Wo die reichen Kerle wohnen
Wenigverdiener auf dem Land, Wohlhabende in der Stadt? Ganz so einfach ist es nicht: drei Karten zur sozialen Schichtung der Schweiz.
Von Oliver Hümbelin, 22.07.2019
Die Räume werden kleiner, die Distanzen kürzer: Mobilität ist keineswegs mehr ein Privileg der Reichen, sondern für breite Schichten erschwinglich.
Und doch: Wo jemand wohnt, ist nach wie vor zentral. Der Wohnort definiert den Lebens- und Bezugsraum des Alltags, bestimmt den nachbarschaftlichen Austausch und entscheidet mit über den Zugang zu Arbeit und Wohlstand.
Wie aber ist dieser Wohlstand räumlich in der Schweiz verteilt? Diese Frage beleuchten wir im fünften Teil unserer Lange-Sicht-Serie über Ungleichheit.
Regionen und Schichten
Zunächst etwas trockene Theorie. Wie kann man Ungleichheit messen? Wir haben in der Serie bereits mehrere Herangehensweisen kennengelernt (die Links dazu finden Sie am Ende dieses Artikels).
Den Gini-Koeffizienten: Er verdichtet die Verteilung einer bestimmten Grösse, zum Beispiel des Einkommens, in eine einzige Zahl.
Die Beschreibung anhand der Top-Einkommen, also anhand des Einkommensanteils der obersten 10 oder 1 Prozent.
In diesem Beitrag lernen wir eine weitere Perspektive kennen: jene der Sozialstrukturanalyse mit Fokus auf sozialen Klassen und Schichten.
Diese Begriffe klingen etwas verstaubt, sind aber brandaktuell. Sie verweisen auf die unterschiedlichen Lebenslagen und Möglichkeiten von Individuen, an der Gesellschaft teilzuhaben. Nicht umsonst sprechen wir auch in der heutigen Alltagssprache noch von der Unter-, der Mittel- oder der Oberschicht.
Wie grenzt man diese Schichten jedoch voneinander ab?
Die gebräuchlichste Bezugsgrösse ist das Einkommen. Das Bundesamt für Statistik zählt zum Beispiel jene Leute zur Mittelschicht, die zwischen 70 und 150 Prozent des mittleren Einkommens erzielen. Wer weniger verdient, zählt zur Unterschicht, wer mehr verdient, zur Oberschicht.
Für unsere Zwecke definieren wir die drei Gruppen leicht anders. Anhand von Daten der Eidgenössischen Steuerverwaltung (ESTV) legen wir fest:
Wenigverdiener sind Steuerzahler mit weniger als 30’000 Franken Reineinkommen.
Zur Mittelschicht zählt, wer zwischen 30’000 und 75’000 Franken pro Jahr verdient.
Die Wohlhabenden sind Steuerzahler mit einem Reineinkommen von mehr als 75’000 Franken.
Gemäss dieser Definition zählen 15 Prozent der Schweizer Steuerzahler zu den Wenigverdienern, 40 Prozent zur Mittelschicht und 45 Prozent zu den Wohlhabenden. Diese Verteilung ist ein wenig schief – die obere Grenze ist etwas tief gezogen. Doch aufgrund der Datenlage und von Themen wie der Anonymisierung von Einzeldaten ist dies nicht anders möglich.
Wo also wohnen diese drei Schichten? Wo sind sie unter- und wo übervertreten?
Wenigverdiener
Wenden wir uns zuerst der untersten Schicht zu. Die folgende Grafik zeigt, in welchen Gemeinden sie über- (rot) beziehungsweise unterproportional (blau) vertreten ist.
Wo wohnen die Wenigverdiener? Als Erstes sticht das Nordost- gegenüber dem Südwest-Gefälle ins Auge: In Aargau, Zürich, Schaffhausen, St. Gallen und Thurgau kommt diese Schicht anteilsmässig sehr selten vor – dagegen finden sich viele rote Flächen im südlichen Graubünden, im Tessin, im Jura, aber auch in der Genferseeregion und in Bern. Besonders viele Gemeinden mit vielen Wenigverdienenden gibt es im Wallis. Von den 120 Gemeinden mit dem grössten Anteil der Unterschicht entfällt rund die Hälfte auf diesen Kanton.
Auch unter den 10 Gemeinden mit dem grössten Anteil Wenigverdiener stammen 6 aus dem Wallis. Schauen wir uns diese Gemeinden näher an:
Ländliche Prägung
Zehn Gemeinden mit dem höchsten Anteil Wenigverdiener
Gemeinde | Einwohner | Einkommen |
---|---|---|
Mathon (GR) | 52 | 31’280 |
Blitzingen (VS) | 74 | 33’914 |
Schelten (BE) | 38 | 28’976 |
Corippo (TI) | 13 | 26’961 |
Zwischbergen (VS) | 84 | 38’869 |
Leukerbad (VS) | 1475 | 28’552 |
Finhaut (VS) | 445 | 37’388 |
Niederwald (VS) | 47 | 36’468 |
Presinge (GE) | 692 | 113’751 |
Eisten (VS) | 201 | 35’323 |
Quelle: ESTV. Einkommen = durchschnittliches Reineinkommen in Franken. |
Die Rangliste wird angeführt von der Gemeinde Mathon in Graubünden – ein 50-Seelen-Dorf mit überwiegend agrarwirtschaftlicher Beschäftigung. Auch in Blitzingen (VS), Schelten (BE) und Corippo (TI) ist der landwirtschaftliche Bereich stark vertreten. In der Rangliste gibt es jedoch auch Gemeinden mit vielen Beschäftigten im Dienstleistungsbereich wie etwa den Ferienort Leukerbad.
Fast alle der 10 Gemeinden sind als ländliche Gemeinden einzustufen mit eher tiefem Wohlstand: Das Durchschnittseinkommen liegt typischerweise unter 40’000 Franken. Eine Ausnahme bildet Presinge, ein Vorort von Genf. Hier ist das mittlere Einkommen sehr hoch. Daraus lässt sich ablesen, dass es in Presinge einige wenige sehr wohlhabende Steuerzahler gibt, während der grosse Rest der dortigen Bevölkerung schlecht verdient.
Mittelschicht
Wenden wir uns als Nächstes der Mittelschicht zu. Die dazugehörige Karte ist etwas stärker zersplittert als jene bei der Unterschicht, doch auch hier gibt es regionale Konzentrationen: primär im Mittelland und in Teilen Graubündens.
Von den 120 Gemeinden mit dem höchsten Anteil mittlerer Einkommen sind 25 in Bern und 15 in Graubünden. Solothurn, Aargau und Fribourg stellen ebenfalls sehr viele Mittelschichtgemeinden. Auffällig wenige Gemeinden mit mittleren Einkommen weist der Genferseebogen auf. Auch in der Region rund um den Zürichsee ist diese Schicht dünn gesät.
Was sind typische Mittelschichtgemeinden? Unten aufgelistet sind die 10 Gemeinden mit dem höchsten Anteil an Mittelklasse-Steuerhaushalten.
Klein und ausgeglichen
Zehn Gemeinden mit dem höchsten Mittelschicht-Anteil
Gemeinde | Einwohner | Einkommen |
---|---|---|
Ederswiler (JU) | 113 | 43'011 |
Bister (VS) | 31 | 34'442 |
Walliswil bei Niederbipp (BE) | 224 | 53'642 |
Kammersrohr (SO) | 33 | 100'944 |
Sarzens (VD) | 80 | 68'433 |
Lütschental (BE) | 219 | 43'873 |
Bargen (SH) | 291 | 52'011 |
Gelterfingen (BE) | 269 | 51'289 |
Rumendingen (BE) | 84 | 52'613 |
Prévondavaux (FR) | 70 | 56'170 |
Quelle: ESTV. Einkommen = durchschnittliches Reineinkommen in Franken. |
In sämtlichen 10 Gemeinden stellt die Mittelschicht über 50 Prozent der Bevölkerung – in Ederswiler (JU) ist der Anteil mit 59 Prozent am höchsten.
Was zeichnet diese Gemeinden aus? Wiederum sind alles ländliche, eher kleine Gemeinden mit eher tiefem Wohlstand – die durchschnittlichen Einkommen übersteigen kaum je 60’000 Franken –, aber auch eher tiefer Ungleichheit. Kammersrohr in Solothurn bildet diesbezüglich die Ausnahme: Im 33-Einwohner-Dorf liegt das mittlere Einkommen über 100’000 Franken.
Wohlhabende
Als Letztes richten wir unsere Aufmerksamkeit auf die Wohlhabenden. Aus der Karte wird gut ersichtlich, wo diese Schicht übermässig vertreten ist.
Die Wohlhabenden sind deutlich um die Wirtschaftszentren konzentriert. Rund um Zürich und Basel ist die Dichte sehr hoch, auch in Aargau und in Baselland sind viele Orte mit überproportional vielen Wohlhabenden.
Von den 120 Gemeinden mit dem höchsten Anteil an Wohlhabenden befinden sich aber am meisten im Kanton Waadt: 66 Gemeinden von dort schaffen es ins Ranking. Hauptgrund dafür ist der Wirtschaftsmotor in der Westschweiz. Er brummt rund um die Städte Genf und Lausanne und treibt die Einkommen entlang des Genfersees und bis in die Agglomerationen am Neuenburgersee nach oben. Niedriger sind die Einkommen im Alpenraum, im Mittelland, im Tessin und im Westschweizer Zipfel des Kantons Jura.
Wohlstandsnester
Zehn Gemeinden mit dem höchsten Anteil Wohlhabender
Gemeinde | Einwohner | Einkommen |
---|---|---|
Chavannes-des-Bois (VD) | 885 | 131’524 |
Bournens (VD) | 372 | 85’222 |
Uitikon (ZH) | 4112 | 147’988 |
Nusshof (BL) | 259 | 96’293 |
Aire-la-Ville (GE) | 1160 | 93’022 |
Crassier (VD) | 1187 | 108’256 |
Biel-Benken (BL) | 3408 | 113’273 |
Pfeffingen (BL) | 2362 | 104’085 |
Bettingen (BS) | 1158 | 143’702 |
Tannay (VD) | 1596 | 136’542 |
Quelle: ESTV. Einkommen = durchschnittliches Reineinkommen in Franken. |
Auffällig ist bei diesen Gemeinden der überdurchschnittliche Wohlstand: Die mittleren Reineinkommen liegen typischerweise über 100’000 Franken. Bei den meisten handelt es sich zudem um Agglomerationsgemeinden, in denen die Beschäftigung im tertiären Wirtschaftssektor wie zum Beispiel bei Banken, Versicherungen, Handel überwiegt. Die Ausnahmen bilden hier die ländlichen Gemeinden Bournens (VD) und Nusshof (BL). In diesen eher kleinen Gemeinden ist die Agrarwirtschaft weit verbreitet, und doch zählen jeweils zwei Drittel der Einwohner zu den Wohlhabenden.
Fazit
Alles in allem zeigen die Karten auf, dass sich der Wohlstand in der Schweiz um die Zentren der Metropolitanräume konzentriert. Die wirtschaftlichen Möglichkeiten in diesen Räumen spielen bei der Schichtzugehörigkeit also eine bedeutende Rolle: Wer in der Nähe eines Wirtschaftszentrums wohnt, hat grössere Chancen, zur Mittel- oder Oberschicht der Schweiz zu gehören.
Selbstverständlich ist ein Franken in Zürich aber nicht gleich einem Franken in Mathon im Kanton Graubünden: Hier kostet der Espresso rund 3 Franken, in Zürich gut und gerne 4.50 Franken. Neben den Löhnen sind auch die Preise für Konsumgüter und nicht zuletzt die Mieten und die Häuserpreise in den grossen Wirtschaftszentren der Schweiz höher. Solche Preiseffekte haben wir in der vorliegenden Analyse nicht berücksichtigt. Lassen wir uns deshalb nicht täuschen: Auch in den Metropolitanregionen gibt es Ungleichheiten.
Wie diese Ungleichheiten in den Wirtschaftszentren der Schweiz aussehen, werden wir in einem der weiteren Beiträge dieser Serie genauer beleuchten.
Sie stammen von der Eidgenössischen Steuerverwaltung (ESTV) und werden im Zuge der Steuerveranlagung von den Kantonen verdichtet nach Bern geschickt. Die Daten sind öffentlich nicht zugänglich.
Der Vorteil dieser Daten ist, dass sich damit Einkommensindikatoren bis auf die Gemeindeebene bilden lassen. Für Forscher nachteilig wirkt sich aus, dass Steuerdaten nicht für wissenschaftliche Zwecke erhoben werden und deswegen die theoretisch erforderlichen Konzepte nicht optimal abgebildet werden können.
Idealerweise möchte man das verfügbare Einkommen von Haushalten betrachten. Das sogenannte Reineinkommen der Steuersubjekte weicht in zweierlei Hinsicht vom Ideal ab. Erstens reichen manche Haushalte mehrere Steuererklärungen ein. Zweitens verzerren Abzüge die Messgrösse, und es fehlen Einkünfte aus nicht versteuerbaren Sozialleistungen. Hier ist dies allerdings nicht so tragisch. Wichtig ist, dass die Zahlen gesamtschweizerisch identisch gemessen wurden.
Oliver Hümbelin ist promovierter Sozialwissenschaftler. Er unterrichtet am Zentrum Soziale Sicherheit der Berner Fachhochschule. Im Rahmen zweier durch den Nationalfonds finanzierter Projekte forscht er über Ungleichheit, Armut und die Bedeutung des Wohlfahrtsstaates auf der Basis von Steuerdaten.
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