Am Gericht

Wenn Angst den Rechtsstaat formt

Im New Yorker Central Park wird in den späten 1980er-Jahren eine Joggerin vergewaltigt. Die Aufklärung des Vorfalls führt zu einem Justizskandal, zum Lehrstück über strukturellen Rassismus – und zu einem Netflix-Vierteiler.

Von Yvonne Kunz, 24.07.2019

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Ort: New York City, Criminal Court
Zeit: 25. Juni bis 18. August 1989, 22. Oktober bis 11. Dezember 1990
Fall-Nr.: 4762/1989
Thema: Versuchter Mord, Vergewaltigung, Sodomie, sexuelle Belästigung, Angriff, Raub, Zusammenrottung

Sie heissen Antron McCray. Korey Wise. Yusef Salaam. Kevin Richardson. Raymond Santana Jr. Bei ihrer Verhaftung waren sie zwischen vierzehn und sechzehn Jahre alt. Vier sind schwarz, einer ist Latino. Besser bekannt sind sie als The Central Park Five. Das Label steht für vieles.

Es steht für den Horror einer Stadt mit dem Übernamen Crime Central. 1989, als die Crack-Epidemie durch New York fegte. Die Metropole in der Gewalt versank, mit 1905 Morden, 3254 Vergewaltigungen in jenem Jahr. Eine Tat schockte besonders. Die «New York Times» schrieb von vierzig, fünfzig jungen Männern, die am Oster­wochenende «durch den Central Park marodierten, Leute belästigten, angriffen, ausraubten. Eine Joggerin niederschlugen und vergewaltigten. Sie liegen liessen, nackt, gefesselt, geknebelt, im Glauben, sie sei tot.» Ob sie überleben würde, war anfangs unklar.

Aber das Label steht auch für fiebrige Paranoia. Der damalige Bürger­meister, Edward I. Koch, sprach über die Tat als «ein Kapitel aus ‹A Clockwork Orange›». Der zitierte Text der «New York Times» trug den Titel «Die Joggerin und das Wolfsrudel».

Die Yellow Press berichtete durchwegs von «Tieren».

Überhaupt steht der Fall für Medien­versagen. Die Presse missachtete fundamentale Grundsätze der Justiz­berichterstattung. Vergass, von «mutmasslichen» Tätern zu sprechen. Nannte Namen, Adressen und Telefon­nummern der Beschuldigten. Verlor die Übersicht. Kaum eine Zeile hingegen über den nicht minder krassen Fall einer schwarzen Frau, die kurze Zeit später von drei Männern vergewaltigt und vom Dach eines vierstöckigen Hauses geworfen wurde. Die Headlines dominierte das andere Opfer, die blonde Investment­bankerin Trisha Meili. Ein Kolumnist geiferte, man solle die festgenommenen dunkel­häutigen Männer im Central Park hängen.

Mit dem Fall rückte der strukturelle Rassismus in der Strafjustiz, von der Polizeiarbeit bis zum Vollzug, in den Fokus. Noch nicht im Mainstream, aber in Rap-Lyrics. Boogie Down Productions, KRS-One, 1989: «Lookin’ through my history book, I’ve watched you as you grew, killin’ blacks and callin’ it the law».

Und er offenbarte auch Donald Trumps Gespür für rassistische Ressentiments. Trisha Meili war noch nicht aus ihrem zwölftägigen Koma aufgewacht, als der Immobilien-Hustler ganzseitige Zeitungs­inserate schaltete: «Bring Back the Death Penalty». In einem Interview sagte er: «Ich empfinde Hass für die Leute, die dieses Girl vergewaltigt haben. Und ich will, dass auch die Gesellschaft sie hasst.»

The Central Park Five ist die Geschichte vom Ende der Vorstellung, Gerichte seien immun gegen solche Kräfte. Sie beschreibt, wie Angst den Rechtsstaat formt. Wie die Medien kehrte auch die Justiz ihre Grundsätze um: schuldig bis zum Unschulds­beweis. Es gab keinerlei physische Beweise, keine Augen­zeugen, keine Indizien­kette. Dennoch sassen die fünf jungen Männer zwischen sieben und dreizehn Jahre im Gefängnis.

Korey Wise blieb so lange inhaftiert, bis der wahre Täter, Matias Reyes, 2002 ein Geständnis ablegte. Die DNA auf der Socke von Trisha Meili – sie konnte bei den ersten Prozessen nicht zugeordnet werden – war seine. Er habe allein gehandelt. Reyes’ Aussagen deckten sich mit den übrigen Ermittlungs­ergebnissen. Die Schuld­sprüche gegen die fünf wurden aufgehoben.

2003 verklagten sie die Stadt wegen des Fehlurteils. Der Prozess endete erst 2014 – mit einem Vergleich. Eine Million Dollar pro Jahr im Gefängnis zahlte New York den Männern im Schnitt, insgesamt 41 Millionen. Ohne aber irgendwelche Schuld einzugestehen.

Man nennt die Geschichte einen Justiz­irrtum. Es ist aber auch die Geschichte der falschen Labels. Schon der Begriff Justiz­irrtum führt in die Irre. «Das sind keine Fehler im System, das System ist so gebaut», sagt Regisseurin Ava DuVernay im Gespräch mit Amy Goodman. In ihrem oscarnominierten, Emmy-dekorierten Dokumentar­film «13th» untersuchte sie den Zusammenhang zwischen Sklaverei und dem heutigen Industrial Prison Complex. Nun hat die ehemalige Journalistin die Geschichte der Central Park Five als leicht fiktionalisiertes Bürgerrechts-, Polit- und Familien­drama verfilmt. «When They See Us» ist seit dem 31. Mai auf Netflix zu sehen – und hat hohe Wellen geschlagen.

Denn die Geschichte bleibt aktuell. Der Immobilien-Hustler sitzt inzwischen im Weissen Haus und beschimpft vier Kongress­abgeordnete, women of color. Einerseits. Andererseits findet sie in der Black-Lives-Matter-Ära neue Resonanz. Racial profiling, Fehlurteile und Massen­inhaftierung werden heute breit diskutiert. Noch am Tag der Erstausstrahlung wurde die Serie auf den sozialen Netzwerken zur number 1 trending topic. «Das ist unsere Horrorstory», twitterten junge Afro-Amerikanerinnen.

Zu Beginn der Serie sind die fünf Jungs ausgelassene Teenager in Harlem. Ihr Leben dreht sich um Musik, Football, Girls und Fast Food. Acht Minuten später ist es vorbei mit jugendlicher Unbeschwertheit, mit Unschuld und Übermut. Die bunte Fröhlichkeit weicht aus den Bildern, kaltes Schwarzblau umhüllt von nun an die Protagonisten. Die bedrückende Schwere des Falls, die Brutalität des Systems wird durch den steten Blick auf die einzelnen Geschichten klar. Es sind Jungs, deren Identitäten gelöscht und neu geschrieben wurden, bevor sie volljährig waren. Es ist unbequeme Unterhaltung.

Teil eins zeigt, wie das einzige Beweismittel der Anklage entstand: die Geständnisse. Nach tagelangen Verhören, mit bis zu sechs Beamten im Raum, mit Schlägen, dafür ohne Eltern, Anwälte, ohne Essen, Schlaf oder Pinkelpause gestehen vier der Jungen. Auf Video. Ihre Aussagen widersprechen sich bezüglich aller Tatmerkmale grob. Wirken lebensfremd. Alle widerrufen, sobald sie anwaltlich vertreten sind. Dass ihre Statements überhaupt als Beweise vor Gericht zugelassen werden, hält man als Netflix-Zuschauerin für unmöglich.

In Teil zwei tritt die prozessführende Staatsanwältin Elizabeth Lederer auf. Auch ihre Ambitionen übertrumpfen jede Zweifel. Die beiden Strafverfolgerinnen zinken den Verlauf des Verfahrens von Anfang an. Ermittlungs­ergebnisse werden zurecht­gerückt, der Vereidigung entlastende DNA-Proben vorenthalten, das Opfer wird instrumentalisiert. Man wusste: Trisha Meili kann zum Tathergang nichts sagen, sie erinnert sich nicht an die Ereignisse. Sie wurde nur in den Zeugenstand gerufen, um die fehlenden Beweise mit Emotionen zu übertünchen. Die Schuldsprüche der Jury wegen Vergewaltigung und versuchten Mords: keine Überraschung.

Die Netflix-Serie zwingt die Zuschauerin, den Protagonisten lange in die Gesichter zu blicken. Mitten in ihre Verwirrung, Angst und Hoffnungs­losigkeit. Die sich auch nach der Freilassung von vier der Inhaftierten (in Teil drei) nur selten lichtet. Zu schwer gestaltet sich der Weg in die Freiheit. Als verurteilte Straftäter bleiben sie Bürger zweiter Klasse. Die College-Abschlüsse, die sie im Jugend­gefängnis gemacht haben, sind nichts wert. Sie können weder Lehrer noch Busfahrer werden. Nur Aushilfsjobs übernehmen. Oder nun wirklich kriminell werden, wie Raymond Santana Jr. – der wegen Drogenhandel bald wieder einsitzt.

Teil vier zeichnet in Spielfilmlänge die Haftzeit von Korey Wise nach, der Einzige, der nach dem Erwachsenen­strafrecht verurteilt wurde. Über 13 Jahre Prügel, Einzelhaft, Schikane. Mehrmals sieht man ihn vor dem Bewährungs­ausschuss. Jedes Mal scheitert seine vorzeitige Entlassung am gleichen Punkt: Er weigert sich, eine Schuld anzuerkennen. Dass die Unschuld der fünf doch noch erwiesen werden konnte, beginnt mit einem unglaublichen Zufall: der Begegnung im Gefängnis von Korey Wise und Matias Reyes, dem wahren Täter.

Schauspieler Marquis Rodriguez verkörpert in der Serie Raymond Santana Jr. Was diesen Männern widerfahren sei, sagte er gegenüber der «New York Times», sei seine grösste Angst als dunkelhäutige Person in den USA. Für ihn gibt es keine schrecklichere Vorstellung, als immer wieder die Wahrheit zu sagen und jedes Mal mit der Weigerung konfrontiert zu werden, die Wahrheit anzuerkennen.

Deshalb ist es wohl eine jener Geschichten, die immer wieder erzählt werden wollen. Bis sie gehört wird. In Doktorarbeiten, Sachbüchern, Dokfilmen. Derzeit nicht nur auf Netflix; in San Pedro, Kalifornien, wird sie als Oper aufgeführt. Denn keiner, sagt Ava DuVernay im Interview mit der «Süddeutschen Zeitung», könne guten Gewissens behaupten, dass ein solcher Fall heute nicht mehr möglich sei. In den USA sowieso. Aber auch allgemein führt die Geschichte vor Augen, wie fragil ein Rechtsstaat ist. Er ist nicht abstrakte Justiz, wir alle machen ihn aus.

«When They See Us» gehört zu den Netflix-Produktionen mit dem erfolgreichsten Start überhaupt. Nun wird die Geschichte definitiv gehört. Und sie entfaltet Wirkung.

Letzten Monat legte die damalige Staatsanwältin Elizabeth Lederer ihre Tätigkeit als Dozentin an der Columbia Law School nieder. In einem kurzen Statement schrieb sie: Die Serie habe eine schmerzhafte – und notwendige – Debatte über Rassen­identität und Strafjustiz neu entfacht.

Die für den Fall verantwortliche damalige Bezirksanwältin Linda Fairstein ist heute erfolgreiche Krimiautorin. Letzten Dezember noch sollte sie den Grand Master Award der Mystery Writers of America erhalten. In der Pressemitteilung wurde sie als Pionierin im War on Rape gefeiert, die für die Opfer historische Fortschritte im Justiz­system erkämpft habe. Jetzt wird ihre Geschichte, wie zuvor jene der fünf Jungs, von Netflix neu geschrieben. Den Preis erhielt sie nicht. Ihr Verlag liess sie fallen. Sie ist von ihren Posten bei Charities und Universitäten zurückgetreten.

Bis heute wehrt sie sich gegen jegliche Kritik an ihrer Fallführung. Sie hält daran fest, die richtigen Täter ins Gefängnis gebracht zu haben. Matias Reyes sei nur der sechste Täter gewesen. In «The Wall Street Journal» unterstellt sie Netflix und der Regisseurin, eine falsche Geschichte zu erzählen. Die gezeigten Druckversuche auf die fünf Verhafteten habe es nicht gegeben, die Verhöre seien stets «respekt- und würdevoll» gewesen.

Korey Wise, 46, Kevin Richardson, 44, Raymond Santana Jr., 44, Antron McCray, 45, und Yusef Salaam, 45, haben neuerdings eine Stimme.

In der «New York Times», bei Oprah Winfrey, auf CNN. Befragt von Oprah Winfrey, eine der Produzentinnen der Serie, gewähren sie Einblicke in das, was nach dem Fehlurteil und der jahrelangen Inhaftierung geschah. Nicht allen geht es gut. Antron McCray sagt: «Bis heute frisst mich die Sache jeden Tag auf. Meine Frau sagt mir die ganze Zeit: ‹In die Therapie.› Aber es ist zu spät.» Auch für Raymond Santana Jr. war es schwer, die Ereignisse nochmals zu durchleben, aber: «Wenn man die Kultur verändern kann, lohnt es sich. Für uns selbst. Und für alle anderen.»

Kevin Richardson fordert, es müssten noch viele zur Verantwortung gezogen werden, nicht nur die damalige Bezirks­anwältin. Und Yusef Salaam erzählt, ihnen sei erst jetzt, durch den Film, bewusst geworden, wie viel schwerer das Los von Korey Wise war.

Und der sagt: «Es ist wie ein Leben nach dem Tod.»