Die verkannte Instanz
Ein Gericht, das kaum jemand kennt und wo doch Wesentliches entschieden wird – und jetzt ist erstmals eine Frau im Präsidium: zu Besuch am Zürcher Verwaltungsgericht.
Von Brigitte Hürlimann, 31.07.2019
Achtung, dies ist kein Prozessbericht.
Es geht auch nicht um Mord und Totschlag, weder um Strafbefehle noch um Deals mit der Staatsanwaltschaft, nicht um Drogen oder Sex. Letzteres höchstens dann, wenn er in eine eingetragene Partnerschaft oder in die Ehe münden soll. Hier ist vom Verwaltungsrecht die Rede, und das wird in aller Regel nicht in öffentlichen Verhandlungen entschieden, über die man stimmungsvoll berichten könnte.
Verwaltungsrecht, was zum Teufel soll das sein? Das riecht verdächtig nach Amtsstuben, Aktenstapel, Formularen oder nach humorlosen, pingeligen Beamten, die sich hinter dicken Brillengläsern verschanzen. Also nach nichts, was irgendwie spannend sein könnte.
Doch das ist total falsch.
Wenn der Staat in unser Leben eingreift
Verwaltungsrecht betrifft jede und jeden von uns. Es regelt das Verhältnis des Staates zu den Bürgerinnen und Bewohnern dieses Landes. Ob wir das nun wollen oder nicht.
Zum Beispiel: Wenn uns die Steuerbehörden oder das Bauamt ärgern, wir keine Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung bekommen, wenn die Bewegungsfreiheit von Asylsuchenden eingeschränkt wird, wir nicht heiraten dürfen oder uns der Jagdschein verweigert wird – dann befinden wir uns in der Sphäre des Verwaltungsrechts. Aber auch, wenn wir durch die Anwaltsprüfung fallen, das Fürsorgegeld gekürzt oder der Hundekurs plötzlich für obligatorisch erklärt wird; in all diesen Fällen greift der Staat in unser Leben ein, direkt und überdeutlich spürbar.
Passen uns die behördlichen Entscheide nicht, können wir uns mit rechtlichen Mitteln dagegen wehren.
Das Verwaltungsgericht ist die zweite Instanz und oft das erste Gericht, das sich über solche Fälle beugt. Zuerst landet der Streit bei einer Rekursbehörde. Dann erst kommt das Verwaltungsgericht an die Reihe. Im Kanton Zürich existiert es seit dem 1. Mai 1960.
Heute ist das Gericht in einem unauffälligen, unprätentiösen Bürogebäude untergebracht, einen Katzensprung vom Hauptbahnhof entfernt, direkt gegenüber der Kasernenwiese. 1998 bearbeitete es rund 600 Fälle; es hat ab jenem Jahr deutlich mehr Kompetenzen als noch in den 1960er-Jahren. Inzwischen haben sich die Fallzahlen fast verdoppelt, bei einer gleichbleibenden Anzahl Richter: 1000 Stellenprozente, aufgeteilt auf neun Männer und sechs Frauen.
Ausgebaut wurden nicht die Richterstellen, sondern die Gerichtsschreiberstellen. «Diese Verschiebung ist eine bedenkliche Entwicklung», sagt Tamara Nüssle, eine der sechs Verwaltungsrichterinnen. «Denn es bedeutet, dass wir uns in die Richtung einer Gerichtsschreiber-Justiz bewegen. In Bezug auf die demokratische Legitimation ist dies problematisch. Richterinnen und Richter werden gewählt, Gerichtsschreiberinnen nicht.»
Es hat gedauert, bis eine Frau an der Spitze ist
Tamara Nüssle wird Justizgeschichte schreiben. Sie ist seit dem 1. Juli die erste Abteilungspräsidentin am Zürcher Verwaltungsgericht und die erste Frau im Präsidium des Gesamtgerichts. In diesem Gremium trägt sie den Titel der 1. Vizepräsidentin. Turnusgemäss wird die 1. Vizepräsidentin nach drei Jahren Präsidentin. Es wäre dann also das erste Mal in der 59-jährigen Geschichte des Zürcher Verwaltungsgerichts, dass eine Frau an der Spitze ist.
Warum hat das so lange gedauert?
Das Verwaltungsgericht ist anders organisiert als die beiden anderen obersten Gerichte im Kanton Zürich: das Sozialversicherungsgericht und das Obergericht. Das Verwaltungsgericht besteht aus vier Abteilungen, die zwar unterschiedliche Rechtsbereiche betreuen, sich aber gegenseitig aushelfen, sollte eine Abteilung mit Fällen völlig überrannt werden. Jede Abteilung wird von einem vollamtlichen Präsidenten und neuerdings von einer Präsidentin geleitet. Sie arbeiten mit drei Richterinnen und Richtern zusammen, die je ein 50-Prozent-Pensum ausüben. «Ideal für Frauen und Männer, die daneben noch Familienpflichten wahrnehmen oder anderswie beruflich tätig sind, etwa als Anwälte. Doch wer präsidiale Funktionen übernehmen will, muss systembedingt im Vollpensum arbeiten», sagt Tamara Nüssle, 45 Jahre alt, promovierte Juristin, Anwältin, Mitglied bei den Demokratischen Juristinnen und Juristen Zürich und bei der SP, Mutter von drei Kindern.
Auch sie war zunächst für 50 Prozent als Richterin einer Abteilung zugeordnet, konnte dann um 50 Prozent aufstocken und fortan für zwei Abteilungen arbeiten – nicht zuletzt deshalb, weil es mit den Berechnungen des Parteiproporzes aufging und die SP am Verwaltungsgericht nochmals 50 Prozent «zugute» hatte. Eine weitere Verwaltungsrichterin geht derzeit den gleichen Weg: 50 Prozent in der einen und 50 Prozent in der anderen Abteilung. Erst das Vollpensum ermöglicht es, in ein Abteilungs- und Gerichtspräsidium aufzusteigen. Nüssle ist die erste Frau, der dies gelang. Der Karriereschritt sei nur realisierbar geworden, sagt die Richterin, weil ihr Ehemann sein Arbeitspensum reduzierte und mehr Zeit in die Kinderbetreuung investiert.
Um welche Fälle geht es konkret? Ein Beispiel
Die neue Abteilungspräsidentin und ihre drei Mitrichter kümmern sich unter anderem um den Finanzausgleich, ums Bürgerrecht, um Niederlassung und Aufenthalt, um politische Rechte, die Kultur, das Zivilstandsregister, die Landwirtschaft, das Forstwesen, das Personalrecht – die Liste ist längst nicht abschliessend.
Und was hat diese Abteilung in jüngster Zeit entschieden? Zum Beispiel den Fall einer Mutter von vier Kindern, die seit über zehn Jahren auf Sozialhilfe angewiesen ist. Das Migrationsamt hat ihre Aufenthaltsbewilligung wegen der andauernden Hilfsbedürftigkeit nicht mehr verlängert. Die Frau ist mit einem in der Schweiz niedergelassenen Ausländer verheiratet, der über beide Ohren verschuldet ist und ständig straffällig wird. Ihre Kinder verfügen ebenfalls über eine Niederlassungsbewilligung – doch sie, die Mutter, soll nun raus aus der Schweiz. Sie stammt nicht aus einem EU/Efta-Staat und ist auf die regelmässige Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung angewiesen: als Einzige in der Familie.
Eine Mehrheit der Abteilung stützt den Entscheid des kantonalen Migrationsamts. Die Familie habe schon 640’000 Franken an Fürsorgeleistungen bezogen. Die Mutter hätte sich um eine bessere Integration und um einen Job bemühen sollen. Ihre Sozialhilfeabhängigkeit sei mitverschuldet, ein Ende nicht absehbar. Die Beschwerde der Frau wird vom Zürcher Verwaltungsgericht abgewiesen.
Dem Urteil (VB.2019.00160) ist allerdings eine Minderheitsmeinung angefügt: eine abweichende gerichtliche Haltung zu diesem Fall.
Die Minderheit wollte die Beschwerde der Frau, die sich gegen den Entscheid des Migrationsamts gewehrt hatte, gutheissen. Die Gerichtsschreiberin (sie hat nur beratende Stimme) und ein Mitglied aus dem dreiköpfigen Gerichtsgremium betonen die Ausnahmesituation der vierfachen Mutter, an der nicht zuletzt der Ehemann mitschuldig sei. Sie finden, die erzwungene Ausreise wäre für die Mutter und die in der Schweiz geborenen Kinder unzumutbar: «Damit überwiegen die (gewichtigen) privaten Interessen an einem Verbleib der Beschwerdeführerin die öffentlichen Interessen an ihrer Wegweisung.» So die abweichende Meinung der unterlegenen Minderheit. Sie ändert nichts daran, dass das Gericht die Beschwerde abgewiesen hat, mit einem Mehrheitsentscheid. Der Fall könnte noch vor Bundesgericht gezogen werden, die Rechtsmittelfrist läuft bis Ende August.
Endlich raus aus dem Schattendasein
In ihrer Abteilung, sagt Tamara Nüssle, komme es immer wieder zu gerichtlichen Minderheitsmeinungen, die publiziert werden, und das sei gut so: eine Bereicherung für die Rechtsentwicklung und ein Instrument, das Transparenz schaffe. Es gehört zu den Besonderheiten des Kantons Zürich, dass auch Gerichtsschreiber eine dissenting opinion publizieren dürfen.
Längst nicht alle Kantone in der Schweiz akzeptieren die Publikation von gerichtlichen Minderheitsmeinungen. Neu soll dieses Recht auch dem Bundesgericht zugestanden werden. National- und Ständerat haben eine entsprechende Motion gutgeheissen – das Bundesgericht selbst hat sich jedoch gegen die vorgeschlagene Änderung ausgesprochen. Und dies, obwohl eine harmlose «Kann-Formulierung» vorgeschlagen wird und nicht etwa die Pflicht, sämtliche dissenting opinions künftig publizieren zu müssen.
Anders als an manchen Gerichten beraten die Zürcher Verwaltungsrichterinnen und -richter ihre Fälle am runden Tisch, Aug in Aug, und nicht auf dem schriftlichen Weg, im Zirkulationsverfahren. Der Urteilsvorschlag stammt von den Gerichtsschreiberinnen, in der Regel ohne vorherige Absprache mit der Richterschaft. «Die Gerichtsschreiber üben eine wichtige Funktion aus», sagt Nüssle. «Wir sind zu wenige Richter mit zu vielen Fällen, wir haben kaum Zeit, selber Urteilsvorschläge zu schreiben. Wir lesen in erster Linie die Vorschläge der Gerichtsschreiberinnen, beraten diese gemeinsam, stimmen ihnen zu, ändern sie oder lehnen sie ab, in der Mehrheit oder in der Minderheit.»
Fast alle Entscheide des Verwaltungsgerichts werden in einer anonymisierten Form online publiziert und sind für jedermann gratis erhältlich. Die Urteilsöffentlichkeit sei wichtig, sagt die neue 1. Vizepräsidentin, denn die Bevölkerung müsse wissen, wie das Verwaltungsgericht entscheide: «Nicht zuletzt deshalb, weil wir so selten öffentlich verhandeln.»
Das Verwaltungsgericht fristet ein Schattendasein, das sagt auch Tamara Nüssle. Doch das müsse nicht so bleiben: «Bei uns findet ein Generationenwechsel statt, und die Frauen kommen. Die jüngeren Richterinnen und Richter sind unter dem Eindruck des Öffentlichkeitsprinzips ins Berufsleben gestartet. Wir wollen, dass unsere Arbeit wahrgenommen und verstanden wird.»
Illustration Friederike Hantel