Bergs Nerds

Nerds retten die Welt

Folge 16: Ein Gespräch mit dem Männlichkeits­forscher Rolf Pohl, bis 2017 Professor für Sozialpsychologie an der Universität Hannover.

Von Sibylle Berg, 23.07.2019

Der Männerforscher Rolf Pohl studierte Geschichte, Politik­wissenschaft, Soziologie und Psychologie. Bis 2017 war er Professor für Sozial­psychologie am Institut für Soziologie der Universität Hannover. Pohl ist Verfasser zahlreicher Texte und Bücher. Seit Juni 2019 ist eine Taschenbuch­ausgabe seines Hauptwerks «Feindbild Frau» erhältlich.

Herr Professor Doktor Pohl, haben Sie sich heute schon um den Zustand der Welt gesorgt?

Ja, wobei der Ausdruck «Sorge» sicherlich noch untertrieben ist. Wie liesse sich das auch vermeiden, ohne sich der täglichen Nachrichten zu verweigern?

Gut, man könnte sich dazu durchringen, der katastrophalen Dramatik des Welt­geschehens, den wachsenden, gesellschafts­bedingten und menschen­gemachten Angriffen auf Natur, Klima, Demokratie, Menschen­rechte und Humanität entweder mit Gleich­gültigkeit zu begegnen oder sie zu leugnen. Oder aber mit dem Blick von Berufs­optimistinnen oder Gesund­betern unter dem Motto zu beschwichtigen: «Eigentlich ist die Welt doch gar nicht so schlecht.» Und – wenn wir diesem affirmativen Motto weiter folgen – unsere wunderbaren zivilisatorischen, technischen, gesellschaftlichen und politischen Errungenschaften gegen die Dauer­empörten zu verteidigen und alle verblendeten, an einem rigorosen Schwarz-Weiss-Moralismus erkrankten Rechts-, Links- und religiösen Ideologien sowie andere Gefährdungen des ach so humanen Zusammen­halts unserer funktionierenden Demokratien in die Schranken zu weisen. In verschiedenen Varianten ist diese unkritische eine durchaus verbreitete, aber ziemlich naive Sicht auf die Welt.

Die kollektive Überforderung angesichts der durch das Netz erkennbaren Komplexität von allem und der Wunsch nach einfachen Antworten.

Was mich als Sozial­psychologen am meisten beunruhigt, ist die nicht nachlassende und zurzeit eher wieder anwachsende kollektive Irrationalität und vor allem der vorherrschende, von tendenziell gewalt­erzeugenden Wahrnehmungs­mustern bestimmte Umgang mit den grundlegenden Problemen der Welt und den Konflikten unserer postmodernen Gesellschaften. Aber wir leben ja, so heisst es dann euphemistisch, in einem «postfaktischen Zeitalter», in dem die Lüge systematisch zur Wahrheit umgedeutet wird.

Der Punkt, an dem mich der Mut verlässt, sind die Meinungen, die so schwer durch Fakten zu widerlegen sind, denn die Fakten, die die Hälfte der Bevölkerung akzeptiert, sind empirisch, wissenschaftlich. Die andere Hälfte der Bevölkerung hält sie für Lügen. Es gibt keinen Ausweg.

Hauptsache, es stehen starke «authentische» und damit «wahre» Gefühle hinter ihnen. Und Hauptsache, sie folgen – so zum Beispiel beim Berliner AfD-Vorsitzenden Georg Pazderski zur Rechtfertigung seiner gezielten politischen Lügen­kampagnen gegen Geflüchtete – der Logik perception is reality, Wahrnehmung ist Wirklichkeit. Hier geht es also nicht wirklich um die Verbesserung der Welt, um ein Ringen um Wahrheit durch den freien Austausch von Argumenten in wechsel­seitiger Anerkennung. Es geht vielmehr um das rein subjektive – oder, wie der Sozial­philosoph Theodor W. Adorno es einmal genannt hat, das blosse oder «pathische» – Meinen und damit um Kampf, Sieg und die Erringung von Vorherrschaft durch systematische Realitäts­umdeutung. Wie die Psycho­analyse uns lehrt, hat das eher mit Wahn als mit Wirklichkeit zu tun.

Apropos Wissenschaft: Gab es in Ihrem Leben einen Auslöser dafür, Psychologie beziehungs­weise Sozial­psychologie zu studieren?

Grundsätzlich ging es mir immer schon um das Interesse an einer Erkenntnis der gesellschaftlichen und insbesondere der psychischen Ursachen dieser vor allem politisch so gefährlichen Irrationalität. Diesem Interesse nachzugehen, war mir an der Universität Hannover in den 1970er-Jahren vor allem in den Fächern Soziologie und Psychologie beziehungs­weise Sozial­psychologie unter dem Einfluss des damaligen Instituts­leiters Peter Brückner und seiner Mitarbeiterinnen möglich.

Wie kam es dazu, dass Sie sich besonders dem Studium der Männlichkeit widmeten?

In der Soziologie interessierten mich in erster Linie die gesellschafts­theoretischen Analysen von Macht- und Herrschafts­verhältnissen. In der Sozial­psychologie war es schwerpunkt­mässig der Zusammen­hang von Gewalt und historisch gewachsenen gewalt­förmigen Verhältnissen. Es ging also, angelehnt an eine schlichte, aber einleuchtende Formulierung Brückners, um die gerade heute wieder hochaktuelle Grundfrage, warum sich die Menschen das antun, was sie sich antun, und worin die historischen, gesellschaftlichen und politischen Ursachen dafür liegen. Dabei hielt und halte ich eine kritische Verwendung der Psycho­analyse als Theorie des Unbewussten bis heute für unerlässlich, um eine solche die subjektiven und gruppen­bezogenen Motiv- und Konflikt­lagen einschliessende Untersuchungs­perspektive einnehmen zu können.

Vor diesem Hintergrund und beeinflusst durch die am Institut für Sozial­psychologie in Hannover etablierte Frauen- und Geschlechter­forschung wandte ich mich der Politischen Psychologie und einer kritischen Männlichkeits­forschung zu. Auch hier stand vor allem die Frage nach den subjektiven und den gesellschaftlichen «Produktions­regeln von Gewalt» (Brückner) im Mittelpunkt. Das hing wesentlich mit dem wohl wichtigsten Auslöser für meine Wahl dieser Forschungs­thematik zusammen: den Enthüllungen über die furchtbaren Massen­vergewaltigungen im Kontext der Ex-Jugoslawien-Kriege in den 1990er-Jahren und den anschliessenden ersten breiten Diskussionen über den Einsatz von sexueller Gewalt als Kriegswaffe. Die Hauptfrage, die mich seitdem in diesem Feld umtreibt, ist die nach den weitgehend unbewussten Tiefen­strukturen von Männlichkeiten in Gesellschaften mit männlicher Dominanz und Vorherrschaft. Und damit der Versuch, wissenschaftlich zu verstehen, welche spezifischen Verknüpfungen von Sexualität, Macht und Weiblichkeits­abwehr die vorherrschenden Konstruktionen von «Normal­männlichkeit» immer wieder bestimmen und unter welchen Bedingungen diese Verknüpfungen, auch wenn sie empirisch nicht für jeden einzelnen Mann gelten, ihr destruktives Potenzial entfalten.

Ihr Buch «Feindbild Frau» erschien 2004. Es war prägend für mein feministisches Verständnis. Erinnern Sie sich an die Verfassung, in der Sie waren, als Sie dieses Buch geschrieben haben?

Das Buch ist in zwei Etappen und unter unterschiedlichen Begleit­umständen entstanden. Die theoretischen Hauptteile sind bereits 1996 als eine Sammlung von Bausteinen zu einer Psycho­analyse der Männlichkeit im Rahmen meines Habilitations­verfahrens unter starkem beruflichem Qualifizierungs­druck erschienen. Die Überarbeitung und vor allem die Erweiterung um die eher anwendungs­bezogenen Beispiel­felder Adoleszenz und männliche Jugend­gewalt, Männlichkeit und Perversion sowie Männlichkeit und sexuelle Gewalt in Kriegen für die Publikation 2004 erfolgten dann stärker unter dem nachhaltigen und erschütternden Eindruck der Material­erhebung. Insbesondere die Recherchen über die sexuellen Gewalt­handlungen unter Kriegs-, aber auch unter zivilen Bedingungen waren angesichts der erschreckenden Brutalität, Grausamkeit und inhumanen Mitleidlosigkeit meist schwer auszuhalten und brachten die notwendige wissenschaftliche Distanz immer wieder an ihre Grenzen.

«Der abgewehrte, ursprünglich innere Hauptfeind des soldatischen Mannes ist weiblich und damit als bedrohlich konnotiert.»
Rolf Pohl

Weil wir gerade vom Krieg reden: Wäre die Art des befehls­ausführenden Abschlachtens anderer Menschen auch möglich, wenn nur Frauen eingezogen würden? Oder begebe ich mich hier in den Bereich sexistischer Annahmen?

Das ist eine interessante, aber absurde und rein hypothetische Frage. Es wird niemals eine ausschliesslich oder überwiegend weibliche Armee im Kriegs­einsatz geben. Ausserdem können Frauen nach der allgemeinen Logik des Militärischen ebenso mit einer tötungs­bereiten Gruppen­mentalität zum «Abschlachten» gedrillt werden wie Männer – auch wenn Frauen in realen Einsätzen oft eher für Aufgaben eingeteilt werden, die «weichere», also Soft Skills erfordern. Die Idee einer reinen Amazonen­armee war und ist ein Mythos, denn diese angesprochene Logik des Militärischen ist grundsätzlich schon immer – und in ihrer modernen Gestaltung erst recht seit dem Siegeszug der National­armeen und der Einführung der allgemeinen Wehr­pflicht Anfang des 19. Jahr­hunderts – eine kriegerisch-männliche Logik. Der abgewehrte, ursprünglich innere Hauptfeind des soldatischen Mannes ist, das wissen wir spätestens seit den «Männerphantasien» von Klaus Theweleit aus den 1970er-Jahren, weiblich und damit als bedrohlich konnotiert.

Was lässt, wenn kein Wehrpflicht­zwang besteht, also vornehmlich männliche Menschen in Kriege ziehen und einen Heldentod in Kauf nehmen?

Die militärische Sozialisation und stärker noch der Krieg tragen mit ihrem systematischen Umbau der zivilen in eine soldatische Persönlichkeit deutliche Merkmale einer hypervirilen kollektiven Selbst­erzeugung. Eine initiations­ähnliche Wieder­geburt, die Spuren der «weichen», als unmännlich und damit als weiblich denunzierten Züge beseitigen und damit den Einfluss angst­auslösender Weiblichkeits­bilder abwehren soll. Dies lässt sich wunderbar anschaulich nachlesen in Ernst Jüngers Erfahrungs­berichten über den Ersten Weltkrieg – «Der Kampf als inneres Erlebnis» und «In Stahlgewittern»: eine ästhetisierende Verklärung der «Feuertaufe» als eine Art mann-männlicher Reinkarnation ohne störende Frauen. Das Fabulieren über einen reinigenden Gesundungs­prozess in einem Gaskrieg ist eine zutiefst verstörende männlich-destruktive Wiedergeburts­fantasie.

Aber auch in der Gegenwart finden wir immer wieder Bestätigungen des genuin männlichen Charakters der militärischen und kriegs­bezogenen Logik. So etwa bei dem anerkannten Militär­historiker Martin van Creveld. Für ihn sind Kriege weiterhin ein kulturell und entwicklungs­psychologisch notwendiger Männlichkeits­beweis. Notwendig, weil es im Unterschied zur Entwicklung der weiblichen Gebär­fähigkeit keine biologischen Übergänge des Jungen zum Mann gebe und der Junge folglich durch kulturelle Riten erst männlich gemacht werden müsse. Diese Erzeugung von Männlichkeit könne nur durch Männer selbst erfolgen, da es vor allem darum gehe, endgültig die Bindung an die Mutter aufzulösen und die damit verbundene «weibliche Substanz» aus den Körpern und den Seelen der jungen Heranwachsenden auszutreiben. Mangels traditioneller Initiations­riten habe diese Funktion nun das Militär übernommen, und in letzter Konsequenz, so lautet die trübe, männlichkeits­verherrlichende und gleichzeitig antifeministische Quintessenz, sei kein Tätigkeits­feld so geeignet, die Männlichkeit zu bestätigen, wie der Krieg. Erst der Krieg biete den Männern die Gelegenheit, sich und ihre Persönlichkeit voll zu entfalten. Dass das alles geschehen soll, um Volk, Vaterland und insbesondere die «eigenen» Frauen zu schützen oder gar zu retten – geschenkt!

Wie sehr das damit verbundene Archaisch-Kriegerische neben dem High-Tech-Soldatischen auch in modernen Armeen immer wieder eine Renaissance erfährt, zeigt sich spätestens dann, wenn es Ernst wird, also wenn es zum Kriegs­einsatz kommt.

Weltweit werden pro Tag mindestens 137 Frauen ermordet. Nicht eingerechnet die Dunkel­ziffer, nicht eingerechnet die Zahl der Vergewaltigungen, Verstümmelungen, der Akte der Gewalt gegen Frauen. Häufig hervor­gerufen durch einen Partner. In der westlichen Welt sind sich jedoch viele Frauen sicher, dass ihnen das mit ihrem Partner nicht passieren kann.

Die grosse Verbreitung von sexueller und nicht sexueller Gewalt in der Partnerschaft zeigt, dass der Nahbereich nach wie vor der gefährlichste Ort für Frauen ist. Darauf weist ja eindringlich die kürzlich erschienene weltweite Studie der Uno-Frauen­organisation über «Familien in einer sich ändernden Welt» hin. Frauen können sich daher im Grunde nicht wirklich sicher sein. Die Überzeugung, der eigene Partner sei anders und könne niemals gewalt­tätig werden, ist vor diesem Hinter­grund verständlich, aber sicherlich etwas gewagt.

Andererseits wäre ohne eine solche Überzeugung überhaupt keine hetero­sexuelle Beziehungs­aufnahme gerechtfertigt, wenn freiwillige Askese oder ein Wechsel der Geschlechter­präferenzen nicht infrage kommen. Trotz des statistischen Ausmasses offener Gewalt, trotz der immens hohen Dunkel­ziffer sowie der allgemeinen Verbreitung anderer, weniger manifester Ausdrucks­formen einer bis zum Hass reichenden Frauen­feindschaft müssen wir ausserdem bedenken, dass selbst­verständlich nicht alle Männer potenzielle Gewalt­täter sind. Hier muss zwischen der Struktur geschlechtlicher Ungleichheits­lagen und der empirischen Verfasstheit einzelner Männer und ihrem vorherrschenden Habitus unterschieden werden. Also: Alle frauen­feindlichen Gewalt­taten werden (bis auf wenige Ausnahmen) von Männern begangen, aber nicht alle Männer sind tatsächliche oder potenzielle Gewalttäter.

Frauen wissen, dass sie mit der Mutterschaft oft abhängig werden. Jede siebte Frau in der Schweiz verliert mit der Schwangerschaft ihren Job, ihre berufliche Laufbahn erfährt eine Unterbrechung, und die Frauen werden oft mit der Kinder­erziehung allein­gelassen. Und dennoch entscheiden sie sich für die Fortpflanzung.

Zu den deutlichen Kennzeichen der genannten strukturell unveränderten Geschlechter­hierarchien gehört – neben dem gender pay gap, der geringen Repräsentanz von Frauen in Leitungs­positionen und der weiblichen Dominanz bei unbezahlten Care-Tätigkeiten – auch die Tatsache, dass trotz aller Reformen und freiwilliger Bewegungen auf der Männer­seite die Vereinbarkeit von Familie und Beruf nach wie vor stärker den Frauen angelastet bleibt. Verglichen mit anderen Ländern scheinen in der Schweiz die beruflichen Benachteiligungen von Müttern trotz Mutterschafts­geld und anderer Reformen besonders krass ausgeprägt zu sein. Auch dagegen hat sich ja der landesweite Frauen­streik am 14. Juni 2019 mit seinem Kampf gegen Geschlechter­stereotype, Sexismus und Gewalt gegen Frauen gerichtet.

Warum sich Frauen unter diesen Bedingungen dennoch für beides – für Kinder und Beruf und im Notfall dann eben doch eher für Kinder – entscheiden, vermag ich als Mann schwer zu sagen. Die Notlage ist jedenfalls Ausdruck eines Dilemmas, das nicht selbst­verschuldet ist. Und im Grunde verdient die Entscheidung berufstätiger Frauen für die Geburt gerade angesichts der zu erwartenden Nachteile sogar grösseren Respekt, Anerkennung und einen breiteren Kampf gegen rückständige, frauen­feindliche Mentalitäten in offenbar vielen Schweizer Unternehmenskulturen.

Die Schweiz wurde gemäss einer Unicef-Studie zum kinder- und familien­unfreundlichsten Land gewählt, was an den patriarchalen Strukturen und dem gelebten Motto «Kinder­betreuung ist Frauen­sache» liegt. Die Schweiz liegt in Sachen politischer und wirtschaftlicher Teilhabe von Frauen konstant auf einem der hinteren Plätze in internationalen Unter­suchungen. Jede zweite Frau in der Schweiz erlebte in unter­schiedlichen Formen sexuelle Gewalt. Es gibt kaum ein westliches Land mit einer so rückständigen Gesetz­gebung zum Schutz der Frauen vor Vergewaltigung.

Fällt mir gerade unzusammen­hängend ein.

In allen Bereichen, in denen Frauen es wagen, in vermeintliche Männer­domänen vorzudringen, sind sie sexuellen Übergriffen, Hass on- und offline sowie Herab­würdigungen ausgesetzt. Bleibt da nur, Kampf­sport zu lernen, in ständigem Abwehrmodus zu leben?

Oder anders gefragt: Gibt es eine Lösung zwischen Valerie Solanas’ Manifest und dem langen Weg durch politische Institutionen, der nach unseriösen Schätzungen noch Hunderte von Jahren dauern kann?

Sicherlich ist Kampfsport als persönliche Schutz­massnahme nicht falsch. Aber es gibt Alternativen zwischen dem radikal-ironischen, viele Männer auch heute noch zu wahren anti­feministischen Angst- und Hass­stürmen hinreissenden Aufruf von Solanas zur «Vernichtung» der Männer als unerlässlicher Vorbedingung für den Aufbau einer menschlichen Gesellschaft auf der einen Seite und dem Vertrauen auf schleichenden Wandel der Verhältnisse im Schnecken­tempo auf der anderen Seite. Ansätze gibt es hier auch neben den bereits angesprochenen Strömungen einer neuen Frauen­bewegung zuhauf, etwa in den Kämpfen gegen rechts sowie in der Friedens-, der Ökologie- und der Klimaschutz­bewegung. Es ist sicherlich kein Zufall, dass der Anteil von Mädchen und Frauen an den «Fridays for Future» unverhältnis­mässig hoch ist. Diese verstreuten Ansätze müssten politisch verstärkt, gebündelt und ausgebaut werden. Ein resignatives Abwarten oder Zurück­ziehen kann jedenfalls keine Lösung sein.

Die Neuordnung der Weltmächte, die Digitalisierung und Frauen, die an Einfluss gewinnen: Das alles führt zu einem verzweifelten Aufbäumen vieler verunsicherter Männer, die ihre Stärke in nationalistischen Männer­bünden suchen.

Die Männer, die mit diesem verzweifelten, aber politisch nicht ungefährlichen Aufbäumen reagieren, glauben, dass alles Übel der Welt und insbesondere die angebliche «Krise der Männlichkeit» auf den Sieges­zug des männer­hassenden Feminismus und die Errichtung eines totalitären «Feminats» zurück­zuführen sei. Dieses Aufbäumen kann eigentlich nur mit dem beantwortet werden, was hier am meisten verteufelt oder wie das Weihwasser vom Teufel gefürchtet wird: mit einer Bündelung und Intensivierung der bereits vorhandenen Aktivitäten wie im Netz­feminismus oder in den Kampagnen gegen Sexismus zu einer «neuen» Frauen­bewegung. Aber von mir als Mann ist das natürlich eine etwas merkwürdige Forderung.

Europa kommt mir gerade vor wie ein Mann, der um seine Potenz fürchtet und in völliger Selbst­überschätzung des kleinen Nationalen den Kampf gegen die neuen Weltmächte antritt. Was führt Männer oft zu fast albern anmutender Selbstüberschätzung?

Es sind mehrere Dinge, die hier zusammen­kommen. Der Kern ist der nach wie vor weit verbreitete Irrglaube, der Nabel der Welt und damit das Subjekt schlechthin zu sein. Das Subjekt, das grundsätzlich wichtiger und daher allen anderen überlegen ist und das sich im Fall von vermeintlichen, das heisst als solche gefühlten Kränkungen das Recht heraus­nehmen kann, seine als beschädigt geglaubte Männlichkeit zu reparieren – notfalls eben auch mit Gewalt. Zu diesem Narzissmus und dem gefährlichen Umgang mit ihm gehört die wohl immer noch tief verankerte Vorstellung einer engen Verwandtschaft von sexueller und sozialer, ökonomischer und politischer Potenz.

Und dieses Potenzial ist politisierbar, indem die Nation, die Erde und die Heimat als weiblich assoziiert werden und die Männer sich dann im armseligen Brustton ihres doppelten – völkischen und frauen­feindlichen – Chauvinismus als Bewahrer, Schützer und Retter von beiden, den Frauen und der Nation, stilisieren können. Das wiederum geht nur mit einer starken, souveränen und wehrhaften Männlichkeit. So klagte etwa der Thüringer Landes­vorsitzende der AfD, Björn Höcke, Deutschland und Europa hätten «ihre Männlichkeit verloren». Diese müsse wieder­entdeckt werden, denn nur dann «werden wir mannhaft. Und nur wenn wir mannhaft werden, werden wir wehrhaft, und wir müssen wehrhaft werden.»

Männlichkeit meint in diesem Kontext also Brutalität und Dummheit.

Das ist Ausdruck von dem, was ich eine paranoid getönte Abwehr-Kampf-Haltung von Männern nenne, bei denen Weiblichkeit nichts weiter als die Projektions­fläche ihrer ins Nationale strebenden Grössen­fantasien und des Kampfes gegen ihre Kleinheits­ängste ist. Das zeigt auch, wie sehr sich die Mechanismen von Fremden­feindlichkeit und Frauen­feindlichkeit ähneln und wie leicht sich Rassismus und Sexismus überlagern können. Die Sehnsucht nach der Sicherung und Wieder­herstellung einer in Gefahr geratenen kollektiven (völkisch-nationalen) Identität geht einher mit dem Wunsch nach einer Reparatur der als beschädigt erlebten Männlichkeit und damit nach einer Re-Souveränisierung des Mannes.

Gibt es einen Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Gewaltbereitschaft?

Auch wenn sich die geschlechter­typischen Ausdrucks­formen unterscheiden, so verfügen Frauen doch über ein ähnliches Aggressions­potenzial wie Männer. Sie sind mit Sicherheit zu ähnlich starken Hass­gefühlen sowie zu grausamem und selbst sadistischem Verhalten imstande. Frauen sind ja nicht grundsätzlich die besseren Menschen, der Glaube an ihre prinzipielle Fried­fertigkeit ist zweifellos ein Mythos. Dennoch ist der weibliche Anteil an der Gesamtheit der manifesten Gewalt­handlungen nach wie vor überproportional gering. Bei bestimmten Delikten wie partner- oder kinder­bezogener Gewalt ist er etwas höher, bei anderen, vor allem aus dem sexuellen Gewalt­bereich stammenden Taten geht er gegen null.

Die wichtigste Ursache für diese gravierenden Unterschiede im manifesten Verhalten liegt meiner Ansicht nach darin, dass die Grenzen zwischen Gewalt­faszination, Gewalt­bereitschaft und faktischer Gewalt­ausübung bei Jungen und Männern prinzipiell durchlässiger sind als bei Mädchen und Frauen. Die vorherrschenden Formen von Männlichkeit in männlich dominierten Gesellschaften müssen nach wie vor bereit sein, vermeintliche Gefährdungen notfalls mittels Gewalt zu bekämpfen. Wie gesagt: Das gilt empirisch nicht für alle Männer, aber für viele und in Fällen innerer und äusserer Krisen für mehr von ihnen als landläufig vermutet.

Jeder redet momentan von der Herabsetzung der Männer. Wie haben Frauen über Jahrhunderte ihre permanente Herab­setzung ertragen, ohne in einen kriegerischen Zustand zu geraten?

Und: Basiert das erlernte Erdulden der Frauen vornehmlich auf der körperlichen Überlegenheit der Männer?

Der Hinweis auf die körperliche Überlegenheit der Männer ist eine bequeme Schutz­behauptung, die als Biologie festschreibt, was in Wirklichkeit kulturelle Wurzeln hat – mit dem Ziel, die bestehenden Geschlechter­hierarchien zu legitimieren und zu verewigen. Und das aktuell verstärkt auftretende Klagen über die Herab­setzung der Männer, über die systematische «Benachteiligung der Jungen» und die «Entsorgung der Väter» ist übrigens dummes Gerede mit hohen projektiven Anteilen: Herabgesetzt wurden und werden real die Frauen. Männer fühlen sich herabgesetzt und lasten das den Frauen, dem Feminismus und einer eiskalten «Frauen­mafia» an – das ist der einfache Unterschied.

War Grundbesitz der Ursprung dafür, Frauen und Kinder ebenfalls als männlichen Besitz zu betrachten?

Das ist sehr kompliziert und kultur­anthropologisch wohl nicht endgültig geklärt. Aber der Grund­besitz an sich steht weniger am Anfang der patriarchalen Entwicklung. Vielmehr ist es die mit dem Ackerbau beginnende Ausdifferenzierung der für die Geschlechter so folgen­reichen, mit Auf- und Abwertungen verbundenen Arbeits­teilung. Im Unterschied zu den früheren Jäger-und-Sammler-Gesellschaften mussten Frauen nun zur Sicherung des Überlebens der Gruppe von aussen eingeführt werden. Das geschah, wie meines Erachtens der französische Ethnologe Claude Meillassoux überzeugend nachgewiesen hat, zunächst durch Raub und schliesslich in geregelter Form durch ein komplexes System des gegenseitigen Frauen­tauschs. Eine der Folgen war möglicher­weise, dass man die Frauen allmählich von der Jagd und dem Krieg ausgeschlossen und exklusiv in die Sphäre der häuslichen Produktion verwiesen hat. Dadurch wurde die ursprünglich stärkere Position der Frau zunehmend entwertet und gleichzeitig die des Mannes als Räuber, Krieger und Beschützer aufgewertet. Zugespitzt lässt das den Schluss zu: Gerade weil die Frauen aufgrund ihrer Gebär­fähigkeit und als Tausch­objekt so wichtig waren, wurden sie immer stärker herabgesetzt und der männlichen Herrschaft und Verfügungs­gewalt unterworfen.

Ich würde gerne noch etwas über den Einsatz der Religionen als Manifestation männlicher Macht erfahren, vermutlich sprengt es den Rahmen unseres Formates. Vielleicht ist die nächste Frage schneller zu beantworten: Gibt es irgendwo auf der Welt eine Gesellschaft ohne Frauenhass? Gab es sie jemals?

Mit dem Siegeszug des oben sehr verkürzt hergeleiteten patriarchalen Modells der Geschlechter­beziehungen hat sich auch die bis zum Hass reichende und immer wieder in Gewalt mündende Frauen­feindlichkeit – wenn auch kultur­historisch in sehr unterschiedlichen Ausprägungen und Erscheinungs­formen – als nahezu ubiquitäres Merkmal durchgesetzt. Das ist wohl der zentrale und bedrückende Befund der Misogynie-Forschung. Abweichungen des Grund­modells gibt es allerhöchstens in geografisch oder regional kleinen Inseln, in denen die gesellschaftlichen und damit auch die geschlechtlichen Beziehungen «matrilinear», das heisst durch die mütterlich-weibliche Linie, bestimmt sind. Das ist noch kein Matriarchat im Sinne einer blossen Spiegelung patriarchaler Verhältnisse. Deren Existenz wird in der Forschung ohnehin eher als Mythos nachgewiesen. Aber hier, wie beispiels­weise bei der kleinen Bevölkerungs­gruppe der Mosuo im Südwesten Chinas, lassen sich grundsätzlich eher egalitärere Beziehungen und damit auch weniger Frauen­hass als sonst überall finden.

Sie stellen Sexismus immer auch als strukturelles Problem dar. Wir leben in der Zeit des Neoliberalen, in der davon ausgegangen wird, dass jeder sich formen kann, es schaffen kann in der Welt des Turbo­kapitalismus. Demzufolge sind Frauen durch ihren fortpflanzungs­bedingten Ausfall, das eventuelle Allein­erziehen, auch in Zukunft chancenlos?

Mit den Strukturen, die immer aufs Neue Sexismus hervorbringen und die in unseren Sexismus­debatten bislang nicht wirklich angegangen werden, meine ich insbesondere die bereits angesprochene Hartnäckigkeit, an den Grund­lagen geschlechtlicher Ungleichheits­lagen und den damit verbundenen, vielen fast als natürlich erscheinenden männlichen Privilegien – oder besser: dem Privileg und Vorrecht des Männlichen schlechthin – festzuhalten. So gesehen gehören alle Erscheinungs­formen von Sexismus als ein Herrschafts- und Macht­instrument zu diesen grund­legenden männlichen Privilegien. Im Sexismus verdichtet sich eben vor der Folie einer gesellschaftlich anerkannten Höher­bewertung des Männlichen ein bestimmtes Verhältnis von Macht, Sexualität und Überlegenheits­anspruch, das zur Grund­ausstattung von Männlichkeit und seiner Konstruktion in einer nach wie vor hierarchischen, männlich dominierten Geschlechter­ordnung gehört.

Daran ändern die Auswüchse des gegenwärtigen Turbo­kapitalismus überhaupt nichts. Im Gegenteil: Der vom Neoliberalismus diktierte Selbst­optimierungs­wahn und die angepriesenen Perfektionierungs­techniken zur Steigerung des Selbstwert­gefühls und damit angeblich des Ansehens befestigen ja gerade die gängigen Geschlechter­klischees und reproduzieren sie auf zeitgemässem Anpassungs­level. Die normativen, Druck auslösenden Selbst­technologien für Mädchen und Frauen zielen in erster Linie genau darauf ab, womit sie in der Männer­welt immer schon zu punkten hatten: auf Körper und Aussehen. Der Zeitgeist verstärkt also im Grunde genau das, was der Soziologe Pierre Bourdieu schon vor langer Zeit als die «ernsthaften Spiele des Wettbewerbs unter Männern» bezeichnet hat, denen gegenüber die Frauen nur die Funktion von «schmeichelnden Spiegeln» zu übernehmen haben.

Gerade konnte man Philipp Amthor in einem Video sehen, in dem er rassistische Dummheiten von sich gibt und dabei bei drei älteren Männern so um Anerkennung bettelt, das man ein grosses Mitgefühl für die Armseligkeit der männlichen Disposition bekommt.

Wie kann ein Mann es schaffen, ohne die Anerkennung von fraternisierenden Männer­bünden ein Selbstwert­gefühl zu erhalten?

Amthor, ein schnöseliger, gerade in geschlechter­politischen Fragen erzkonservativer Jung­politiker der CDU, der der AfD durchaus Interesse entgegen­bringt, singt an einem Wahlkampf­stand seiner Partei tapfer die deutsche National­hymne und äussert sich, wohl als lustige Anspielung auf den ehemaligen Fussball­national­spieler Mesut Özil gemeint, anerkennungs­heischend gegenüber den anwesenden drei Herren, es sei gut, dass hier keine Muslime dabei seien, da die ja die Hymne nicht mitsingen würden. Das war nicht witzig, das war und ist rassistisch. Und sicherlich ist die männer­tümelnde Anbiederei typisch für eine politisierte Männlichkeit, in der sich in unterschiedlichen Mischungs­verhältnissen immer wieder Rassismus, männliche Selbst­behauptung und Sexismus miteinander verbinden. Vorgeführt wird uns diese Mischung ja besonders ausgeprägt in Burschen­schaften, in Teilen des Militärs und in anderen Gruppen­strukturen mit einem ausgeprägten männlichen Korpsgeist.

Es gibt kein Rezept für einen Mann, sich dem Sog dieser Strukturen zu entziehen, dieses ernsten Spiels des männlichen Wettbewerbs ohne Frauen, die aller­höchstens geduldet sind als schmückendes Beiwerk und auf deren Rücken das Spiel eben oft auch ausgetragen wird. Aber es gibt viele Männer, die andere Wege gehen, und es müsste genauer untersucht werden, wie es ihnen halbwegs gelungen ist, sich dieser Sogwirkung zu entziehen. Im Grunde geht es nur, indem man sich selbstreflexiv mit dem Grauen verfestigter Geschlechter­bilder und der damit zäh und klebrig verbundenen Selbst-Aufwertungen und Fremd-Abwertungen auseinandersetzt, das in uns allen tief vergraben ist. Dies ist aber letztlich keine selbst­therapeutische, sondern eine politische Frage.

Wenn ein Teil der männlichen Abwertung Frauen gegenüber eine Folge ihrer Sexualität ist, ihres Begehrens, das sie schwach und für sich selber verachtenswert werden lässt, löst sich das Problem erst durch fortschreitende Impotenz?

In Zeiten von Viagra ist diese Frage eigentlich obsolet geworden, ein Mittel, das Fluch und Segen zugleich ist. Ein Segen, weil es ohne Zweifel auch eine sinnvolle Hilfe­stellung bei massiven sexuellen Funktions­störungen bietet. Das bedeutet auch, dass nicht alle Männer, die aus medizinischer Indikations­stellung Viagra verschrieben bekommen oder selbst dazu greifen, pauschal verteufelt werden sollten. Aber Viagra verspricht eben auch immer, wenn der Mann es will, ewige Lust – und Kontrolle. Und damit ist es hinsichtlich der Aufrecht­erhaltung geschlechtlicher Ungleichheits­lagen ein Zauber­mittel. Zusammen mit jenen technischen Hilfsmitteln, die von Viagra weitgehend abgelöst wurden, den bis heute aber immer noch reichlich angepriesenen Penis­vakuum­pumpen, Schwell­körper­injektions­therapien, hydraulischen Penis­prothesen und so weiter, wird hier bestätigt, dass die sexuelle Erlebnis­fähigkeit des Mannes weiterhin vor allem an seine körperliche Ausstattung und deren als Potenz gefeiertes phallisches Leistungs­vermögen gebunden ist. Der bekannte Sexual­wissenschaftler Volkmar Sigusch nennt das «Prothesen­sexualität», in der der Geschlechts­akt das bleibt, was er immer schon gewesen ist: blosser Vollzug. Die Sexual­partnerin ist und bleibt auch hier ein allein auf ihre Körper­öffnungen reduziertes Objekt, Beute des männlichen Zugriffs. Dazu passt es, dass Impotenz immer noch als ein Versagen gilt, das von vielen Männern den Frauen angelastet wird und nicht selten gegen­geschlechtliche Aggressionen auslöst.

Missbrauchen Teile schwuler Männer ihre Macht und ihren Status jüngeren Männern gegenüber in ähnlicher Form, wie heterosexuelle Männer es mit Frauen tun? Oder gibt es Unterschiede?

Auch schwule Männer sind selbst­verständlich nicht alle und nicht per se bessere Menschen. Auch hier kommen Missbrauch und Frauen­abwertung vor, wenn auch in der Regel sicher nicht im gleichen Umfang und in der gleichen Ausprägung wie bei hetero­sexuellen Männern. Man muss die mehr oder weniger stark erfahrenen Demütigungen, die Marginalisierungen, Ausgrenzungen oder gar Gewalt und Verfolgung in einem gesellschaftlich eher homophoben Klima und bei einer damit verbundenen Einstufung von Schwulen auf der untersten Stufe der Binnen­hierarchie der gesamten männlichen Genus­gruppe berücksichtigen. Daher ist bei Schwulen grundsätzlich eher eine höhere Sensibilität gegenüber geschlechts­bezogener Unter­drückung anzunehmen.

Das lässt sich auch an dem bekannten Phänomen ablesen, dass sich viele schwule Männer sehr gut mit Frauen verstehen und umgekehrt. In erster Linie liegt das an der Abwesenheit von sexueller Attraktivität. Am Fehlen der bei hetero­normativen Männern strukturell tief verankerten Ambivalenzen und an der fehlenden Abwehr gegenüber Frauen und Weiblichkeit und der damit einhergehenden Abhängigkeits­ängste.

Prostitution macht mich ratlos. Zum einen, weil ich sicher bin, dass es keine Auflösung des Patriarchats geben kann, solange ein Geschlecht die Körper des anderen kaufen kann (schwule sich prostituierende Männer seien mitgemeint). Zum anderen gibt es bei jedem gut gemeinten politischen Vorstoss Expertinnen und Sexarbeiterinnen, die auf ihrem Recht der Selbst­bestimmung bestehen und anmerken, dass Verbote die Probleme nur verlagern.

Ich halte es für unmöglich, hier eine klare Position zu beziehen. Aus der männlichen «Bedarfs»-Perspektive drückt sich in der Prostitution unbewusst die fast unveränderte klassische Aufspaltung des Frauen­bildes in Mutter und Hure aus, die eine heilig und sexuell unberührbar, die andere sexuell anrüchig und erniedrigt. Und damit zeigt sich, wie Freud es einmal treffend beschrieben hat, die weitgehende Unfähigkeit von Männern, Zärtlichkeit und Sinnlichkeit in einer Liebes­beziehung zusammen­zubringen. Das weitgehend unveränderte Ausmass der männlichen Gier nach Prostitution und Pornografie belegt eindrücklich die zähe Kontinuität der hierarchischen dualen Geschlechter­verhältnisse.

Solange diese Struktur nicht grundlegend geändert ist, wird diese Gier nicht einfach aufzuhalten oder staatlich zu kontrollieren sein. Daher sind im Umgang mit der Prostitution Verbote oder Straf­androhungen gegen die Freier hoch problematisch. Gemäss einer Reihe von validen Einschätzungen drängen sie die Prostitution wieder stärker in den unkontrollierbaren Unter­grund und fördern den mit ihr verbundenen Menschen­handel eher, als ihn wirkungsvoll zu bekämpfen. Eine mit generellen Verbots­forderungen einhergehende pauschale Diffamierung aller Sexarbeiterinnen per se als Zwangs­prostituierte, als versklavte und erniedrigte Opfer von Zuhälterei und Frauen­handel, wie es selbst bei einigen Feministinnen üblich geworden ist, halte ich nicht für hilfreich und tendenziell ein Stück weit selbst für frauenfeindlich.

Viele Frauen begreifen Abhängigkeit und Autonomie nicht als Gegensatz. Wie können Männer lernen, freiwillig Abhängigkeit von Frauen zu ertragen?

Auch bei Frauen gibt es Konflikte zwischen Autonomie und Abhängigkeit sowie massive Probleme im Umgang damit. Insbesondere dann, wenn sie gezwungen sind, sich bis zur Selbst­verleugnung als nicht autonom, als Objekt zu unterwerfen und sich mit ihrer angeblich mangelnden Subjektivität abzufinden. Aber für sie handelt es sich weniger um einen starren, sich ausschliessenden Gegensatz. Eine Vermittlung und wechselseitige Anerkennung zweier gleich­berechtigter und selbstbewusster Subjekte auf Augenhöhe scheint ihnen eher möglich. Für Jessica Benjamin handelt es sich hier sogar um ein allgemeines inter­subjektives Grund­bedürfnis nach einer solchen wechselseitigen Anerkennung.

Grundsätzlich ist auch für Männer eine Form der Autonomie­entwicklung denkbar, die auf der Basis einer gegen­seitigen Anerkennung der eigenen und der anderen Wünsche sowie des eigenen und des anderen Begehrens entstehen kann, ohne dem anderen – aus der Perspektive des Mannes, der Frau und ihrer gesamten Genus­gruppe – einen eigenen Subjekt­status abzusprechen und es zu einem Mängel­wesen zu erklären. Aber solange die Verhältnisse so sind, wie sie sind, und solange die Männer so gestrickt sind, wie sie es unter diesen Verhältnissen eben sind, ist der Hinweis auf prinzipielle Möglichkeiten müssig. Im Grunde gilt auch hier, dass die Lösung nur eine gesellschaftliche und letztlich eine politische in Richtung einer umfassenden Geschlechter­gerechtigkeit sein kann.

Strukturelle Veränderungen können aber nur greifen, wenn auch beim Einzelnen befreiende Erfahrungen einer Vereinbarkeit von Autonomie und Abhängigkeit zugelassen werden können. Zu den wichtigsten Voraus­setzungen dazu gehört die Bereitschaft, Ambivalenzen zuzulassen und sich mit der Heterogenität, Unabgeschlossenheit und Unvollständigkeit sowie mit der eigenen Subjektivität auseinander­zusetzen, anstatt sie – ähnlich wie beim Fremdenhass – als Bedrohung abzuwehren und als vermeintlich äussere Gefahr zu bekämpfen. In Anlehnung an den berühmten Aphorismus von Adorno – geliebt werde man einzig dort, wo man Schwäche zeigen dürfe, «ohne Stärke zu provozieren» – hiesse das für Männer vor allem, tief sitzende, vermeintlich von Frauen, Weiblichkeit und Sexualität ausgelöste existenzielle Ängste zuzulassen und gemeinsam zu bearbeiten.

Hat sich seit dem Erscheinen von «Feindbild Frau» Ihrer Kenntnis nach etwas im Macht­verhältnis zwischen Männern und Frauen geändert?

Wir haben in den letzten Jahr­zehnten ohne Zweifel wichtige gleichstellungs­politische Fortschritte erfahren, und selbst verkrustete Geschlechter­verhältnisse und starre Rollen­muster scheinen in Bewegung geraten zu sein. Trotzdem müssen wir nach wie vor eine Asymmetrie verzeichnen, eine Vorherrschaft des männlichen Geschlechts als soziales Struktur­moment, mit der eine grundlegende Abwehr des konstruierten Weiblichen einhergeht.

Das Männliche ist weiterhin eine in der Kultur und bis ins Unbewusste der Einzelnen tief verankerte Norm. Es gilt dem Weiblichen als überlegen und bestimmt die bei Männern wie bei Frauen gängigen Einstellungs­weisen und Wahrnehmungs­muster. Das zeigt sich unter anderem an jenen dem jeweiligen Zeitgeist folgenden Gegen­bewegungen gegen einen wirklichen Durchbruch in gleichstellungs­politischen Fragen. Ein Beispiel dafür sind die fanatischen Männer­rechtler oder Maskulisten. Ihre Klagen über die feministische Knechtung des grossartigen männlichen Wesens haben viele ideologische und personelle Über­schneidungen möglich gemacht, etwa mit der politischen Rechten oder dem christlichen Fundamentalismus. Die gemeinsame Schnitt­menge dieser unheiligen Allianzen ist der Kampf für eine Wieder­herstellung der von ihnen verloren geglaubten männlichen Souveränität als Herrscher der Welt, der Familien und über die Frauen.

Diese hartnäckigen Beharrungs­kräfte zeigen sich auch im meinungs­bildenden medialen und politischen Mainstream, der immer wieder gegen grundlegende geschlechter­politische Durchbrüche angeht, etwa mit seinen absurden Kampagnen gegen alles, was nur irgendwie mit «Gender-» anfängt oder zu tun hat: von «Gender­mainstreaming» über gender­gerechte Sprache bis hin zu Gender­studies. In ihren Augen alles nur eine Variante von «Gender-Unfug», «Gender-Wahn», «Gender-Mafia», kurzum: alles «Gender-Gaga».

Hier kommen Ungleichzeitigkeiten und Persistenzen hinsichtlich der Geschlechter­verhältnisse unter dem Vorzeichen männlicher Hegemonie zum Ausdruck. Diese zeigen sich aber auch an den Sexismus­debatten, die immer wiederkehren, letztlich aber ohne strukturelle Veränderungen versanden. Am stärksten werden sie deutlich an den weltweit fast unverändert dramatischen Statistiken von Gewalt gegen Frauen und erst recht an allen Erscheinungs­formen von sexualisierter und sexueller Gewalt. Das heisst: Es hat sich ohne Zweifel vieles geändert zwischen Männern und Frauen, aber grundsätzlich nicht viel an den Strukturen der Macht- und Gewalt­beziehungen zwischen ihnen.

Männer dominieren immer noch Politik und Wirtschaft. Sie kontrollieren den Körper der Frau. Sie kontrollieren nach wie vor das Kapital. Ist jede Hoffnung auf eine Veränderung der Macht­strukturen etwas, was an religiösen Glauben grenzt?

Nein, denn die Entwicklungen sind nicht einheitlich. Sie sind widersprüchlich und eben nicht für immer festgeschmiedet. Es sind ja bereits gleichstellungs­politische Fortschritte erreicht, die es auf verschiedenen Ebenen und im Bündnis mit anderen gesellschaftlichen und politischen Bewegungen zu verstärken und voranzubringen gilt. Mit am wichtigsten erscheint mir zurzeit der Kampf gegen jede Form von Sexismus, gegen rückwärts­gewandte Geschlechter- und Familien­ideologien sowie gegen alle unseligen Allianzen, deren Feldzug gegen «Genderismus» im Zentrum ihrer weltanschaulichen Agenda steht.

Wenn wir dagegen annehmen, die Hoffnung auf grundlegende und befreiende Transformationen der nach wie vor starren Grund­strukturen in den Geschlechter­verhältnissen an eine Art quasi­religiösen Glauben knüpfen zu müssen, haben wir keine Chance mehr.

Lieber Herr Professor Doktor Pohl, ich danke Ihnen für Ihre Zeit und Ihren Optimismus.

Illustration Alex Solman