Binswanger

Staatsstreich in Westminster

Boris Johnson behauptet, den Volkswillen gegen das Parlament durchsetzen zu wollen. Und startet einen Angriff auf die Demokratie.

Von Daniel Binswanger, 10.08.2019

Diese Kolumne muss beginnen mit einer Erinnerung und kurzen Hommage an meine Deutschlehrerin am Gymnasium, die schon vor längerer Zeit verstorbene Maya Rauch. Sie war eine beeindruckende Germanistin, Emil-Staiger-Schülerin, Bildungs­bürgerin im besten Sinne. Und sie hatte ein paar unverhandelbare Grund­überzeugungen, zum Beispiel dass Thomas Mann kein grosser Schrift­steller ist oder dass man Wagnerianern grundsätzlich nicht über den Weg trauen darf.

Gewissermassen das Fundament ihrer politischen Weltsicht bildete jedoch die Gewissheit, dass, wenn es hart auf hart kommt – und wer konnte schon wissen, ob es nicht einmal wieder hart auf hart kommen würde –, nur auf eine Zivilisations­macht wirklich Verlass ist: Grossbritannien.

Ist das Vereinigte Königreich nicht die Heimstätte des Westminster­systems und damit des Parlamentarismus? Ist es nicht die Wiege des Empirismus und damit der Aufklärungs­philosophie? Ist es nicht die Weltmacht der guten Manieren, des unverwüstlichen Humors und des no-nonsense? Und vor allem: Hat es nicht in seiner finest hour im Alleingang den Kampf gegen das Hitler-Reich aufgenommen?

Ralf Dahrendorf, den deutschen Übervater des europäischen Sozial­liberalismus, führte die weltanschauliche Anglophilie gar bis zur Mitgliedschaft im House of Lords. Noch 2006 beschreibt er in seinem Alterswerk «Versuchungen der Unfreiheit» Grossbritannien als «Erasmusland», als die Heimat jener Skepsis, Rationalität und Gesinnungs­freiheit, deren Pionier Erasmus von Rotterdam gewesen sein soll (im Gegensatz zum Religions­fanatiker Luther) und in der Dahren­dorf das Urwesen einer liberalen Haltung erblickte. Die Überzeugung, dass Gross­britannien ein ewiges Bollwerk der Vernunft und der politischen Verlässlich­keit ist, war ein Grund­pfeiler der europäischen Nachkriegs­ordnung.

Doch Erasmusland war gestern. Heute ist das Vereinigte Königreich – und wir können nicht ausschliessen, dass es nach der Abspaltung von Schott­land, Wales und Nordirland schon bald zu «Little England» zusammen­geschrumpft sein wird – die Beute des Boris Johnson. Der Brexit ist für Gross­britannien das ungleich existenziellere Problem als für die EU, aber der Epochen­wechsel, den er darstellt, trifft uns alle. Was wird aus Europa, was wird aus dem europäischen Westen, wenn sein aufrechtes, aufklärerisches Rückgrat plötzlich einbricht?

In den gut zwei Wochen seit Johnsons Amtsantritt ist es im König­reich zu einer derartigen Explosion des politischen Wahn­sinns gekommen, dass kein Desaster­szenario mehr auszuschliessen ist. Sicherlich: Ganz so viel Schaden wie Trump kann Johnson nicht anrichten, ganz einfach weil Gross­britannien keine Weltmacht mehr ist.

Doch die Parallelen mit Trump gehen verblüffend weit: Es ist derselbe groteske Populismus, der von einem reinen Gezücht der obersten gesellschaftlichen Elite inszeniert wird. Es ist dieselbe schon fast zwanghafte Neigung, die Lüge zum wichtigsten politischen Kampf­mittel zu erheben. Es ist dieselbe narzisstische Lust an vulgären Grenz­überschreitungen. Hat Johnson als britischer Aussen­minister in einem BBC-Interview nicht ins Mikrofon gesagt, Franzosen seien «Scheisshaufen» (das Aussen­ministerium konnte in letzter Minute die Ausstrahlung verhindern)? Hat er nicht die Brüsseler Bürokraten mit Hitler verglichen? Hat er Obamas Politik nicht mit seiner «teilkenianischen Herkunft» erklärt? In der Vulgarität seiner Transgression steht Johnson Trump in keiner Weise nach. Er ist nur die alteuropäische Version: mit Oxford-Abschluss, ohne Twitter.

Sowohl Trump als auch Johnson bringen das Kunst­stück zustande, gleichzeitig fanatische Radikalisierer und elastische Post­ideologen zu sein. Ihre Egomanie diktiert ein Programm, das gleichzeitig absolut kompromiss­los und völlig inhalts­leer ist. Kann Trump tatsächlich als Freund des blue-collar workers, als amerikanischer Patriot, als Abtreibungs­gegner gelten? Ist Johnson tatsächlich ein Befür­worter des Brexits? Es wurde relativ gut dokumentiert, dass er den EU-Austritt ausschliesslich als sein persönliches Vehikel zur Eroberung der Premier­ship betrachtet. Theoretisch könnte es heute ein Rettungs­anker sein, dass Johnson aus rein macht­technischem Kalkül handelt. Leider aber betrachtet er es als beste Option für seinen Macht­erhalt, weiter an der Radikalisierungs­spirale zu drehen. Und um Herrscher zu bleiben in seinem Castle, scheint er bereit, es abzufackeln.

So läuft denn für den Augenblick alles auf eine frontale Konfrontation mit der EU und einen No-Deal-Brexit hinaus. Natürlich ist denkbar, dass Johnson blufft. Aber seine Truppen sind dermassen eingeschworen auf No Deal, dass er nur mehr schwer zurück­rudern kann.

Handkehrum ist auch auszuschliessen, dass die EU plötzlich neue Konzessionen machen und den sogenannten «Backstop» zur Sicherung einer offenen Grenze zwischen Irland und Nord­irland zur Disposition stellen wird. Sie kann die existenziellen Interessen des Mitglied­staates Irland nicht missachten. Man hat auch keine Sekunde den Eindruck, dass Johnson noch nach Wegen sucht, um mit der EU eine Verhandlungs­lösung zu finden. Seine Botschaft richtet sich nicht mehr ans EU-Spitzen­personal. Sie richtet sich an die Wähler von Nigel Farage, deren Unter­stützung Johnson für einen Wahlsieg braucht.

So steuert Grossbritannien potenziell auf eine Verfassungskrise zu. Es scheint sehr wahrscheinlich, dass Johnson im September keine Parlaments­mehrheit mehr hat und einen Misstrauens­antrag verlieren wird. Bereits haben seine Mitarbeiter angekündigt, dass er nicht – wie es die Gebräuche der britischen Demokratie vorschreiben würden – sofort zurücktreten wird, sondern dass er im Amt bleiben und den Termin für Neuwahlen auf einen Zeitpunkt nach dem Austritts­datum vom 31. Oktober legen wird. Womit Johnson droht, ist nicht weniger als ein anti­parlamentarischer Staats­streich: Die wichtigste Entscheidung, die das König­reich seit dem Zweiten Weltkrieg zu fällen hat, will ein Premier­minister an sich reissen, der dafür nicht die geringste demokratische Legitimation hat.

Auf welcher Basis soll dieser Anschlag gegen das älteste Parlaments­system der Welt vollzogen werden? Natürlich auf der Basis der direkten Demokratie. Wenn es noch einen Beleg braucht, dass der Rechts­populismus das Plebiszit als den Vorschlag­hammer betrachtet, mit dem er die Institutionen der Demokratie zertrümmern kann, dann ist der Fall Johnson an Beweis­kraft nicht mehr zu überbieten. Ein 52-Prozent-Ja von vor über drei Jahren, gefällt von Bürgern, die über die Modalitäten des Austritts vollkommen im Dunkeln waren, soll die Entmachtung der gewählten Volks­vertreter und den erzwungenen No-Deal-Brexit rechtfertigen? Das älteste Parlament der Welt soll zu den Geschicken Gross­britanniens nichts mehr zu sagen haben? Es ist eine blutige Farce. Und es zeigt den profund anti­demokratischen Impuls des heutigen Populismus.

Es ist offen, wie die Verfassungskrise bewältigt oder doch noch vermieden werden soll. Es gäbe die Option einer interimistischen Regierung der nationalen Einheit, was allerdings bedingen würde, dass die Labour-Abgeordneten, die Lib Dems und übergelaufene Tories sich einigen können. Für den Fall, dass Johnson seinen Sitz nach verlorenem Misstrauens­votum nicht räumen will, wird sogar ernsthaft die Eventualität einer Intervention der Queen diskutiert, die das (seit knapp zweihundert Jahren nie mehr in Anspruch genommene) Recht hätte, den Premier­minister zu entlassen. Das ist, wo wir stehen: Vielleicht kann nur noch die greise Monarchin die britische Demokratie retten.

Wird Boris Johnson seinen Angriff auf die parlamentarische Demokratie tatsächlich durchziehen? Wird das auch im übrigen Europa Schule machen? Konservative Eidgenossen berufen sich immer leiden­schaftlich darauf, die Schweiz sei das Gross­britannien Kontinental­europas. Und wenn sie recht bekommen?