Wer Talent hat, darf in die Schweiz migrieren – wird dadurch nicht das globale Ungleichgewicht gefördert?
Von Andrea Arežina und Urs Bruderer, 31.07.2019
18 – Herr Schlegel, was sagen Sie den Leuten, die vor unbegrenzter Einwanderung warnen, weil sie fürchten, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus könnten in der Gesellschaft weiter zunehmen?
Stimmt das empirisch? Werden die Leute immer fremdenfeindlicher? Ich schaute mir kürzlich die Videos von 1992 an, als in Rostock Asylheime angezündet wurden. Damals äusserten sich die Leute krass rassistischer als heute. Denken Sie auch daran, wie sehr sich die Haltung der Schweizerinnen und Schweizer gegenüber fast allen Migrierenden aus Europa entspannt hat. Menschen, die in Kontakt kommen mit Migrierenden, verlieren in der Tendenz ihre Angst. Und heute kommen viel mehr Menschen in Kontakt mit Migrierenden. Je mehr die Diversität steigt, desto besser können wir in der Tendenz damit umgehen.
Flüchtlingsdramen auf dem Mittelmeer bewegen auch diesen Sommer die Gemüter. Was könnten Lösungen sein? Stefan Schlegel (36) forschte am Max-Planck-Institut zu Migrationsrecht und arbeitet heute als Oberassistent für öffentliches Recht an der Universität Bern. Er ist Mitgründer der Operation Libero und Nationalratskandidat für die Grünliberale Partei (GLP).
19 – Derzeit nimmt die Schweiz aus Drittstaaten nur wenige Flüchtlinge auf. Und die Integrationskosten sind hoch. Ihr Modell erklärt Einwanderung zu einem Anspruch. Es würden also viel mehr Leute kommen, und die Integrationskosten würden steigen?
Ich vermute, die Integrationskosten sind so hoch, weil der Staat in der Migration so stark interveniert. Wenn Migrierende grundsätzlich einwandern dürften, könnten sie selber schon frühzeitig in Integration investieren und zum Beispiel eine Sprache lernen. Und die Kosten für die Zielstaaten würden sinken.
20 – Wer käme in die Schweiz?
Vielleicht die gleichen Menschen wie heute, aber besser ausgerüstet. Die Talente sind auf der ganzen Welt gleichmässig verteilt. Ungleich verteilt sind die Chancen und Möglichkeiten. Eine liberale Migrationspolitik würde den Zugang zu den Chancen neu regeln. Und wenn die Chancen die richtigen Talente anzögen, dann wären die Leute auch nicht mehr so schwierig zu integrieren wie jetzt.
21 – Die besten Köpfe kämen alle in die erfolgreichen Länder – und fehlten dann da, wo sie herkommen. Fördert Ihre Politik nicht das globale Ungleichgewicht?
Wieso soll ein Staat ein Anrecht haben auf Leute, die zufällig auf seinem Territorium geboren sind? Und es gibt nicht nur den Braindrain, sondern auch den Brainwaste. Verbrät man nicht Talente, wenn man die Menschen zwingt, dort zu bleiben, wo sie geboren sind? Viele können sich dort womöglich nicht so gut entfalten wie anderswo.
22 – Wäre es global gesehen nicht klüger, dafür zu sorgen, dass die Chancen auf der ganzen Welt besser verteilt sind? Konkret hiesse das, eine viel konsequentere Entwicklungs- und Investitionsförderungspolitik zu betreiben.
Da bin ich dabei. Aber wahrscheinlich gelingt es eher, wenn es mobile Eliten gibt, die man einbinden kann in diese Politik.
23 – Was ist der grösste Mythos in der Migrationspolitik?
Die Tatsache zum Beispiel, dass zunehmender Wohlstand in den Herkunftsstaaten zu mehr Migration führen kann und nicht zu weniger, ist in der Forschung ziemlich gut belegt. Aber das will einfach kein Politiker glauben. Die halten an der unverwüstlichen Idee fest, dass man nur das Wohlstandsgefälle in der Welt ausgleichen muss und dann hat man die Migration wieder im Griff. Dabei ist das grundfalsch.
24 – Tatsächlich? Sie glauben nicht, dass die Migration mit dem grossen Wohlstandsgefälle zwischen Europa und seinen Nachbarregionen zu tun hat?
Doch. Aber wenn man das Gefälle reduzieren würde, ginge die Migration nicht im selben Mass zurück. Eher träfe das Gegenteil zu. Ein Grund dafür ist, dass Flucht oder Migration unter den heutigen Umständen künstlich verteuert wird. Nur wer aus der gröbsten Armut heraus ist, kann an Migration denken. Die Statistiken zeigen dasselbe Bild.
25 – Was sagen die Zahlen?
Wenn man alle Länder in fünf Wohlstandsklassen einteilt, dann ist die Auswanderung nicht aus den Ländern des ärmsten Fünftels am grössten, sondern aus denjenigen aus dem dritten, dem mittleren Fünftel. Dazu gehören Länder wie die Ukraine oder Marokko, also Schwellenländer, nicht Entwicklungsländer. Und hinzu kommt, dass Länder desto mehr Verhandlungsmacht haben, je mehr sie der Armut entkommen. Ihr Markt wird interessanter, und es wird teurer für uns, die Menschen von dort von unserem Arbeitsmarkt fernzuhalten. Denken Sie etwa an China oder Indien: In Freihandelsverhandlungen fordern sie in Ansätzen schon heute Zugang zu unserem Markt. Indien möchte, dass die Schweiz sich öffnet für indische Bergführer und Informatiker. Lehnen wir das ab, entgehen uns ökonomische Möglichkeiten in Indien.
26 – Wie dringend ist es, dass die Diskussion sich ändert?
Es ist überfällig. Wer die Migration mit dem Wohlstandsgefälle erklärt, macht es sich nicht nur zu einfach. Er tut auch so, als ob Migration ein Symptom eines tiefer liegenden Problems wäre. Eine Störung der natürlichen Ordnung, die wir beheben können, wenn wir das Problem lösen. Das ist Unsinn und vergiftet die Diskussion.