Am Gericht

Der freundliche Menschenhändler

Verurteilungen wegen Menschenhandel gibt es in der Schweiz nur wenige – und noch viel seltener sind geständige Täter. Der Mittfünfziger, der sich in Zürich vor Gericht verantworten muss, gehört zu diesen Ausnahmen.

Von Brigitte Hürlimann, 10.07.2019

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Ort: Bezirksgericht Zürich
Zeit: 19. Juni 2019, 8.15 Uhr
Fall-Nr.: DG190155
Thema: Mehrfacher Menschenhandel

Der Mann ist 54 Jahre alt und stammt aus dem Nordosten Ungarns. Er ist vor wenigen Jahren in die Schweiz eingereist, um hier zu arbeiten; in der Hoffnung auf einen besseren Verdienst als in der Heimat und in der Absicht, seine Finanzen in Ordnung zu bringen.

Er findet eine Stelle im Baugewerbe und träumt davon, in der Schweiz ein ungarisches Restaurant zu eröffnen. Die Vorbereitungen dafür packt er zügig an, doch vorderhand betreibt er noch ein kleines Puff im Kanton Aargau, ganz legal. Vier Frauen arbeiten für ihn, er knüpft ihnen 45 Prozent der Einnahmen ab – für seine Aufwendungen als Betreiber und Organisator, wie er sagt, für die Werbebemühungen oder für das Personal an der Réception.

So weit, so unauffällig. Doch dann rutscht er in den Menschenhandel ab.

Er ist Teil einer Organisation, die mit Ungarinnen handelt: Frauen aus desolaten wirtschaftlichen und privaten Verhältnissen, alle aus der gleichen Umgebung. Sie verfügen nur über eine spärliche Schulbildung, haben keinen Beruf gelernt, keine Arbeitsstelle, manche von ihnen kaum ein Dach über dem Kopf. Ihre Partner sind im Gefängnis, sie müssen sich allein um die Kinder kümmern, falls sie ihnen von den Behörden nicht entzogen worden sind. Vier der Frauen sind keine 20 Jahre alt, als sie in die Schweiz verfrachtet werden. Einige haben sich schon in Ungarn prostituiert.

Staatsanwältin Andrea Senn drückt es so aus: «Alle Frauen waren aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen, als Prostituierte (weiter-) zu arbeiten, mangels anderweitiger Möglichkeit, ein für sich und ihre Angehörigen ausreichendes Einkommen zu generieren. Lediglich aufgrund der ausweglosen wirtschaftlichen und sozialen Lage in Ungarn waren sie bereit, in einem fremden Land, dessen Sprache sie nicht mächtig waren und dessen Gepflogenheiten sie nicht kannten, (…) als Prostituierte zu arbeiten.»

Dem beschuldigten 54-Jährigen sei die Zwangslage der Frauen bekannt gewesen, so die Staatsanwältin. Er habe in Kauf genommen, dass deren Notlage ausgenützt werde.

Der Bauarbeiter und Bordellbetreiber ist nicht die treibende Kraft in der Menschenhändler­bande; nicht der Anführer, kein Sadist und kein Gewalttäter. Aber er macht mit. Er hilft dabei, die acht Landsfrauen in die Schweiz zu verfrachten, in Mietwohnungen in Wallisellen und Glattbrugg unterzubringen, wo sie sich prostituieren. Die Männer bestimmen die Termine mit den Freiern, die zu erbringenden Dienstleistungen, die Konditionen. Sie nehmen den Frauen sämtliche Einnahmen ab und geben ihnen später bloss 40 Prozent zurück. Der grösste Teil der übrigen 60 Prozent geht an den Bandenchef, etwa 10 bis 15 Prozent sackt der Mittfünfziger ein.

Kein Deal ohne Geständnis

Das alles gibt er vor dem Bezirksgericht Zürich zu, in knappen Worten zwar, aber ohne jegliche Ausflüchte, Schuldzuweisungen oder Beschönigungen, ohne Selbstmitleid. Eine Seltenheit!

Der Menschenhändler hat sich auf ein abgekürztes Verfahren eingelassen, das heisst, er hat mit der Staatsanwältin einen Deal geschlossen, der vom Gericht genehmigt werden muss. Ohne Geständnis gibt es aber keinen Deal. Das Bezirksgericht überprüft das Geständnis und die weiteren Voraussetzungen für ein abgekürztes Verfahren – und es erhebt anschliessend den Urteilsvorschlag zum Verdikt: Der Ungar wird des mehrfachen Menschenhandels schuldig gesprochen und zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 14 Monaten sowie einer bedingten Geldstrafe von 60 Tagessätzen à 90 Franken verurteilt.

Das heisst, er kann das Gefängnis nach dem Prozess verlassen. Über fünf Monate hat der Mann in Untersuchungshaft und im vorzeitigen Strafvollzug verbracht. Er wird in Handschellen und in Begleitung von zwei Polizisten in den Gerichtssaal geführt, direkt aus dem Gefängnis. Die Uniformierten bleiben während des Prozesses im Saal. Sie sitzen direkt hinter ihm, auf einer Holzbank, und sie lassen ihn nicht aus den Augen.

Nicht, dass er Anlass zur Besorgnis liefern würde, einmal abgesehen von den Straftaten, für die er verurteilt wird – und für die er geradesteht. Der Menschenhändler ist nicht nur geständig, was schon sehr ungewöhnlich ist. Er bedankt sich auch höflich bei der Polizei und der Staatsanwältin fürs faire Verfahren. Und er verzichtet darauf, die Opfer schlechtzumachen, ihnen eine Mitschuld in die Schuhe zu schieben oder unlautere Absichten nachzusagen: wie etwa Rache, finanzielle Hilfe, ein Aufenthaltsrecht für die Schweiz. Wiederum: höchst ungewöhnlich.

Ein freundlicher Mensch also, zumindest vor dem dreiköpfigen Gerichtsgremium. Allerdings fällt auf, dass er immer dann wortkarg und begriffsstutzig wird, wenn sich der vorsitzende Richter, Roland Heimann, danach erkundigt, wofür genau den Frauen die 60 Prozent ihres hart verdienten Erlöses weggenommen worden seien – für welche Gegenleistungen. Da laviert der Mann herum, zählt auf, was er geleistet habe (Chauffeurdienste), und betont, er habe stets ein gutes Verhältnis zu den Frauen gehabt; im Aargauer Klub und in den Absteigen von Wallisellen und Glattbrugg.

«Sie waren Teil einer Organisation, die die Frauen ausbeutete», gibt Roland Heimann dem geständigen Menschenhändler mit auf den Weg. Die Ungarinnen hätten nur einen kleinen Teil des Lohnes behalten dürfen und unter Umständen gearbeitet, die unwürdig und nicht nachvollziehbar seien. «Sie wussten, was läuft – dass Menschen wie Vieh gehandelt wurden.»

Der Menschenhändler schweigt und senkt den Kopf.

Ob er weiss, wie selten es in der Schweiz zu Verurteilungen wegen Menschenhandel kommt? 2017 waren es gerade einmal fünf Schuldsprüche, in den Jahren zuvor zwischen einem halben Dutzend und einem guten Dutzend. Auffallend zahlreicher sind hingegen die Beratungen der kantonal anerkannten Opferhilfestellen: Diese Statistik weist für 2017 164 Beratungen auf. Die Polizei wiederum erfasste im gleichen Jahr 125 Straftaten wegen Menschenhandel. Aber wie gesagt: Der hieb- und stichfeste Nachweis für dieses Verbrechen gelingt nur selten, darum die wenigen Verurteilungen.

Wie geht die Schweiz gegen Zwangsarbeit vor?

Was im Übrigen nicht heissen soll, dass es sich um eine irrelevante Kriminalitätssparte handelt.

Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) geht davon aus, dass weltweit rund 21 Millionen Menschen Zwangsarbeit verrichten – im Sexgewerbe oder in anderen Branchen, etwa in der Landwirtschaft, der Pflege, im Bau-, Reinigungs- oder Gastgewerbe. Auch im Zusammenhang mit Organspenden wird mit Menschen gehandelt. Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) schreibt auf seiner Website: «Neben dem Drogen- und Waffenhandel ist der Menschenhandel ein lukrativer Geschäftsbereich der organisierten Kriminalität, schätzungsweise beträgt der Umsatz jährlich weltweit 32 Milliarden US-Dollar.»

NGOs und Beratungsstellen im In- und Ausland betonen jedoch, dass solche Zahlen mit Vorsicht aufzunehmen seien, da sie auf groben Schätzungen basierten – und dass mit einer hohen Dunkelziffer zu rechnen sei. Sie weisen seit Jahren darauf hin, dass es spezialisierte Kräfte bei den Strafverfolgern braucht, will man den Menschenhändlern auf die Schliche kommen.

In der Schweiz gibt es nach Angaben der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ) in 18 Kantonen runde Tische zum Thema Menschenhandel. Dort arbeiten Strafverfolger, Migrationsämter, Arbeitsmarkt­behörden, Sozialämter, Opferhilfestellen, Gleichstellungs­büros und andere Organisationen zusammen: «Mit dem Ziel, den Opferschutz zu verbessern und die Täter vermehrt zur Verantwortung zu ziehen», so die FIZ.

Illustration Friederike Hantel