Für uns das Recht – für Flüchtlinge das Lager
Die Hassreaktionen auf Kapitänin Rackete und die Enthüllungen über Internierungslager an der US-Grenze zeugen vom Niedergang moralischer Grundstandards.
Von Daniel Binswanger, 06.07.2019
Es ist wieder ein Sommer der Temperaturrekorde, es gibt nur noch Sommer der Temperaturrekorde, die immer neuen Höchstwerte sind normalisiert, der Ausnahmezustand wird permanent. Zugleich durchläuft die Weltpolitik eine dramatische Beschleunigung und eine verblüffende Konvergenz. Was vor ein paar Monaten noch eine Ausnahmeerscheinung gewesen ist, wird plötzlich in ganz Europa zum Normalfall, was vor kurzem noch als Alleingang der USA erschien, wird international zur neuen Norm. Die Dinge akzelerieren sich und laufen auf einen gemeinsamen Fluchtpunkt zu. Einen Fluchtpunkt, an dem es sehr, sehr ungemütlich werden könnte.
Man soll sich nicht selber zitieren, aber der vorangehende Absatz ist nicht nur eine Beschreibung der heutigen Lage, sondern ein Selbstzitat. Es leitete einen Kommentar zur humanitären Krise im Mittelmeer und an der Südgrenze der USA ein, den ich vor einem Jahr geschrieben habe – damals, als Präsident Trump zum ersten Mal laut darüber nachdachte, Migranten keinerlei Grundrechtsschutz und keinerlei rechtsstaatliche Garantien mehr zu gewähren. Damals, als zum ersten Mal einem privaten Rettungsschiff die Einfahrt in einen italienischen Hafen verweigert wurde und das Ende der privaten Seenotrettung im Mittelmeer mit aller Konsequenz herbeigeführt werden sollte. Und heute? Haben sich die Dinge weiter akzeleriert.
Die europäisch-amerikanische Konvergenz verschärft sich – und legt an Tempo zu. Auch wenn man auf den ersten Blick den Eindruck haben könnte, dass wir in der fatalen Wiederkehr des immer Gleichen gefangen sind – der gleichen Flüchtlingskrisen, des gleichen Politikversagens, der gleichen populistischen Hassdiskurse –, beschleunigt sich der Zerfall von Rechtsbewusstsein und ethischen Standards in den westlichen Demokratien mit zunehmender Schnelligkeit.
Wie aus einer menschenverachtenden Diktatur
Der Report der Homeland-Security-Inspektion, der diese Woche in Washington publik geworden ist, belegt eindrücklich die fortschreitende Zerstörung der Wertebasis der amerikanischen Demokratie. Kleine Kinder, die wochenlang in Maschendrahtkäfigen gehalten werden, ohne die Möglichkeit, sich zu waschen, ohne Seife oder Zahnhygiene, ohne Kleider zum Wechseln, ohne warme Mahlzeiten, praktisch ohne medizinische Versorgung? Erwachsene, die in Zellen gesperrt werden, die so überbelegt sind, dass man nur noch stehen kann? Es sind Bilder, wie man sie in einer finsteren und menschenverachtenden Diktatur erwarten würde, aber nicht in einem der entwickeltsten Rechtsstaaten der Welt. Sie stammen nicht vom Schlachtfeld eines fernen, dreckigen Krieges, sondern aus dem Herzen des amerikanischen homeland.
Carola Rackete, die Kapitänin der Sea-Watch 3, die das Einlaufen in den Hafen von Lampedusa mit einem halsbrecherischen Manöver erzwingen musste, weil sie sich weigerte, die seit Wochen auf ihrem Schiff ausharrenden Flüchtlinge der libyschen Küstenwache zu übergeben, da kein einziges Schengen-Land – kein einziges, auch nicht die Schweiz – sich bereit erklärte, die Schiffbrüchigen in ein Asylverfahren aufzunehmen? Die nach ihrer Heldentat an Land von einem Hassmob empfangen, vom Vizepremierminister eines europäischen Landes mit Beschimpfungen überzogen, von den Sicherheitsbehörden abgeführt wird? Man würde solche Dinge vielleicht in einem autoritär regierten Entwicklungsland für möglich halten, aber nicht in der Europäischen Union.
Doch diese Grundeinschätzung muss revidiert werden. Es zeigt sich immer deutlicher, mit welchem Machtdispositiv die USA und die europäischen Staaten auf das Migrationsproblem reagieren: dem Lager. Trump hat an der US-Südgrenze Internierungslager entstehen lassen, die nichts mehr mit Rechtsstaatlichkeit zu tun haben. Die EU verfolgt diese Politik noch viel konsequenter, indem sie ihr Lagersystem nicht auf ihrem eigenen Territorium erbaut, sondern von libyschen Bürgerkriegsmilizen betreiben lässt. Sowohl die USA als auch Europa haben gezielt Räume der Rechtlosigkeit geschaffen, um Flüchtlinge von ihrem Territorium fernzuhalten. Das deutsche Aussenministerium beschrieb die Lager in Libyen – die Orte, wohin die EU ganz offiziell heute schiffbrüchige Flüchtlinge verbringen lässt – vor noch nicht langer Zeit als «KZ-ähnlich».
Das Lager als Unort der Rechtlosigkeit
Der italienische Philosoph Giorgio Agamben hat vor über zwanzig Jahren «Homo sacer» publiziert, ein apokalyptisches Werk über das Wesen der politischen Macht in unserer Epoche. Was ist gemäss Agamben das heutige Paradigma der politischen Souveränität? Das Lager. Es ist der Unort der Rechtlosigkeit, der immer dann zum bestimmenden Machtdispositiv wird, wenn der Ausnahmezustand permanent, wenn die normale Funktionsweise des liberalen Rechtsstaates dauerhaft ausgehebelt wird. Man muss den geschichtsphilosophischen Pessimismus von Agamben nicht mitmachen, aber mit seiner Theorie vom Lager als Grundparadigma unserer Epoche scheint er in zunehmendem Masse recht zu bekommen.
Das Lager zerstört den liberalen Rechtsstaat gemäss Agamben nicht dadurch, dass es ihn verdrängt, eine neue Rechtsauffassung an seine Stelle setzt, seine Grundsätze zurückweist. Im Gegenteil: Die Nazis haben die Weimarer Verfassung nie ausser Kraft gesetzt, sondern auf der Basis von Artikel 48 mit Notverordnungen regiert. Es war die absolute Barbarei: legal, verfassungskonfom.
In ausgezeichnetem Masse galt das vom Konzentrationslagersystem, dem Rückgrat der Struktur der Naziherrschaft, das den deutschen Rechtsstaat nicht infrage stellte, sondern ein Paralleluniversum und damit einen Raum der Rechtlosigkeit erzeugte. Gegen die «Schutzhaft» gab es keine Rechtsmittel, weil alles auf dem Notverordnungsweg geregelt war.
Auch die entsetzlichen Verhältnisse in amerikanischen Internierungslagern (obschon die Zustände nicht mit einem Nazi-Konzentrationslager gleichgesetzt werden können) entwickeln sich in einer juristischen Grauzone. Sie sind zwar nicht gesetzeskonform, aber sie wurden auch nicht intendiert, sind die Frucht einer «Ausnahmesituation», das «blosse» Ergebnis von Unterkapazitäten. Sie sind kein Rechtszustand, sondern ein «technisches» Provisorium. Sie wurden nie beschlossen, sie sind jetzt einfach da. Dass es ein Leichtes gewesen wäre, rechtzeitig die nötigen Aufnahmekapazitäten zu schaffen, dass die USA in den Nullerjahren schon viel massivere «Flüchtlingskrisen» bewältigt haben, spielt keine Rolle. Wie soll ein internierter südamerikanischer Flüchtling Rechtsmittel ergreifen gegen seine Misshandlung durch den amerikanischen Staat?
Praktisches Outsourcing
Noch viel absoluter ist die Rechtlosigkeit der Mittelmeerflüchtlinge. Die Schengen-Staaten haben die Tugenden des rechtlichen Outsourcings entdeckt. Sämtliche Rechtsgarantien werden für Flüchtlinge erst dann virulent, wenn sie einen Fuss auf europäisches Territorium setzen. Dies jedenfalls ist die Rechtsauffassung, die heute politisch favorisiert wird, obschon de facto auch das Seenotrecht schon weitgehende Garantien zum Schutz von Schiffbrüchigen umfasst – die allerdings immer irrelevanter werden, da Rettungsschiffe nicht mehr vor Ort sein dürfen. Wenn man Flüchtlinge ertrinken lässt, Seenotrettung verhindert, Häfen sperrt und Gerettete ausschliesslich nach Libyen bringt, kann die EU weiterhin ganz ungestört alle ihre Menschenrechtsgarantien hochhalten. Das von ihr mitfinanzierte System der Rechtlosigkeit befindet sich ja in Libyen. Es ist ein klassisches Lager-Paralleluniversum. Gerechtfertigt durch die «Flüchtlingskrise», den «Ausnahmezustand». Und weitgehend unsichtbar.
Warum wir an diesen Punkt gekommen sind? Es ist natürlich der politische Druck. Es ist die Tatsache, dass Menschenverachtung unglaublich zugkräftig geworden ist, bei den Trump-Wählern und in weiten Teilen der europäischen Wählerschaft. Es reicht, die Reaktionen auf die humanitäre Aktion von Carola Rackete zu betrachten, um zu verstehen, welche Dynamik hier am Werk ist.
Nicht überraschenderweise berufen sich die Claqueure der Barbarei auf den Rechtsstaat. Es soll darum gehen, den Rechtsstaat zu schützen: für uns. Und das Lager zu legitimieren: für die Flüchtlinge. Es ist eine historisch gut erprobte Argumentationsstrategie. Natürlich stossen nun auch bei uns die erwartbaren Figuren mit missionarischem Eifer in dieses Horn. Das Argument ist aber auch in der sogenannten Mainstream-Presse angekommen.
Die westlichen Demokratien stehen heute an dem Punkt, an dem die Universalität der Menschenrechte von sehr starken politischen Kräften infrage gestellt wird. Das ist eine tödliche Bedrohung nicht nur für schutzbedürftige Menschen. Sondern für unsere Demokratien.
Illustration: Alex Solman