Ruhe in Unfrieden
Im Wald von Kurapaty, nördlich von Minsk, liess Stalin einst Zehntausende von Menschen erschiessen. Nun steht dort ein Restaurant – es heisst «Lasst uns essen». Seit Monaten protestieren Aktivisten für die Würde der Toten.
Von Julia Jürgens, 12.08.2019
Wenn Pavel Sieviaryniets sich den Autofahrern in den Weg stellt, halten sie kurz an, lassen die Fensterscheibe herunter und nehmen sein Flugblatt wie einen Parkschein entgegen. Dann geben sie Gas. Da hat er ihnen gerade die Frage gestellt, mit der er immer beginnt: Ob sie wüssten, was in Kurapaty passiert sei? Einige kennen die Antwort, anderen ist sie egal. In jedem Fall muss er einen Schritt zurücktreten und die Einfahrt freigeben, die er und ein paar Mitstreiter seit rund einem Jahr blockieren.
Manche Autofahrer kommen zufällig. Sie sehen das Schild an der Ringstrasse im Norden von Minsk und folgen der Aufforderung, die zugleich der Name eines Restaurants ist: Poedem, poedim – kommt, lasst uns essen! Die meisten aber wüssten Bescheid, sagt Sieviaryniets.
Gleich hinter dem Restaurant, an einem Hügel, beginnt der Wald. Wenn die Autofahrer ihn einmal ausreden lassen, zeigt Pavel Sieviaryniets auf die Kreuze, die vor der ersten Baumreihe aufragen. Er erklärt dann, dass sie sich durch den ganzen Wald ziehen und einige Namen tragen, aber nur symbolisch: Weil niemand weiss, wie viele Menschen in Kurapaty begraben sind und wer sie waren. 30’000 lautet die offizielle Zahl, nach Ansicht von Sieviaryniets sind es bis zu 250’000. Vom sowjetischen Geheimdienst NKWD in den Jahren von 1937 bis 1941 brutal ermordet. Erschossen und in Gruben verscharrt. Der Wald von Kurapaty ist die grösste Massenexekutionsstätte in Weissrussland.
Nach diesem Satz seien schon Autofahrer wieder umgekehrt. Eine Handvoll vielleicht, sagt Pavel Sieviaryniets. Die Mehrheit fährt durch das Tor und geht essen.
Staatlich verhindertes Erinnern
Die einen wissen nichts, und die anderen wollen nichts wissen: In der weissrussischen Erinnerung ist der Massenmord Stalins ein blinder Fleck. Ein staatliches Erinnern an die Opfer gibt es nicht.
Das Erinnern hat das Volk übernommen. Deshalb haben Bürgerinitiativen die Kreuze im Wald aufgestellt. Und deshalb verteilt Pavel Sieviaryniets Flugblätter, auf denen steht, was in Schul- und Lehrbüchern der Universitäten nicht zu finden ist: Bei Ausgrabungen im Jahr 1988 wurden in Kurapaty 510 Massengräber gefunden, 9 davon wurden ausgehoben. Die Funde bewiesen, was Zeitzeugen ausgesagt hatten – die Täter waren nicht die Nazis, wie immer noch von vielen behauptet wird, sondern Mitarbeiter des sowjetischen Geheimdienstes.
Erinnern kann in einer Diktatur eine Form des Protests sein. Seit dreissig Jahren kämpfen Aktivisten darum, dass in Kurapaty eine Gedenkstätte entsteht. Der Staat dagegen versucht, den Ort und damit die Opfer zum Verschwinden zu bringen. 2002 liess er die Ringstrasse auf sechs Spuren ausbauen – und einen Teil des Waldes einebnen. Dann kam das Restaurant. Vor sechs Jahren begannen die Bauarbeiten, im Juni 2018 hat es eröffnet. Ein Entertainment-Komplex für 200 Personen. Den Sommer über standen Hüpfburgen vor dem Eingang.
Als einen Ort «spiritueller Entspannung» bewirbt die Website das Lokal. «Restaurant auf Leichen» nennen es seine Gegner. Einige davon stehen seit Mai letzten Jahres am Eingang. Sie stehen dort jeden Tag, von Mittag bis Mitternacht – solange das Restaurant geöffnet hat. Sie standen dort auch im Winter, bei Schnee und minus 10 Grad. Pavel Sieviaryniets ist jeden Mittwoch hier. «Wir teilen uns in Schichten auf», sagt er. Wir – das sind verschiedene Gruppen, die sich im Protest zusammengeschlossen haben: NGOs, Jugendorganisationen, Parteien von nationalkonservativ über liberal bis sozialdemokratisch. «Nur Kommunisten sind nicht dabei», sagt Sieviaryniets und lächelt.
Er ist Mitbegründer einer christdemokratischen Partei, die in Weissrussland keine Zulassung hat, und als Oppositioneller bekannt. Für seine politischen Aktivitäten hat er bereits mehrere Jahre im Arbeitslager und im Gefängnis verbracht. Auch wegen der Proteste in Kurapaty sass er in Haft: zwischen Juni und Dezember 2018 für insgesamt 32 Tage. In dieser Zeit hat er auch 130 Bussgeldstrafen zwischen 30 und 800 Dollar erhalten – für das Stoppen von Autos und Ungehorsam gegenüber der Polizei, die manche Fahrer rufen, wenn er sich ihnen vor dem Restaurant in den Weg stellt. Den anderen Demonstranten ergeht es genauso. Ohne Spenden von Unterstützern könnten sie die Summen nicht aufbringen.
Jedes Auto, das sich nähert, bringt Pavel Sieviaryniets mit Handzeichen zum Stehen. Freundlich spricht er die Fahrer an, freundlich lässt er sie passieren. Die Fahrer von Lieferwagen sind die einzigen, die zurücklächeln. Einer entschuldigt sich, dass er auf das Gelände fährt. Er muss Waren abliefern. Andere werden mitunter rabiat: Im Sommer hat eine Fahrerin den Aktivisten Leonid Kulakov angefahren. Sie bremste nicht, als er auf ihr Auto zuging. Im Zusammenprall brach sein Oberarm. Er verklagte sie auf Schadenersatz, sie wurde freigesprochen.
Und nebenan wird aus gläsernen Patronenhülsen Wodka getrunken
Die Strasse sei ein Privatweg, behauptet die Polizei. Sie sei öffentlich, sagen die Aktivisten. Ihr Argument: Sie liege in der Schutzzone. Diese verbietet im Umkreis von 100 Metern rund um die Massengräber jeden Neubau. Allerdings hat das Kulturministerium die Zone um das Restaurant nachträglich angepasst und auf 50 Meter reduziert – sodass es knapp ausserhalb liegt. Gegen diesen Schritt bereiten die Aktivisten gerade eine Klage vor. Ihre Forderung ist, dass das Restaurant schliessen muss und abgerissen wird. «Es ist illegal», sagt Pavel Sieviaryniets.
Leonid Zajdes, der Besitzer des Restaurants, hat in weissrussischen Medien verlauten lassen, dass er es unter keinen Umständen schliessen werde. Auf die Anfrage nach einem Interview meldet er sich nicht zurück. Er ist auf die Presse schlecht zu sprechen: Im Dezember verklagte er die unabhängige Wochenzeitung «Novy Chas» (neue Zeit), weil sie über strafrechtliche Ermittlungen gegen ihn in der Ukraine berichtet hatte. Den Prozess verlor er. Auf weitere Behauptungen der Zeitung – zum Beispiel, dass seine Geschäfte auch ins Umfeld des Präsidenten reichen – hat er nicht reagiert.
Den Aktivisten hat er jedoch einen Kompromissvorschlag unterbreitet: Er würde ihnen ein Nebengebäude des Restaurants für ein Museum zur Verfügung stellen. Plus 20’000 Dollar. Den Vorschlag hat Pavel Sieviaryniets als Verhandler der Aktivisten abgelehnt. Ein Gedenkraum für die Opfer von Massenerschiessungen – und nebenan wird aus gläsernen Patronenhülsen Wodka getrunken? So ist es bei einer Firmenfeier im Sommer vorgekommen. «Vielleicht war es nicht einmal zynisch gemeint, sondern Unwissenheit», sagt Sieviaryniets. Aber auch Ignoranz verhöhne die Opfer, findet er.
Er ist sich sicher: «Das Restaurant verfolgt die Strategie, die Massenmorde Stalins zu verharmlosen.» Die Besucher des Restaurants, Leonid Zajdes und seine Geschäftspartner bezeichnet er als prorussisch und offen für das, was er den «Spirit of Stalin» nennt. Dazu gehört die Verehrung, die dem Diktator immer noch entgegengebracht wird – zum Beispiel im Museum des Grossen Vaterländischen Krieges in Minsk, das 2014 eröffnet hat.
Kampf gegen die eigene Gesellschaft
Gegen diesen Geist kämpfen die Aktivisten in Kurapaty. Einige von ihnen seit 1988: Damals begannen die Proteste, die sich im noch sowjetischen Weissrussland zur Unabhängigkeitsbewegung entwickelten. Der Auslöser war Kurapaty: In einem Artikel hatte der Archäologe Sjanon Pasnjak erstmals öffentlich über die Massengräber berichtet. Er setzte die Massen in Gang. Bei einem Gedenkmarsch im Herbst 1989 liefen 50’000 Menschen nach Kurapaty. Es war die erste Massendemonstration.
30 Jahre und eine Diktatur später ist vieles anders. Die Gegner sind heute schwerer zu benennen. Wen genau bekämpfen die Aktivisten? Restaurantbesitzer Zajdes, ja. Die Polizei, notgedrungen. Vor allem aber bekämpfen sie die Besucher: die eigene Gesellschaft. Nicht mehr nur der Staat ist der Feind, nicht nur Lukaschenko – sondern die eigenen Leute.
So registrieren die Aktivisten alle, die auf den Parkplatz des Restaurants fahren: In einer Datenbank, die sie online führen, haben sie bis Ende April über 2300 Wagen erfasst. Vor Ort zeigt sich eine seltsame Situation. Die Aktivisten fotografieren die Autofahrer, während die Polizei – oder der Geheimdienst, das ist nicht klar – die Aktivisten mit Handkameras filmt. Dunkel gekleidete Männer filmen auch die Interviews, die die Reporterin mit Pavel Sieviaryniets führt. «Sie arbeiten an einer Dokumentation über Kurapaty», sagt er und lächelt bitter. «Wir sind hoffentlich eingeladen, wenn sie gezeigt wird.»
Zwei von hunderttausend
Im vergangenen Juni meldete sich Swetlana Alexijewitsch in der Presse zu Wort. Die weissrussische Nobelpreisträgerin für Literatur sagte, ein Restaurant neben einem Massengrab zeige den «totalen Zusammenbruch der Gesellschaft. In jedem europäischen Land wären jetzt Hunderttausende auf der Strasse. Warum bleiben die Menschen hier still?»
Tatsächlich protestieren vor dem Restaurant nur eine Handvoll Menschen. Sie stehen aufrecht und mit vor dem Bauch gefalteten Händen da, wie eine feierliche Ehrengarde. Und das sind sie im Grunde auch: Wächter der Toten. Im ersten Moment kann das pathetisch erscheinen. Wie sie die rotweisse Fahne schwenken, das Symbol der Opposition. Wie sie «Lang lebe Belarus!» rufen, in die Kameras der schwarz gekleideten Männer hinein. Aber das Gefühl schwindet, wenn sie erzählen, was sie mit dem Ort verbindet.
Denn es ist auch ihre persönliche Geschichte: Dzianis Urbanovich, 29, Vorsitzender der Jugendorganisation Malady Front (junge Front), steht jedes Wochenende Wache. Als er 16 Jahre alt war, nahm ihn sein Vater das erste Mal mit nach Kurapaty. Er erzählte ihm von seinem Vater Joseph Hlodkin, Urbanovichs Grossvater. «Er lebte im Lahojsk-Distrikt, nahe der Grenze zu Polen. Dort wurden besonders viele Menschen Opfer des Terrors, weil Stalin sie verdächtigte, Spion zu sein.» Joseph Hlodkin wurde wegen antisowjetischer Umtriebe verurteilt und ins Gefängnis nach Minsk gebracht. 1937 wurde er erschossen – wahrscheinlich in Kurapaty, sagt Dzianis Urbanovich.
Genau weiss er es nicht, so wie niemand weiss, wo seine Angehörigen exekutiert wurden. Familien erfuhren manchmal den Grund der Verurteilung, aber oft nicht einmal das. Der weissrussische Geheimdienst KGB behauptet heute, keine Informationen über die Opfer zu haben. Sein Archiv macht er nicht zugänglich. Doch die Listen der Ermordeten sind vermutlich ohnehin längst zerstört, glaubt Ihar Kuzniatsou. Er ist Historiker – der einzige in Weissrussland, der an einer staatlichen Universität über die Repressionen Stalins forscht. Vor 26 Jahren hat er seine Doktorarbeit verteidigt, seitdem ist zu diesem Thema keine mehr erschienen. «Es wird mit allen Mitteln verhindert», sagt Kuzniatsou. Etliche Historiker haben ihre Stelle verloren und das Land verlassen.
Ihar Kuzniatsou ist es gewohnt, nicht nur berichten, sondern beweisen zu müssen. In einem Café in Minsk hat er Schwarzweissbilder von Schädeln und Skeletten vor sich ausgebreitet. Er war 1997 bei der letzten Ausgrabung in Kurapaty dabei. Was man dabei über die Opfer herausfand, gibt immer noch wenig über ihre Identität preis. «Wir wissen, wie sie gestorben sind, aber kaum etwas über ihr Leben», sagt er. Von Überresten wie Schuhen und Kleidern lässt sich allerdings vermuten, dass die meisten der Opfer einfache Arbeiter waren und manche auch von weiter her kamen: aus Ostpolen, das Stalin 1939 besetzte, und aus den baltischen Ländern. «Unter ihnen waren auch Juden», sagt Ihar Kuzniatsou.
Von allen Opfern, deren Zahl er auf mindestens 100’000 schätzt, sind nur zwei Namen bekannt – Mowsha Kramer und Mordehaj Shul’kes. Zwei Juden aus der Stadt Grodno, von denen man in einem Grab die Dokumente fand. «Ohne Namen ist nur ein abstraktes Erinnern möglich. Das ist für unsere Gesellschaft ein grosses Trauma», sagt Ihar Kuzniatsou. In ganz Weissrussland gibt es mehr als hundert Massenerschiessungsstätten aus der Stalin-Zeit. Die Opfer – unbekannt.
Im Wald von Kurapaty steht auf einem Hügel seit kurzem ein Mahnmal. Es hat vier Stelen mit einer Glocke in der Mitte und trägt die Inschrift: «Für die Opfer der politischen Repression der 30er- und 40er-Jahre des 20. Jahrhunderts». Dreissig Jahre lang wurde es angekündigt. Am 6. November hat das Ministerium für Kultur es aufstellen lassen. Still und leise allerdings, fast heimlich: ohne Einweihung, Reden und Blumenkränze.
Für Ihar Kuzniatsou ist es ein Kompromiss – für Pavel Sieviaryniets nur der Versuch, die Debatte um Kurapaty zum Schweigen zu bringen. «Die Täter werden nicht genannt. Alles bleibt vage.» Von der Einfahrt des Restaurants blickt er auf die Kreuze am Hügel. Er werde so lange hier stehen, sagt er, bis die Menschen nach Kurapaty kämen, um der Opfer Stalins zu gedenken. Und nicht, um Bliný zu essen.
Dieser Artikel erschien zuerst in der «TAZ am Wochenende». Die Recherche wurde von der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit und vom polnischen Reporterverband Rekolektyw gefördert.
Auf Anordnung von Präsident Lukaschenko wurden am 4. und am 13. April in Kurapaty über 100 Holzkreuze mit Bulldozern entfernt. Ein grosser Teil dieses «Volksmonuments», das Bürger im Gedenken an die Toten errichtet hatten, ist damit zerstört. Bei der Aktion wurden 15 Aktivisten festgenommen und einige davon erst nach zwei Wochen freigelassen – darunter Pavel Sieviaryniets und Dzianis Urbanovich. In einer gemeinsamen Erklärung mit dem unabhängigen weissrussischen Journalistenverband BAJ und Menschenrechtsorganisationen aus Minsk haben sie die Entfernung der Kreuze als «Akt des Vandalismus» bezeichnet. Lukaschenko liess über seine Pressesprecherin ausrichten, die Gedenkstätte in angemessener Weise «aufräumen» zu wollen – um das Gelände für weitere Unternehmen wie das Restaurant attraktiv zu machen, vermuten die Aktivisten.
Julia Jürgens studierte Literaturwissenschaft in Leipzig und Berlin und arbeitete zwei Jahre für das Institut für Auslandsbeziehungen in Sibiu, Rumänien. Seitdem schreibt sie über (Süd-)Osteuropa. Sie lebt als freie Journalistin in Brandenburg und arbeitet für die Akademie des Jüdischen Museums Berlin.