselung könne nicht die Rede sein: Das Opfer habe das Panzer­tape innert weniger Minuten entfernen können, sei nie fixiert gewesen.

Die nächtliche Aktion im Bunker hat selbstredend eine Vorgeschichte. Das Ungemach für den jüngeren Unteroffizier beginnt an einem Mittwoch­abend. Er ist Wacht­kommandant und hat für die nächtliche Ruhe und Ordnung zu sorgen. Als ein paar Kameraden herumkrakeelen, Lärm machen und andere stören, weist er sie energisch zurecht. Es kommt zu einem hässlichen Wortgefecht. Der 27-jährige Wacht­meister meldet den Zwischen­fall tags darauf seinem Vorgesetzten. Und gerät dadurch erst recht ins Visier der Unteroffiziere.

Zwei Tage nach der Auseinandersetzung, es ist Freitag­abend, stellen ihn zwei Kollegen zur Rede und beschimpfen ihn. Es fallen die Worte Verräter, Kameraden­schwein, Arschloch, Ratte und Ähnliches. Es heisst, man verpfeife die Kameraden nicht, das sei ein ungeschriebenes Gesetz unter den Wacht­meistern. Der Gang zum Vorgesetzten sei unterste Schublade gewesen, eine Schande. Ein Besen fliegt durch den Bunker, dem 27-Jährigen werden Abzeichen vom Tarnanzug weggerissen. Bei all diesen Vorfällen war der Angeklagte, der ältere Wachtmeister, nicht dabei. Doch dann folgt als Höhepunkt der Abrechnung die Nacht von Samstag auf den Sonntag, mit der Ohrfeige und dem Panzertape.

Der «Verräter» (oder pflichtbewusste Unteroffizier, je nach Sichtweise) nimmt am Militär­strafprozess in Lachen als Auskunftsperson und danach als Zuschauer teil. Er bleibt bis zur letzten Minute im Saal, bis zur Urteils­verkündung, die zur nächtlichen Stunde stattfindet. In den Pausen und während der geheimen Urteils­beratung kommt es zu Begegnungen und Gesprächen mit dem Angeklagten. Die beiden Männer sprechen sich aus, reichen sich schliesslich die Hände. Ihre Versöhnung findet ausserhalb des Gerichts­saals statt. Beide sind inzwischen aus der Armee ausgeschieden, und beide haben vor, sich nach Abschluss dieses Militär­strafverfahrens wieder voll und ganz dem zivilen Leben zu widmen.

Das Militärgericht 2 spricht den Angeklagten der Tätlichkeiten und der versuchten Nötigung schuldig; zum Freispruch kommt es in Bezug auf die angeklagte Drohung. Der 33-Jährige wird zu einer bedingten Geldstrafe von 90 Tagessätzen à 100 Franken verurteilt, bei einer Probezeit von drei Jahren. Es handelt sich um eine Zusatzstrafe: Der Wachtmeister ist im Februar letzten Jahres von der zivilen Strafbehörde zu einer Geldstrafe wegen Diebstahl verurteilt worden. Weil die Sache im Bunker jedoch vor dem Diebstahl geschah, werden die Vorfälle bei der erneuten Straf­zumessung gesamthaft gewürdigt: so, als hätte das zuständige Gericht von Anfang an beide Sachverhalte gekannt und darüber ein einziges Urteil zu fällen.

Der Verteidiger des Angeklagten hat geltend gemacht, es sei nicht erwiesen, dass sein Mandant die Ohrfeige verabreicht habe. Die Klebeband-Aktion und die nur leicht drohenden Worte wiederum erfüllten keine Tatbestände: «Das Strafrecht schützt keine Mimosen, und schon gar nicht ist das Militär ein Ort für Mimosen», so Harold Külling.

Der malträtierte, jüngere Wachtmeister bekommt keine Genugtuung zugesprochen, er hat 5000 Franken gefordert. Und sein Angreifer wird nicht vollumfänglich freigesprochen: So haben beide Männer, der geschädigte und der angeklagte, an diesem Prozess ein bisschen gewonnen und ein bisschen verloren. Und sie haben miterlebt, welchen Aufwand die Militär­justiz betreibt, um solche Vorfälle aufzuarbeiten – und aufzuzeigen, dass Strafaktionen nicht geduldet werden. Von einem Lausbuben­streich zu reden, sagt Auditor Inderbitzin, sei eine Frechheit. Es gehe um unerlaubte Truppen­justiz, um den Angriff gegen einen wehrlos Schlafenden, im Bunker, mitten in der Nacht: «Niemand ist für das Opfer eingestanden.»

Am erstinstanzlichen Militär­strafprozess gilt das Unmittelbarkeits­prinzip; so wie früher bei den Geschworenen­gerichten. Nur der Gerichts­präsident und der Gerichts­schreiber kennen die Akten, die vier Mitrichter – in diesem Fall waren es drei Männer und eine Frau – erfahren erst im Gerichts­saal, worum es geht. Die wichtigsten Einvernahmen werden vom Präsidenten vorgelesen, vier Zeugen und Auskunfts­personen befragt. Sie alle wollen in der fraglichen Nacht nichts gesehen und nichts gehört haben. Das Opfer und der Täter geben ausführlich Auskunft. Dann wird die besagte Handy­aufnahme abgespielt, obwohl sich der Verteidiger dagegen gewehrt hat: Es handle sich um eine illegale Tonaufnahme. Nach einer kurzen, geheimen Beratung lässt das Gericht die Aufnahme als Beweis­mittel zu, allerdings nur auszugsweise.

Die Aufnahme ist vom Opfer erstellt worden. Der Mann hatte das Eintreten seiner Widersacher gehört, fühlte sich alleine und wehrlos, hatte im Bunker keinen Handy­empfang, konnte niemanden zu Hilfe rufen. Da drückte er halt auf die Aufnahme­taste. Das sei seine einzige Waffe gewesen, sagt er vor Gericht. Nach den beiden vorangegangenen Vorfällen, bei denen ihn die Wachtmeister zum Kameraden­schwein abgestempelt hätten, habe er Schlimmstes befürchtet.

Illustration: Friederike Hantel