Was diese Woche wichtig war

Carola Rackete, EU-Posten-Pakete – und wie Harris die Stimmung drehte

Woche 27/2019 – das Kurzbriefing aus der Republik-Redaktion.

Von Andrea Arežina, Elia Blülle, Oliver Fuchs und Simon Schmid, 05.07.2019

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Staatschefs finden Kompromiss für die EU-Topposten

Darum geht es: Die deutsche Verteidigungs­ministerin Ursula von der Leyen soll Jean-Claude Juncker als Kommissionspräsidentin beerben. Auf diesen Kompromiss haben sich die Staats- und Regierungs­chefs der EU-Länder am Dienstag geeinigt. Den offiziellen Spitzen­kandidatinnen erteilten sie eine Abfuhr. Dem Entscheid waren wochenlange zähe Verhandlungen voraus­gegangen. Als neuer EU-Ratspräsident wurde der belgische Politiker Charles Michel gewählt, EU-Aussenbeauftragter soll der Spanier Josep Borrell werden.

Ursula von der Leyen, nominiert als EU-Kommissionspräsidentin, wird vom aktuellen Amtsinhaber Jean-Claude Juncker in Brüssel begrüsst. Olivier Hoslet/EPA/Keystone

Warum das wichtig ist: Besonders die Berufung von Ursula von der Leyen ist umstritten. Für sie sprechen ihre Mehrsprachigkeit und ihre Affinität zu Brüssel. Ihre Amtszeit als Verteidigungs­ministerin wird aber von mehreren Krisen und Affären überschattet. So geben etwa die hohen Kosten und die Intransparenz bei externen Beratern in ihrem Ministerium zu reden. Ausserdem sorgt der Entscheid im Europäischen Parlament für Ärger – sogar in der eigenen Parteien­familie, der EVP. Denn mit dem Vorschlag untergraben die Regierungen das Spitzenkandidaten­system. Das wurde erst gerade eingeführt, um den Wählerinnen mehr Mitsprache bei der Besetzung der EU-Posten zu geben. Seit der Europa­wahl wurde aber immer deutlicher, dass der offizielle EVP-Kandidat Manfred Weber keine Mehrheit finden würde. Auch gegen seinen sozial­demokratischen Rivalen Frans Timmermans sperrten sich viele Länder.

Was als Nächstes geschieht: Von der Leyen und Josep Borrell müssen am 16. Juli noch vom Europäischen Parlament gewählt werden. Dass von der Leyen eine Mehrheit bekommt, ist nicht sicher. Gut möglich, dass sie am Ende auf die Stimmen von rechts­konservativen Parteien aus Osteuropa angewiesen sein wird, wenn zu viele enttäuschte EVPler, Sozial­demokratinnen und Grüne ihr die Stimme verweigern. Scheitert sie, müssen die Staats- und Regierungschefs von neuem verhandeln.

Europäische Zentralbank bekommt neue Leitung

Darum geht es: Auch der Posten des Präsidenten der Europäischen Zentral­bank (EZB) wird neu besetzt. Mario Draghis Amtszeit endet im Oktober. Für seine Nachfolge haben die Staats- und Regierungschefs der EU diese Woche die Französin Christine Lagarde vorgeschlagen. Die 63-Jährige ist zurzeit Chefin des Internationalen Währungs­fonds (IWF) und war zuvor Finanz­ministerin von Frankreich. Sie wäre die erste Frau an der Spitze der Europäischen Zentralbank.

Warum das wichtig ist: Die Europäische Zentral­bank hat in der Eurokrise eine zentrale Rolle gespielt. Das Eingreifen von Mario Draghi («Wir werden alles Nötige tun, um den Euro zu retten») gilt als Wende­punkt in der Krise und markierte den Übergang zu einer expansiven Geldpolitik, bei der die EZB auch neue Massnahmen wie Negativ­zinsen und Wertpapier­käufe ergreift. Christine Lagarde hat diese Massnahmen als IWF-Chefin unterstützt. Ihr Wechsel zur EZB verspricht deshalb Kontinuität. Eine Abkehr von der bisherigen Geldpolitik hätte neue Finanzstabilitäts- und Konjunktur­risiken bedeuten können. Als weiterer Vorteil werden die politische Erfahrung und die Vernetzung von Lagarde gewertet. Als EZB-Chefin könnte sie die europäischen Regierungs­chefs davon überzeugen, dass diese ihrerseits grössere Anstrengungen zur wirtschaftlichen Erholung und weiteren Integration der Europäischen Währungs­union unter­nehmen müssen. Dies wäre wichtig, weil die EZB selbst mittlerweile kaum mehr Spielraum hat, um die Wirtschaft zu unterstützen.

Was als Nächstes geschieht: Die europäischen Staats- und Regierungs­chefs entscheiden an einer ihrer nächsten Sitzungen über Lagardes definitive Ernennung. Zuvor findet eine Konsultation mit dem EU-Parlament und dem EZB-Rat statt.

Bomben auf libysches Flüchtlingslager

Darum geht es: In der Nacht auf Mittwoch wurde ein Internierungslager im Osten der libyschen Hauptstadt Tripolis bombardiert, in dem rund 600 Flüchtende eingesperrt sind. Es war der bisher folgenschwerste Angriff im Kampf um Tripolis. Die libysche Uno-Mission berichtete, dass beim Luftangriff 44 Menschen ums Leben kamen und mehr als 130 verletzt wurden. Die international anerkannte libysche Regierung macht den abtrünnigen General Khalifa Haftar, der den Osten des Landes kontrolliert, für den Angriff verantwortlich. Der General wiederum bestreitet diesen Vorwurf.

Migranten durchsuchen die Trümmer des zerstörten Internierungslagers in Tripolis. EPA/Keystone

Warum das wichtig ist: Seit acht Jahren und dem Sturz des Diktators Muammar al-Ghadhafi herrscht in Libyen Anarchie. Die Einheiten des Generals Khalifa Haftar und die Regierungstruppen bekämpfen sich in einem blutigen Machtkampf um die Vorherrschaft Libyens. Im vergangenen April hat der General den Angriff auf die Hauptstadt Tripolis befohlen. Bei den Kämpfen wurden bisher mehr als 700 Menschen getötet. Rund 70’000 Menschen wurden vertrieben. Je länger, desto mehr entwickelt sich die Auseinander­setzung zu einem Stellvertreter­krieg: Der General wird von Saudi­arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Ägypten unterstützt, während sich Katar und die Türkei hinter die anerkannte Regierung stellen. Zudem nutzen Extremisten und der sogenannte Islamische Staat das Chaos aus und bauen ihren Einfluss im nord­afrikanischen Staat aus.

Was als Nächstes geschieht: Weil die Trump-Regierung eine gemeinsame Erklärung des Uno-Sicherheitsrats mit ihrem Veto blockierte, hat sich die internationale Gemeinschaft noch nicht offiziell zum Angriff geäussert. Der Uno-Sonder­gesandte für Libyen erklärte, dass der Luftangriff ein Kriegs­verbrechen darstellen könnte. Es wird wohl zu einer Untersuchung kommen, um festzustellen, wer für die Angriffe verantwortlich war. Zudem wird die Verschärfung des Konfliktes wohl dazu führen, dass in den nächsten Sommer­monaten noch mehr Migranten versuchen werden, über das Mittelmeer den Weg nach Europa zu finden.

Juristische Konsequenzen für die Sea-Watch-3-Kapitänin

Darum geht es: Die Kapitänin der Sea-Watch 3, Carola Rackete, ist vorerst auf freiem Fuss. Ein italienisches Gericht hat am Dienstag ihre vorläufige Freilassung angeordnet. Rackete hatte mit 40 Flüchtlingen an Bord 17 Tage lang vor der italienischen Insel Lampedusa ausgeharrt und auf eine Einfahrts­erlaubnis gewartet. Italiens Innen­minister Matteo Salvini beschimpfte die Kapitänin und betonte: «Niemand von denen geht an Land.» Den Eilantrag der Sea-Watch 3, ohne Genehmigung in Lampedusa einzulaufen, hatte der Europäische Gerichtshof für Menschen­rechte abgelehnt. In der Nacht auf Samstag hatte sich Rackete entschieden, trotzdem einzulaufen – und wurde daraufhin festgenommen.

Unterstützer und Aktivisten kämpfen gegen die Kriminalisierung von Kapitänin Carola Rackete. Christophe Petit Tesson/EPA/Keystone

Warum das wichtig ist: Die italienische Richterin begründete Racketes Freilassung folgender­massen: «Sie handelte, um die Geflüchteten in Sicherheit zu bringen.» Das internationale Seerechts­übereinkommen verpflichtet jeden Seemann und jede Seefrau, Schiff­brüchige zu retten. Für viele Fragen, die sich aktuell im Mittelmeer stellten, gebe das Seerecht aber keine ausreichenden Antworten, sagt Nele Matz-Lück, Professorin für Öffentliches Recht mit dem Schwer­punkt Seerecht. Darunter die Frage, wohin die geretteten Menschen gebracht werden dürfen. Die EU-Mitglieds­staaten haben es nicht geschafft, sich zu einigen, wie man die Geflüchteten innerhalb der EU verteilen könnte. Stattdessen unterstützen sie Libyen mit Geld und Schiffen, damit das Land eine Küsten­wache aufbauen kann. Rettet die libysche Küsten­wache Flüchtlinge aus dem Mittelmeer, bringt sie diese in Internierungs­lager, wie das UN-Flüchtlings­hilfswerk schreibt. Das, so Rackete, sei der Grund, wieso sie Flüchtlinge nicht habe nach Libyen bringen wollen.

Was als Nächstes geschieht: Am 9. Juli muss Rackete erneut vor Gericht erscheinen. In einem zweiten Verfahren geht es um Beihilfe zur illegalen Einwanderung. Die 40 Flüchtlinge könnten von den Ländern Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Finnland und Portugal aufgenommen werden. Laut Medien­berichten haben sich diese freiwillig dazu bereit erklärt. Es handelt sich dabei aber eher um eine Hauruck­übung, keine Dauerlösung.

Zum Schluss: Ab zum Verhör

Auf dem aufsteigenden Ast: Kamala Harris an der Debatte der Demokraten in Miami. Brynn Anderson/AP/Keystone

Klar, es ist noch früh. Bis zur nächsten US-Präsidentschafts­wahl sind es noch 487 Tage. Aber langsam kristallisieren sich unter Präsident Trumps Gegnern ein paar Namen heraus, die man sich auch diesseits des Atlantiks merken sollte. Der wohl bisher wichtigste: Kamala Harris. Lange schien Joe Biden, Vizepräsident unter Barack Obama, aussichts­reichster Bewerber auf die Nomination der Demokraten. Doch bei den Vorwahlkampfdebatten von letzter Woche setzte Harris dem Höhen­flug von «Onkel Joe» ein jähes Ende. Harris Vergangenheit als Staats­anwältin blitzt im Senat immer wieder durch. Sie ist gefürchtet für ihre scharfen Fragen und ihre Hartnäckigkeit bei Anhörungen. An der Debatte nutzte sie diese Talente gegen Biden – und kritisierte ihn für frühere Positionen zur Rassentrennung. Seither sinken Bidens Umfragewerte beinahe synchron mit ihren steigenden Werten. Wie gesagt, es ist noch früh. Aber man kann sich ganz gut vorstellen, wie Harris in ein paar Monaten nicht einen weisshaarigen, sondern einen blonden Mann ins Schwitzen bringt.

Top-Storys: Gut zu wissen

Unten, von oben. Simple Idee, eindrückliches Ergebnis. Die NZZ zeigt mit Satelliten­aufnahmen, wie sich vier Orte in kürzester Zeit komplett verändert haben. Weil sie zu riesigen Flüchtlings­lagern wurden. Darunter ist das aktuell grösste: Kutupalong in Bangladesh, wo Hunderttausende vertriebene Rohingya leben.

Schwein gehabt. Manchmal sagt der Titel schon fast alles. «Wissenschafter hauchen toten Hirnen neues Leben ein. Was kann schon schiefgehen?» Wie sich herausstellt: einiges. Das «New York Times Magazine» über Wissenschafter, die Schweine­hirne wieder­beleben – und was das für unsere Vorstellung von Leben und Tod bedeuten könnte.

Na logistisch. Gütertransport, nicht unbedingt ein leichtes Thema für einen heissen Sommer­abend. Aber versprochen, es lohnt sich, 11 Minuten in das Erklärvideo «Wie der Panamakanal funktioniert» zu investieren. Publiziert wurde es von Wendover Productions, einem Youtube-Kanal, der sich auf Logistik spezialisiert hat – von Flugpreisen über Staats­besuche bis zur Frage, was Astronauten eigentlich genau essen.

Am supersten. Das ist die grantigste Kolumne der Woche. Vielleicht auch die längste. Ob sie die beste ist? Geschmacks­sache. Auf jeden Fall regen die Texte des ehemaligen Richters Thomas Fischer meistens zum Nachdenken an. Diese Woche mokiert er sich über die Sucht der Medien nach Superlativen.

Geister, die er rief. 8chan ist eine der dunkelsten und hässlichsten Ecken des Internets. Rassistinnen, Sexisten und andere Misanthropen tauschen sich hier aus. Auch der spätere Attentäter von Christchurch, Neuseeland, soll ein regulärer Besucher gewesen sein. Aber wie entsteht so ein Forum eigentlich? «Tortoise Magazine» erzählt die Geschichte. «8chan ist ein Monster. Aber sein Schöpfer wusste nicht, was es einmal werden würde. Er war nur ein Kind.»

Was diese Woche wichtig war

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