Anleitung für die perfekte Ansprache zum 1. August
Von der richtigen Anrede bis zum passenden Schluss: Wir haben 170 Reden zum Nationalfeiertag seit 1935 ausgewertet und zeigen, wie sich Zeitgeist und Heimatgefühl gewandelt haben. Lernen Sie von den Besten – den Bundespräsidenten!
Von Simon Schmid, 01.08.2019
Blühende Wiesen und imposante Berge, Liebe zum Frieden und Rücksicht auf die anderen, Brüderlichkeit und Innovationsgeist: Der 1. August ist der Moment, über die Schweiz zu sinnieren und die Nation bis an die Kitschgrenze zu feiern – beim Buurezmorge, im Gemeindefestzelt oder via Youtube.
Aber wie vorgehen beim Verfassen der Ansprache zum Nationalfeiertag?
Folgen Sie unserer Anleitung und lernen Sie von denen, die es am besten können: den Bundesrätinnen und Bundespräsidenten. Wir haben ihre Reden im Archiv aufgestöbert und sie statistisch untersucht. Die tragenden Elemente, die zwingenden Begriffe, die rhetorischen Kniffe: All dies haben wir erfasst – für unser Rezept der perfekten 1.-August-Ansprache.
1. Die Anrede
Aller Anfang ist schwer. Nicht bei einer Nationalfeiertagsrede. Verwenden Sie, wenn Sie auf Nummer sicher gehen wollen, die folgende Floskel:
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger
Bundesräte haben sie in den insgesamt 71 Reden seit 2004, bei denen die Anrede überliefert ist, 28-mal benutzt – und damit weitaus am häufigsten.
Die bewährten Alternativen dazu sind:
Meine Damen und Herren (12-mal)
Sehr geehrte Damen und Herren (11-mal)
Wenn Sie es gerne ausführlich mögen, zählen Sie zu Beginn Ihres Monologs (in abnehmender Häufigkeit) ausserdem die folgenden Adressaten auf:
Gäste, Freunde, Gemeindepräsident, Schweizer, Schweizerinnen, Präsident, Regierungsrat, Landsleute, Einwohnerinnen, Familie, Stadtpräsident, Freundinnen, Nationalpräsidentin, Bewohner, Staatsratspräsident, Bewohnerinnen, Einwohner, Stadtammann
Um Bürgernähe zu signalisieren, lassen Sie die ollen Würdenträger jedoch besser weg. Und begrüssen Sie Ihre Zuhörer ganz einfach so, wie es Bundesrat Ignazio Cassis am 1. August letzten Jahres in Rorschach SG tat:
Gueten Obig mitenand!
2. Die Gunst des Publikums
Es gibt mehrere Methoden, um sich beim Publikum beliebt zu machen.
Die Anekdote. Jede ist einmal Kind gewesen, jeder hat Erinnerungen. Machen Sie sich dies zunutze, so wie es Bundesrat Moritz Leuenberger 2006 in der neuenburgischen Gemeinde La Côte-aux-Fées tat: «Ich erinnere mich, wie wir als Kinder den 1. August feierten: Meine Mutter belegte Brötli und gestaltete mit Tomaten und Emmentalerkäse Schweizerkreuze.» Nach diesem Einstieg können Sie auftischen, was immer Sie wollen – die Herzen aller Zuhörer, die als Kind ebenfalls eine Mutter gehabt haben oder schon einmal ein Plättli zum 1. August, sind Ihnen sicher.
Die Lokalsprache. Dieser Trumpf sticht auch immer. «En il num dal Cussegl federal giavisch jau a Vus tuts, a Vossas famiglias ed a Voss amis ina bella ed allegraivla festa per il prim d’avust», sagte Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf 2012 anlässlich ihrer Augustrede in Juf, dem höchstgelegenen ganzjährig bewohnten Dorf Europas. Wer nicht Rätoromanisch gelernt hat, weiss damit nicht viel anzufangen. Doch das lokale Publikum haben Sie in der Tasche.* Und obendrein signalisiert es: Sie sind eine gute, der Vielseitigkeit verpflichtete Patriotin.
Nachdem dies erledigt ist, kommen wir zu den Kernpunkten.
3. Die zwingenden Elemente
Es gibt Dinge, um die kommt man im Leben nicht herum: Zähne putzen, Schuhe binden, den Müll rausbringen. Auch in einer Augustansprache lassen sich gewisse Dinge nicht vermeiden. Respektive gewisse Wörter.
Welche es sind, verrät unsere Top-10-Liste. Wir haben dafür alle Reden der Bundesräte in ihre Einzelwörter zerhackt, diese in einen Sack gesteckt, ihn kräftig durchgeschüttelt und anschliessend der Reihe nach ausgezählt, was dabei herausgekommen ist.
Folgende Wörter kommen am häufigsten vor:
Sprechen Sie also am 1. August vor allem sehr ausgiebig: über die Schweiz. Nennen Sie das Wort 11-mal, um etwa im bundesrätlichen Schnitt zu sein. Falls Sie in der SVP sind, dürfen es gerne auch 14 Nennungen sein (den Rekord hält allerdings ein Freisinniger: Aussenminister Didier Burkhalter sagte am 31. Juli 2013 in seiner Rede im lettischen Riga 35-mal «Schweiz»).
Sprechen Sie am Nationalfeiertag darüber hinaus über das Land und seine Menschen: die Schweizer. Sprechen Sie über deren Drang zur Freiheit in der grossen, weiten Welt – und warum dies zum 1. August wichtig ist. Sprechen Sie über das Leben dieser Schweizer in der langen Zeit seit der Gründung der Schweiz vor genau 728 Jahren (für die genaue Zahl verwenden Sie die Formel «aktuelles Jahr minus 1291») und über die Herausforderungen der Zukunft.
Dass 1291 ein ziemlich willkürlich heraus gepicktes Datum in der Schweizer Geschichtsschreibung ist – und obendrein nicht einmal sicher ist, ob der Bundesbrief wirklich am 1. August 1291 unterzeichnet wurde –, können Sie in Ihrer Rede übrigens getrost ignorieren: Das interessiert höchstens Historiker.
4. Die Botschaft
Hier wird es interessant. Was wollen Sie in Ihrer Rede eigentlich sagen?
Wir empfehlen erneut, bei den alten (und jungen) Meistern der feiertäglichen Redekunst abzugucken und folgende Gliederungselemente aufzunehmen:
Die räumliche Verortung. Sagen Sie, wo Sie sind und warum dieser Ort symbolisch für eine positive Eigenschaft der Schweiz steht, etwa für die Multikulturalität. Wie das geht, zeigte Bundespräsident Jean-Pascal Delamuraz am 1. August 1996 in Mont Vully: «Wir befinden uns hier an der Grenze zwischen Westschweiz und Deutschschweiz. Und Sie wissen es alle: Wir müssen die Verbindungen zwischen den einzelnen Landesteilen stärken.»
Erinnerung an die Grundlagen. Sprechen Sie über die Raison d’Etre der Schweiz (Stichwort: Freiheit!) und schlagen Sie den Bogen zur Gegenwart. So wie es Bundespräsident Hans-Peter Tschudi 1965 mustergültig machte: «Im Bundesbrief von 1291 wurde als zentrale Verpflichtung verankert, keine fremden Richter zu dulden. (...) Auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bilden Freiheit und Unabhängigkeit die Grundlagen unserer Eidgenossenschaft (...) wie die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Niederlassungsfreiheit, die Vereins-, Versammlungs- und Koalitionsfreiheit, die Pressefreiheit ...»
Die Wohlstandsanalyse. Ein zentrales Element in jeder 1.-August-Rede. Wo steht das Land wirtschaftlich, sozial, politisch? «Der Schweiz geht es gut! Noch immer gut! Ja, ich wage diesen Befund!», sagt dazu exemplarisch Bundespräsident Samuel Schmid im Jahr 2005. «Ich verkenne dabei die drückenden Alltagssorgen vieler Mitmenschen nicht. Ich verkenne auch die grossen politischen Herausforderungen nicht. (...) Und trotz allem müssen wir uns eingestehen, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger: Wenn wir klagen – und wir klagen zu viel –, dann klagen wir auf einem relativ hohen Niveau …» Merken Sie sich hier: Die Wohlstandsanalyse muss behutsam austariert werden: Sie sollen nebst Lob auch Kritik anbringen, aber nicht zu viel.
Gefühle! Als 1.-August-Redner dürfen, ja, müssen Sie Ihre tiefsten und innersten Empfindungen teilen. Sagen Sie, wie stolz Sie auf Ihr Land sind (in 93 Bundesratsreden wurde dieses Wort 77-mal verwendet) und wie dankbar Sie sind, einer seiner Bürger zu sein (34-mal). Sagen Sie, was für eine Freude es sei, jetzt an diesem Ort zu stehen (47-mal), und vergessen Sie nicht zu erwähnen, wie schön (52-mal) doch dieser 1. August sei.
Appell Nr. 1 – an die Bescheidenheit. An dieser Stelle kommen Sie auf Ihre Wohlstandsanalyse zurück – mit warnendem Finger. Empfehlenswert insbesondere für freisinnige Redner, meisterhaft vorgeführt von Nello Celio: «Der Wohlstand hat aber auch in hohem Masse die Anspruchsinflation gefördert. Man fordert heute vom Staate viel mehr, als man ihm zu geben bereit ist», sagt der Bundespräsident 1972. «Dabei wird oft vergessen, dass keine Gesellschaft mehr verteilen kann, als sie produziert, und dass jede Wirtschaft, um sich zu erneuern, Mittel bedarf, die man ihr nicht entziehen kann.»
Appell Nr. 2 – an den Gemeinschaftssinn. Die Warnung vor zu viel Egoismus ist fast noch wichtiger als die Warnung vor zu hohen materiellen Ansprüchen. Dies illustriert Eveline Widmer-Schlumpfs Rede von 2012. «Besonders wichtig wird sein, dass wir uns nicht gegenseitig in den Rücken fallen. Es gilt die Reihen zu schliessen und in die gleiche Richtung zu gehen», mahnt sie und doppelt dann sofort nach (ein alter Bundesratstrick): «Nicht nur am 1. August, unserem Nationalfeiertag. Auch morgen und übermorgen.»
Kommen wir schliesslich zum eigentlichen Höhepunkt Ihrer Rede:
Die Geisterbeschwörung. Hier treten Sie in Kontakt mit dem kollektiven Unterbewusstsein. Sie können dieses helvetische Über-Ich so ansprechen, wie es Max Petitpierre 1955 tat – als Geist des 1. August. Oder Sie können nach eigenem Gutdünken andere Manifestationen der Volksseele anrufen: den Erfindungsgeist (Hans-Rudolf Merz, 2009), den Geist der Offenheit (Flavio Cotti, 1998), den Innovationsgeist (Kaspar Villiger, 1995), den Geist der Freundschaft (René Felber, 1992), den Geist der Zuversicht (Flavio Cotti, 1991), den Geist der Dankbarkeit (ebenfalls Cotti, 1991), den Geist des Föderalismus (Arnold Koller, 1989), den Geist der Öffnung (Pierre Graber, 1975), den Geist des Dialogs (ebenfalls Graber, 1975) oder – wenn Sie wirklich ganz zurück zu den Wurzeln wollen – den Rütligeist (Rudolf Minger, 1935). Reden Sie ausführlich über die Bedeutung des von Ihnen beschworenen Geistes – früher, heute, überhaupt. Ihre Zuhörer werden begeistert sein.
5. Der Zeitgeist
Wir sind noch nicht fertig mit Geistern. Ein wichtiger Geist fehlt noch: der Zeitgeist. Diesen müssen Sie treffen, um Ihr Publikum für sich zu gewinnen.
Jede Ära hat ihre Sprache. Sie wollen traditionsbewusst wirken? Dann sagen Sie öfters: Eidgenossenschaft. Oder begrüssen Sie Ihre Zuhörer so, wie es die Bundespräsidenten zu einer Zeit taten, als 1.-August-Reden am Radio Beromünster noch nationale Ereignisse waren: Eidgenossen!
Wenn Sie dagegen modern wirken wollen, sagen Sie: Schweiz. Und sprechen Sie von den Menschen – nicht vom Volk oder gar vom Schweizervolk.
Jede Epoche hat auch ihre Themen.
Die 1930er- und 1940er-Jahre: der Krieg und alles darum herum – das Militär, die Armee und auch der Frieden.
Die 1950er-Jahre: Männer (und seltener: Frauen).
Die 1970er-Jahre: der Staat, die Gemeinschaft.
Die 1980er- und neuerdings wieder die 2010er-Jahre: Europa!
Die 1990er-Jahre: Solidarität beziehungsweise der Gegensatz zwischen Egoismus und Allgemeinwohl.
Die 2000er- und noch stärker die 2010er-Jahre: die Wirtschaft und alles, was sie mit sich bringt – Erfolg, Wohlstand, aber auch Arbeitslosigkeit.
Dauerbrenner sind übrigens Freiheit und Demokratie, mit diesen Themen sind Sie als 1.-August-Redner zu jeder Zeit und an jedem Ort auf der Höhe.
Legen Sie also Ihr Ohr an die Rütliwiese und lauschen Sie, was der Gotthard Ihnen zuflüstert – die treffenden Worte machen die Musik in Ihrer Rede.
Aber bitte: Lassen Sie das Rütli selbst wie auch den Bundesbrief und die ganze Tellensaga beiseite. Das war 1950 en vogue, aber heute nicht mehr.
Und wenn Sie glauben, doch wieder auf 1291 zurückkommen zu müssen, dann bedenken Sie: 1.-August-Ansprachen gibt es eigentlich noch nicht so lange. Sie sind eine Erfindung des späten 19. Jahrhunderts. Erst 1915 hielt überhaupt erstmals ein Bundespräsident eine Rede zum Nationalfeiertag.
Wählen Sie also lieber ein anderes Datum für einen historischen Exkurs. Wie wärs mit 1919, dem Jahr, als in Genf die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) gegründet wurde, die dieses Jahr ihren hundertsten Geburtstag feiert?
6. Der Schluss
Wissen, wann man aufhören muss: Das ist eine hohe rhetorische Kunst.
Es gibt Politiker, die beglücken ihr Publikum mit abendfüllenden Sermonen. Zum Beispiel parlierte Bundesrat Ueli Maurer 2013 über «David und Goliath in der Staatspolitik» und lieferte mit 3131 Wörtern die längste 1.-August-Rede, die wir in der Datenbank überhaupt finden konnten. Zum Vergleich: Das ist sogar länger als ein durchschnittlicher Artikel in der Republik.
Immerhin hat sich die Redenschreibarbeit gelohnt, Maurer hielt die Rede nämlich gleich in neun Ortschaften: Biel, Val-de-Ruz und Port-Valais, Gonten, Obersiggenthal, Rapperswil-Jona, Brigels, Sessa und Zweisimmen.
Dass in der Liste der Schreiber der längsten Reden fünf Herren zuoberst stehen, ist übrigens kein Zufall. Im Volksmund heisst es zwar: Ein Mann ein Wort, eine Frau ein Wörterbuch. Aber am 1. August ist es umgekehrt. Hier kennen die Männer kein Halten mehr, wenn es darum geht, ihre Landsleute mit extrem wichtigen und wertvollen Ausführungen über die Schweiz zu beglücken. Und die Frauen halten sich vornehm zurück.
Egal, welchem Geschlecht Sie angehören: Machen Sie nach 1300 Wörtern einen Punkt. Oder besser noch früher, denn Zeit ist Geld – und das wird, wenn man den Bundespräsidenten glauben will, heute immer wichtiger.
Und damit bleibt uns, sehr verehrte Leserin, sehr verehrter Leser, nichts anderes übrig, als Ihnen einen schönen 1. August zu wünschen. Und zum Geleit die Worte des Bundespräsidenten von 1946, Karl Kobelt, anzuführen:
«Wenn heute Abend die Glocken von allen Kirchen des ganzen Landes harmonisch zusammen klingen, ermahnen sie das Schweizervolk zur Einigkeit, und wenn die Höhenfeuer von unsern Bergen leuchten, soll die Flamme der Heimatliebe sich in allen unsern Herzen neu entzünden.»
* In Juf war die Begeisterung vielleicht doch nicht so gross. Ein aufmerksamer Leser hat uns darauf hingewiesen, dass das Avers, zu dem der Weiler Juf gehört, eine walserdeutsche Sprachinsel im ursprünglich rätoromanischen Sprachgebiet ist. Vielen Dank, wir haben etwas gelernt!
Für diesen Text haben wir ein Dossier von 170 Reden zusammengestellt. Enthalten sind alle bis auf zwei Ansprachen, die Bundespräsidenten zwischen 1935 und 2018 am Radio oder an der offiziellen Bundesfeier hielten, sowie die meisten Ansprachen von Bundesräten seit 2004. Quellen sind die Website der Bundesverwaltung, das Bundesarchiv, das Archiv der NZZ sowie einzelne Bücher. Französische Reden wurden mit Google Translate ins Deutsch übertragen. Die Auswertung der Reden erfolgte in Python mit der Bibliothek Scikit Learn.
Dank gebührt dem Staatsrechtler Andreas Kley von der Universität Zürich, der für eine in der «Zeitschrift für Schweizerisches Recht» 2005 publizierte Arbeit bereits viele Reden zusammengetragen hat, sowie dem Republik-Team, das einige der ältesten, in Frakturschrift gedruckten Reden von Hand abgetippt hat.
Basis der Visualisierung ganz oben sind die Ansprachen der Bundespräsidenten seit dem Jahr 2000. Mit einem Algorithmus wurde ermittelt, welche typischen Wörter die einzelnen Ansprachen kennzeichnen und voneinander unterscheiden. Die Wörter laufen in zufälliger Reihenfolge über den Bildschirm, wobei sich die Schriftgrösse nach der Häufigkeit in einer bestimmten Rede richtet und die Farbe entsprechend den allgemein geläufigen Parteifarben des Redners gewählt wurde.