Sonderfall Europa
Kulturelle Gräben, soziale Spannungen, wirtschaftliche Ungleichheit: Wie
die Schweiz einst mit den Konflikten umging, die heute die EU umtreiben.
Ein Essay von Hansjörg Siegenthaler, 16.07.2019
Die EU erhält eine neue Kommissionspräsidentin, gewählt durch das neue EU-Parlament. Die Karten werden in Europa endlich auf den Tisch gelegt.
Stunde der Wahrheit. Welcher Wahrheit?
Wahr ist, dass uns die Rede von der «europäischen Wertegemeinschaft» in die Irre geführt hat. Kaum ein Wert, für den nicht irgendeiner der Gewählten einstehen würde. Gewiss, auch im Europaparlament dürfte sich in den kommenden Jahren niemand für Kannibalismus starkmachen. Aber sonst? Es gibt Sozialisten, libertäre Anarchisten, Apokalyptiker, chauvinistisch gestimmte Nationalisten, Kosmopoliten, Schöngeister und Spassmacher.
Wahr ist auch, dass selbst eine sehr reduktionistische Sicht dessen, was eine zweckmässige Ausgestaltung der Struktur eines politischen Systems ausmacht, nämlich seine Fähigkeit, legitime Entscheidungen allein dank weithin akzeptierten Spielregeln zu treffen, im neuen Europaparlament nicht von allen Akteuren geteilt wird. Eine starke Minderheit will Entscheidungskompetenzen der EU und ihrer Organe drastisch reduzieren.
So verfällt die EU zurzeit einem Prozess, den ich unter dem Titel «Dialektik des Konflikts» diskutieren möchte: einem Prozess, in dem explizit benannte Konflikte die Gefühlslage der Akteure beherrschen – mit dem Ergebnis, dass diese Akteure sich intensiv aufeinander beziehen und genau deshalb etwas hervorbringen, was ihnen gemeinsam gehört: einen Diskursraum. Einen Raum, in dem sie sich bewegen, argumentieren, intrigieren, paktieren, schliesslich die Geduld verlieren und genau deshalb nach Lösungen suchen.
Was wird aus der EU in einem Prozess des «dialektischen Konflikts»?
Ich gebe keine Prognose ab.
Stattdessen blicke ich auf die Geschichte des schweizerischen Bundesstaates zurück, der nach dem Sonderbundskrieg (1847) im Lauf von drei oder vier Jahrzehnten die Züge eines konfliktfähigen politischen Systems im Sinne Niklas Luhmanns, aber auch einer «Schicksals- und Solidargemeinschaft» gewann. Diese Geschichte lenkt unsere Aufmerksamkeit auf ein paar Dinge, die für die Zukunft der Europäischen Union relevant sein könnten.
Natürlich höre ich den naheliegenden Einwand: Die Eidgenossenschaft gab es seit dem Rütlischwur von 1291, ein europäisches Staatswesen, das den Namen verdient, gibt es auch heute noch nicht. Wie sollte man da im Rückblick auf die Geschichte des schweizerischen Bundesstaates auf Vorgänge stossen, die den Blick auf die heutigen Probleme der EU schärfen?
Auch die Schweiz von 1848 war jedoch von kultureller, sozialer und ökonomischer Heterogenität geprägt. Ein tiefer Graben trennte im Zeichen des Kulturkampfes die konfessionellen Lager. Wirtschaftliche Modernisierung brachte den Wachstumszentren bislang unbekannten Wohlstand. Aber weite Teile des Landes verharrten in den ärmlichen Verhältnissen einer traditionellen Agrargesellschaft. Nationale «Pisastudien», also die Rekrutenprüfungen, die ab 1875 durchgeführt wurden, brachten dramatische Unterschiede der kantonalen Bildungsniveaus ans Licht.
Trotz solcher Heterogenität hat sich der Bundesstaat gegen Ende des 19. Jahrhunderts gefestigt. Dieser historische Prozess sagt etwas aus über die künftigen Chancen einer Konsolidierung der EU – in Richtung einer Schicksalsgemeinschaft, vielleicht sogar einer Solidargemeinschaft.
Schicksalsgemeinschaft
Menschen werden zu einer Schicksalsgemeinschaft, wenn sie gemeinsamen äusseren Einflüssen unterstehen und ein Bewusstsein dafür entwickeln. Wie gelangen Menschen über die Grenzen von Regionen oder Staaten hinweg zu einem solchen Bewusstsein? Die äusseren Einflüsse leisten dies per se noch nicht.
Die innere Entwicklung der Schweiz war abhängig vom internationalen Kontext, in dem sie sich bewegte. Das Staatensystem Europas und der Welt befand sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts im Umbruch. Mit dem Zusammenschluss spätfeudalistischer Monarchien zum Deutschen Reich und mit der italienischen Einigung formierten sich neue, grossflächige Nationalstaaten. Diese Nationalstaaten verstanden sich als kulturell homogene Gebilde, für die eine «Nationalsprache» einen gemeinsamen Diskursraum anzubieten schien: einen Raum, in dem sich mediale Kommunikation und politische Auseinandersetzungen entfalteten.
Das bedeutete für die Schweiz eine doppelte Herausforderung: Die neuen Nationalismen machten die vielsprachige Schweiz zum Sonderfall, und die militärisch abgestützten Machtansprüche der umliegenden Länder bedrohten sie existenziell. Die Schweiz war dieser Herausforderung gewachsen. Sie akzeptierte die Rolle des Sonderfalls, und ihre Verfassungsrevision von 1874 bescherte ihr nicht zuletzt eine Bundesarmee mit entsprechender Zentralisierung von Ausrüstung und Führung.
Was verhalf ihr dazu, den Herausforderungen auf der Ebene der Ideologie und auf der Ebene politischer Organisation konstruktiv zu begegnen?
Ich halte für ausschlaggebend eine Debattenkultur, die über die regionalen und konfessionellen Gräben hinweg eine Verständigung auf gemeinsame Perspektiven erleichterte. Eine Verständigung nicht zuletzt auf die Überzeugung, man gehöre zu einer Schicksalsgemeinschaft.
Dass eine solche Verständigung Erfolg hatte, bleibt aber erklärungsbedürftig. Wie so oft in der Interpretation historischer Vorgänge gelangt man auch hier kaum an Ursachen heran, höchstens an Manifestationen dessen, was für das Denken und Handeln der Menschen wichtig war. Einer dieser Manifestationen begegnet man im Versuch der Schweizerinnen und Schweizer, sich eine gemeinsame Geschichte auszudenken und das eigene Staatswesen als Fels in der Brandung internationaler Querelen aufzufassen.
Entscheidend war dabei die Bereitschaft des liberaldemokratischen Lagers, sich auf das historische Selbstverständnis der katholisch-konservativen Kantone einzulassen. Und zum Beispiel mitzufeiern, wenn diese 1886 anlässlich einer grossen 500-Jahr-Feier zur Schlacht von Sempach die Bilder auf die Bühne brachten, die man sich vom Sieg eines kleinen Bauernvolkes über den mächtigen Gegner Habsburg entworfen hatte.
In solcher Inszenierung fand der Gedanke der Schicksalsgemeinschaft erlebbaren Ausdruck: Berner Protestanten begeisterten sich über den tapferen Arnold Winkelried, der seinen Kampfgefährten eine Gasse bahnte durch die Phalanx gegnerischer Langspiesse, indem er sich die blanken Eisen tief in seine Brust presste. Diesen Winkelried aus katholischen Landen machten sie zum Helden einer neuen Schweiz und seine damaligen Gegner im Grunde zum gemeinsamen Landesfeind, der alle gleichermassen bedrohte, die noch 1847 gegeneinander Krieg geführt hatten.
Heute wächst der Druck auf die Staaten der Europäischen Union, den globalen Migrationsbewegungen, der weltweiten Präsenz Chinas, den schwer berechenbaren Ambitionen Russlands und den isolationistischen Neigungen der USA gemeinsam zu begegnen. Während sich die Europäer während gut zweier Jahrzehnte der Hoffnung hingeben durften, es setze sich weltweit das durch, was man als rule-based order zu entwerfen und zu festigen begann, werden sie nun sehr unsanft daran erinnert, dass im Konfliktfall nur solche Akteure Interessen durchsetzen können, die über Entzugsmacht (Niklas Luhmann) verfügen: über die Möglichkeit also, ihren Kontrahenten zu verweigern, was diese für eine gedeihliche Entwicklung brauchen.
Durchaus möglich, dass auch ausgekochte Nationalisten dereinst zum Schluss kommen, es falle der EU leichter als dem Einzelstaat, solche Entzugsmacht zu entfalten. Gewiss gelangen damit die Bürgerinnen und Bürger allein dadurch noch nicht zur Überzeugung, es stehe die EU als Schicksalsgemeinschaft einer Welt von Feinden gegenüber. Aber die Argumente jener Akteure, die gemeinsamer Politik das Wort reden, gewinnen an Überzeugungskraft. Und über kurz oder lang werden sie in weiten Kreisen der europäischen Bevölkerung Resonanz finden.
Solidargemeinschaft
Wichtiger noch als der internationale Kontext waren für die Konsolidierung des schweizerischen Bundesstaates Auseinandersetzungen um die innere Ordnung, um die Verfassung, um das Wirtschaftsrecht und um die Grundlagen dessen, was sich seither zum Sozialstaat entwickelt hat. Der Bundesstaat gewann auch deshalb an Handlungsfähigkeit, weil man anfing, mehr von ihm zu erwarten und zu verlangen. Es änderte sich das Bild, das man sich von den Aufgaben des Staates machte.
Weshalb änderte es sich? In den Sechzigerjahren des 19. Jahrhunderts entfaltete sich in einigen Kantonen die «demokratische Bewegung», in der sich nicht nur das Begehren nach Stärkung direktdemokratischer Elemente politischer Willensbildung manifestierte, sondern auch ein Staatsverständnis, das der liberalen Ära der Vorperiode ein Ende setzte und dem Staat eine neue Rolle als Produzent öffentlicher Güter zuwies.
Die Demokraten erteilten dem Staat die doppelte Aufgabe, das öffentliche Schulwesen zu stärken und Kredit für breitere Schichten der Bevölkerung, vor allem für Landwirtschaft und Gewerbe, leichter zugänglich zu machen. Partizipation aller Menschen an den Segnungen gesellschaftlicher Modernisierung setzte sich als Zielvorstellung in vielen Köpfen fest.
Diese Zielvorstellung brachte sich in der Folge auch auf Bundesebene zur Geltung, besonders augenfällig im Fabrikgesetz von 1877, das tief in die Organisation der Arbeitswelt eingriff, indem es den Normalarbeitstag auf 11 Stunden begrenzte, Nacht- und Sonntagsarbeit sowie die Beschäftigung von Kindern unter 14 Jahren und von Frauen einige Wochen vor und nach der Niederkunft verbot. Und es blieb keineswegs allein bei Regulierungen, auch Umverteilung wurde betrieben. Der zunehmende Agrarprotektionismus belastete die Wachstumszentren, griff aber den Bauern unter die Arme.
Die Dialektik des Konflikts kam dabei machtvoll zur Wirkung: Das liberale Wirtschaftsbürgertum war keineswegs gesinnt, den Etatisten das Feld politischer Meinungsbildung zu überlassen. Schon 1870 kam es zur Gründung eines Schweizerischen Handels- und Industrievereins, der sich das Ziel setzte, die Interessen bestimmter Branchen und Wirtschaftsregionen zu bündeln und auf Bundesebene zur Geltung zu bringen – dies keineswegs in der Absicht, den Einfluss des Bundesstaates zu vergrössern. Doch die erfolgreichen Bemühungen um neue, auf Dauer gestellte Präsenz partikulärer Interessen auf Bundesebene leisteten einen kaum zu überschätzenden Beitrag zum Zusammenhalt des Gesamtstaates. Sie brachten zu Bewusstsein, dass die Musik in Bern spielte und nicht in Trogen oder Chur.
Könnte es sein, dass sich in naher Zukunft auch in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ein vergleichbarer Wandel des Staatsverständnisses anbahnt, der schliesslich der Konsolidierung der EU zugutekäme?
Im Lauf ihrer Entstehung hat sich die EU dem Gedanken solidarischer Mitwirkung der Gemeinschaft an der wirtschaftlichen Entwicklung ihrer Mitgliedsstaaten durchaus geöffnet. Ein Kohäsionsfonds diente und dient ausdrücklich dem Zweck, ökonomisch benachteiligte Regionen zu fördern. Nicht weniger als ein Drittel des EU-Haushaltes fliesst in diesen Fonds: Im Rahmen dessen, was die Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft an Mitteln zubilligen, praktiziert diese mithin tatkräftige Solidarität.
Nur belaufen sich diese Mittel heute gerade einmal auf ein Prozent der Summe des Volkseinkommens aller Mitgliedsstaaten; mit grosser Kelle wird da nicht angerichtet. Solche Zurückhaltung hat zwei Gründe. Die Anhänger des klassischen Nationalstaates sträuben sich gegen eine fiskalische Stärkung der EU, und für überzeugte Liberale geht es darum, etatistischen Versuchungen zu widerstehen. So überliess man den Ausbau der Infrastruktur weitgehend den einzelnen Staaten, allenfalls den Chinesen.
Doch kann sich dies in nicht allzu ferner Zukunft ändern. Im Lager der Nationalisten entfalten euroskeptische Rechtspopulisten grossen Einfluss mit einem Programm, das im Grunde eine Europäisierung ihrer Anliegen betreibt und das Europaparlament zur Bühne macht, auf der sich durchsetzen muss, wer Einfluss nehmen will auf die Zukunft Europas.
Gleichzeitig äussert sich die Kritik an der zunehmenden Oligarchisierung der Wirtschaft in einer die nationalen Grenzen sprengenden medialen Öffentlichkeit so deutlich, dass sie auch die Debatten des Europaparlaments beeindrucken wird. Grundfragen kapitalistischer Wirtschaftsordnung stellen sich unabhängig vom nationalstaatlichen Kontext. Also verlangen sie auch nach Antworten über die Grenzen des Nationalstaates hinweg. Gleiches gilt für Probleme der Ökologie oder der Migration. Dass sie nicht im nationalen Alleingang bewältigt werden können, ist heute bereits Common Sense.
Jetzt darf man auf die Wirkung dessen zählen, was ich als Dialektik des Konflikts schon angesprochen habe: Je ernsthafter die künftigen Auseinandersetzungen im Europaparlament um die angesprochenen Probleme sein werden, umso stärker wird auch die Neigung der Leute in Erfurt oder Neapel, auf die Auseinandersetzungen zu hören und Hoffnungen zu setzen in Problemlösungen, die man in Brüssel entwirft und erstreitet.
Nein, in Europa müssen nicht alle die gleichen Werte teilen. Die Grünen, Konservativen, Populisten, Sozialdemokraten und Liberalen sollen sich in Brüssel und Strassburg ruhig zanken. Doch wenn dies europaweit mediales Interesse findet, wenn die Menschen aller Mitgliedsstaaten erfahren, dass diese Auseinandersetzungen ihr Leben entscheidend prägen – dann können die Länder der Europäischen Union irgendwann zusammenwachsen.
So, wie auch die Schweiz vor über hundert Jahren langsam zusammenwuchs.
Hansjörg Siegenthaler ist Wirtschaftshistoriker. Er war von 1970 bis 1998 Professor für Neuere Wirtschaftsgeschichte und spezielle Gebiete der Volkswirtschaftslehre an der Universität Zürich. Siegenthaler veröffentlichte zahlreiche Aufsätze. Eine Sammlung erschien letztes Jahr im Chronos-Verlag: «Lernen als Gegenstand der Geschichts- und Wirtschaftswissenschaften».