Die bunte Wende
Vor drei Jahren schmissen sie Farbbeutel, um die autoritäre Regierung in Nordmazedonien zu stürzen. Heute schwenken Aktivistinnen an der Pride in Skopje die Regenbogenflagge und fordern Respekt und Gleichstellung.
Von Krsto Lazarević (Text) und Tomislav Georgiev (Bilder), 04.07.2019
Kocho Andonovski sitzt in einem kleinen Ein-Mann-Büro in einem unscheinbaren zweistöckigen Haus vor seinem alten Rechner und zündet sich eine Zigarette an: «Solange wir nicht in der EU sind, gönne ich mir diesen Luxus noch.» Nebenan kleben Mitstreiterinnen Briefe an ausländische Botschaften in der Hauptstadt zu. Der 47-Jährige trägt ein schlichtes weisses T-Shirt, einen grauen Dreitagebart und eine Hornbrille. Er sieht aus, wie man sich einen schwulen Aktivisten Mitte vierzig in Berlin-Schöneberg vorstellt.
Im kleinen Nordmazedonien mit seinen 2 Millionen Menschen ist Andonovski bekannt. Er war der erste Mann, der sich geoutet hat. Am 19. April 2005, live im Fernsehen: «Ich bin der erste Schwule, den die meisten Menschen in diesem Land bewusst wahrgenommen haben.» Er hat sich dazu entschieden, weil konservative Politiker behaupteten, Schwule seien ein westliches «Problem» und es gebe sie in ihrem Land nicht. Da gab Andonovski seine Anstellung bei der OSZE auf und entschied sich dazu, Aktivist zu werden.
Für die Zeit nach dem Coming-out hatte er verschiedene Szenarien vorbereitet. Denn Andonovski sorgte sich um seine Sicherheit. Er sprach sich mit Freunden ab, wer seine Einkäufe machen und ihm Essen vorbeibringen solle, falls er das Haus nicht mehr verlassen könne.
Doch es kam anders, als er gedacht hatte: «Es sind grossartige Dinge passiert, und ich habe viel Unterstützung erfahren.» Die kam vor allem von Heteros. Von anderen Schwulen und Lesben hat er zunächst Ablehnung erfahren: «Viele waren ganz glücklich mit ihrem Doppelleben, und ich habe sie aus ihrer Komfortzone rausgeworfen, weil plötzlich alle über Homosexualität sprachen. Das gab echt Ärger.»
Es sollte der Beginn der Sichtbarkeit von Lesben und Schwulen werden und gleichzeitig der Anstoss zum Kampf für ihre Rechte. Doch dann kam etwas dazwischen: «Im Juli 2006 gelangten die Faschisten an die Macht.» «Faschisten» oder «das Regime» – so nennt Andonovski die Regierung der nationalkonservativen VMRO-Partei unter dem heute flüchtigen Ex-Ministerpräsidenten Nikola Gruevski.
Gruevski regierte bis ins Jahr 2016. Tagtäglich habe «das Regime» jemanden angegriffen, sagt Andonovski. An manchen Tagen traf es die albanische Minderheit, an anderen Roma, Liberale, Linke oder Schwule. Gehetzt wurde vor allem in Medien, die der Regierung nahestanden. «Sie haben jeden Tag eine Krise und einen Feind produziert. Mehr als zehn Jahre lang haben sie so regiert.»
Für LGBT-Aktivistinnen war es undenkbar, unter der nationalistischen Regierung von Nikola Gruevski eine Pride zu organisieren. Deswegen liegen auch fünfzig Jahre zwischen dem Stonewall-Aufstand in New York und der ersten LGBT-Kundgebung in Skopje. «Wir wollten warten, damit niemandem etwas passiert», erklärt Andonovski. «Ich bin Aktivist und habe akzeptiert, dass ich angegriffen oder sogar getötet werden kann. Aber andere Menschen aus der LGBT-Community haben das für sich anders entschieden, und sie wollen wir nicht in Gefahr bringen.»
Bevor es eine Pride geben konnte, musste also erst mal die nationalistische Regierung weg. Im Jahr 2016 begannen Massenproteste gegen Gruevski. Die Menschen auf der Strasse warfen ihm Korruption, illegale Überwachung der Bevölkerung, Wahlfälschung und Vertuschung einer Tötung vor.
Zunehmend aggressiver wurde die Stimmung auf den Demonstrationen, Gebäude und Büros von Politikern gerieten in Brand. Kocho Andonovski und andere Aktivisten wollten die Proteste weiterführen – aber nicht, dass sie in Gewaltexzessen münden: «Da kam uns die Idee, Farbe in Luftballons zu füllen und auf die Institutionen zu schmeissen, damit die Menschen ihre Wut rauslassen können, ohne dass jemand verletzt wird.»
Die meisten Farbbeutel landeten an den Fassaden von Gebäuden, die im Zuge des Städtebauprojekts «Skopje 2014» entstanden. Sie stehen fürs grösste Geldwäscherei- und Korruptionsprogramm in der jungen Geschichte Nordmazedoniens.
Die Ballons verliehen dem Aufstand seinen Namen: Er wurde zur «bunten Revolution». An deren Ende stand die Abwahl der regierenden VMRO und somit der Rausschmiss von Premierminister Gruevski. Die Idee, eine gay-feindliche Regierung mit bunten Farben zum Einknicken zu bringen, stammte aus der queeren Community.
Der abgewählte Gruevski floh aus dem Land, nachdem er zu einer Haftstrafe wegen Korruption verurteilt wurde. Statt seine Strafe anzutreten, setzte er sich nach Ungarn ab zu seinem Freund Viktor Orbán. Dort stellte er einen Asylantrag, der nach wenigen Tagen bewilligt wurde.
«Am Tag, an dem die neue Regierung an die Macht kam, haben wir erst mal alle durchgeatmet», erzählt Kocho Andonovski. Es war die bunte Revolution 2016, die den Weg zur ersten Pride 2019 ebnete. Jetzt, fast fünfzig Jahre nach der Razzia in der Stonewall-Bar an der Christopher Street, soll auch Skopje seine erste Gay Pride bekommen. Andonovski wäre schon zufrieden, wenn 200 Menschen kämen. «500 wären ein unglaublicher Erfolg.»
Plötzlich geht alles schnell
Der Wind hat gedreht in Nordmazedonien. Heute regiert die sozialdemokratische Partei SDSM unter Premierminister Zoran Zaev. Probleme wurden nun angegangen. Nach einem jahrelangen Namensstreit mit dem griechischen Nachbarn nannte sich das Land von Mazedonien offiziell in Nordmazedonien um und ist nun wieder auf Kurs Richtung Nato- und EU-Mitgliedschaft.
Anfang 2018 trat eine Parlamentariergruppe zusammen, um sich mit LGBT-Rechten zu befassen. Was in anderen Ländern Osteuropas Jahrzehnte dauerte, ging in Nordmazedonien im Eiltempo: Vergangenen Mai verabschiedete das Parlament ein Antidiskriminierungsgesetz zum Schutz von LGBT-Menschen. Doch Papier ist geduldig. Der Alltag von Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transgendern bleibt schwierig in einem der ärmsten Länder Europas.
Die Menschenrechtsorganisation Coalition Margins zählte im Jahr 2018 insgesamt 84 Fälle, in denen die Rechte von LGBTIQ-Personen verletzt wurden. Bei 49 davon handelt es sich um körperliche Angriffe – vor allem auf schwule Männer und Transfrauen, die als Sexarbeiterinnen tätig sind.
Die meisten Fälle sind in der Hauptstadt Skopje dokumentiert. Dragana Drndarevska von Coalition Margins geht davon aus, dass die Dunkelziffer viel höher ist, weil Vorfälle ausserhalb der Hauptstadt nicht dokumentiert werden.
«Viele Betroffene gehen erst gar nicht zur Polizei, weil sie Angst haben, von Beamten zwangsgeoutet oder erpresst zu werden.» Bei 9 der 84 Fälle war es die Polizei selbst, die die Rechte von LGBT-Personen verletzt hat. Ein Mann wurde laut dem Bericht von Coalition Margins von Polizisten verprügelt, weil er schwul sei.
Predrag will nicht
Predrag Jovanovski erinnert sich noch sehr genau daran, wie sich Kocho Andonovski live im Fernsehen outete. Er war damals sieben Jahre alt und ging in die erste Klasse: «Mir war klar, dass ich kein lesbisches Mädchen bin. Aber ich wusste, dass auch bei mir etwas anders war.»
Predrag Jovanovski hat kurz geschorene Haare, ist kräftig gebaut und trägt ein kleines Piercing am rechten Ohr. Er trinkt schwarzen Kaffee, zündet sich eine Zigarette an und erzählt, dass er ganz zufrieden mit der neuen Regierung sei. Aber eine Sache müsste sich bald ändern.
«An der Universität, im Krankenhaus, bei der Post und in der Bank. Immer glauben sie, meine Dokumente seien gefälscht, immer wieder muss ich mich vor Fremden outen.» Man kann in Nordmazedonien inzwischen seinen Namen ändern – nicht aber den Geschlechtseintrag im Ausweis.
Wenn Predrag Jovanovski ins Ausland fährt, muss er sich oft in einem kleinen Raum vor den Grenzbeamten ausziehen, weil sie seine Dokumente für gefälscht halten. Schon dreissigmal sei ihm das passiert – und Jovanovski ist erst 21 Jahre alt. Nicht nur an der Grenze zu Serbien muss er die Prozedur über sich ergehen lassen, sondern auch beim Übertritt in die EU-Länder Kroatien, Bulgarien und Slowenien.
Viele seiner Freunde haben ein Regenbogen-Profilbild auf Facebook gepostet, um ihre Solidarität mit der Pride in Skopje auszudrücken. Predrag Jovanovski nicht. Er möchte nicht hingehen. Wegen seiner Familie: «Ich komme aus Sveti Nikole, einem sehr konservativen Ort im Osten. Sie akzeptieren mich als Transmann, aber Schwule tolerieren sie nicht.» Er möchte nicht riskieren, die Unterstützung zu verlieren, die er von seiner Familie bekommt.
Jovanovski hat die letzte Szene seines Lieblingsfilms «Fight Club» auf den rechten Unterarm tätowiert. Im Streifen stehen der Erzähler und Marla Singer vor einer Glaswand und beobachten gemeinsam, wie die Hochhäuser im Finanzdistrikt vor ihnen einstürzen, während «Where Is My Mind?» von den Pixies spielt.
Sein Tattoo interpretiert die Szene anders. Marla Singer verlässt den Erzähler, und die Hochhäuser explodieren nicht. Statt eines explodierenden Bankendistrikts sieht man den Sternenhimmel. Für ihn bedeutet das Tattoo, dass man nicht bis zum Ende weiterkämpfen muss. Er sagt: «Wenn die VMRO mit ihrer transfeindlichen Agenda wieder an die Macht kommt, dann habe ich keine Kraft mehr zu kämpfen. Dann werde ich das Land verlassen.»
Lila schwankt noch
Predrags beste Freundin ist Lila Milić. Die 35-Jährige trägt Hotpants, hat lange dunkle Haare und eine reflektierende Sonnenbrille. Sie ist die Gründerin der ersten Interessenvertretung für Sexworker auf dem Balkan: «Wir werden nicht dazu gezwungen, uns zu prostituieren, aber als Transfrauen haben wir oft keine andere Wahl.» Die Arbeitslosenquote in Nordmazedonien liegt bei rund 20 Prozent.
Auch Lila Milić warf 2016 Farbbeutel auf Regierungsgebäude: «Diese Proteste haben uns als LGBT-Community zusammengebracht. Gemeinsam hatten wir weniger Angst, und wir haben uns den Respekt der Gesellschaft verdient.»
Zwei Jahre nachdem diese Regierung weg ist, sei es nun endlich Zeit für die Pride. «In der Region sind wir die Letzten auf der Party», sagt sie. Doch obwohl sie hinter der Pride steht, ist sie nicht sicher, ob sie hingehen möchte. Sie bekommt Drohungen auf sozialen Netzwerken und ist um ihre Sicherheit besorgt. Und sie war schon mal auf einer ersten Pride in der Region. 2013 in Budva, Montenegro.
Dort war Lila Milić eine von etwa vierzig Teilnehmerinnen. Auf der anderen Seite: Hunderte gewaltbereite Gegendemonstranten. Sie schrien: «Tötet, tötet, tötet die Schwulen», und warfen Steine und Feuerwerkskörper auf die Pride. Die Polizei konnte die Sicherheit der Parade nicht mehr garantieren und evakuierte die Teilnehmer.
Als Lila Milić Montenegro verliess, fragte ein montenegrinischer Grenzpolizist, ob sie von der Pride komme. Als sie die Frage bejahte, schimpfte der Polizist: «Ich ficke eure schwulen Mütter.»
Angriffe haben Tradition
Montenegro ist nicht das einzige Land auf dem Balkan, in dem die Pride angegriffen wurde. Die gewalttätigsten Gegenproteste fanden am 10. Oktober 2010 in Belgrad statt. Während einige hundert Menschen zur Pride gingen, pilgerten rund 6000 Gegendemonstranten in die serbische Hauptstadt. Belgrad wurde von Anti-LGBT-Randalierern, vor allem Rechtsextremen und Hooligans, auseinandergenommen. Orthodoxe Priester standen daneben und segneten die Gewalttäter. Die Bilanz: über 150 Verletzte, über 250 Festnahmen und Sachschäden in Millionenhöhe. Dieser Gewaltexzess wurde im Spielfilm «Parada» von Srdjan Dragojević verarbeitet – einem der erfolgreichsten serbischen Filme aller Zeiten.
Bei der ersten Pride in der kroatischen Küstenstadt Split am 11. Juni 2011 wurden die rund 300 Teilnehmer von mehreren tausend Personen attackiert, die sie mit Steinen, Flaschen und Tränengas angriffen, während die Polizei weitgehend teilnahmslos danebenstand. Hochrangige katholische Geistliche forderten, die Teilnehmerinnen zu lynchen, oder kommentierten, sie hätten «bekommen, was sie verdienen».
Auch wenn die Gay Prides in Split und Belgrad inzwischen recht friedlich verlaufen, haben sich diese Bilder in das kollektive Gedächtnis der LGBT-Community auf dem Balkan eingebrannt.
Der Mehrfachdiskriminierte
Auch Visar Mehmedi macht sich Sorgen um die Sicherheit der Pride. Der 22-Jährige arbeitet als Kellner im «Shortbus», einer der wenigen queerfreundlichen Bars in Skopje. Er trägt kurze Jeans, weisse Sneaker und ein schlichtes weisses T-Shirt mit hochgekrempelten Ärmeln. Reste von rotem Nagellack kleben noch an seinen Fingernägeln. Er nimmt eine Zigarette aus einer Schachtel, zündet sie an und sagt: «Wenn du Albaner und queer bist, dann hast du es in diesem Land verdammt schwer.»
Visar Mehmedi macht Drag unter dem Namen Vera Vendetta. «V wie Vendetta» ist einer seiner Lieblingsfilme – wegen seiner anarchistischen Momente. Vera Vendetta trägt bei Auftritten einen dunklen Pony, ein knielanges dunkles Kleid und dunkle Schuhe mit knapp zehn Zentimeter hohen Absätzen. Mit anderen gründete Vera Vendetta vor einem halben Jahr das «Haus of Fauché» – das erste Dragqueen-Kollektiv Nordmazedoniens.
Visar Mehmedi kommt aus einer albanisch-muslimischen Familie und wuchs am Stadtrand von Skopje auf. In einer Gesellschaft, die nicht nur zwischen Nationalisten und Befürwortern einer offeneren Gesellschaft gespalten ist, sondern auch zwischen Mazedoniern und Albanern. Die slawischen Nordmazedonier machen rund zwei Drittel der Bevölkerung aus, die Albaner etwa ein Viertel.
«Mir war mein freier Wille schon als Kind wichtig», erklärt Mehmedi. Seine Familie setzte auf Besuch in der Moschee, doch Visar blieb irgendwann zu Hause. Er wusste lange nicht, wo er hingehörte: «Ich wurde von den Albanern diskriminiert, weil ich queer bin, und ich wurde von Mazedoniern diskriminiert, weil ich Albaner bin.» Er nennt diese Erfahrungen als einen der Gründe, warum er mit Drag anfing. Ein anderer: Die Menschen kommen und bezahlen Geld dafür, Vera Vendetta zu sehen. «Wir sind als Menschen und als Künstler sichtbar. Das ist so wichtig für die LGBT-Szene in Skopje.»
Visar Mehmedi war elf Jahre alt, als er begann, Mazedonisch zu lernen. Er hat bis heute einen hörbaren Akzent. Seine «nationale Identität» als Albaner interessiert ihn nicht. «Warum sollte man stolz darauf sein, woher man kommt? Ich mag vieles an der albanischen Kultur, aber warum sollte man stolz auf seine Ethnie sein? Das führt doch nur zu Segregation und verhindert Vielfalt.» Ob er zur Pride gehen wird, weiss er noch nicht. Seine Mutter hat ihn darum gebeten, es nicht zu tun, weil sie Angst um ihn hat.
Der Tag, auf den alle gewartet haben
Es ist der Morgen der Pride, und die Sonne prallt auf die nordmazedonische Hauptstadt. Die Strassen in der Innenstadt sind gesperrt, und das Thermometer zeigt über dreissig Grad an. Der Asphalt scheint zu glühen, die Teilnehmer sind froh, dass die Route sie zu einem schattigen Park führt. Es stehen rund ein Dutzend Männer mit kurz geschorenen Haaren am Rande des Versammlungsortes. Sie buhen und schimpfen. Doch die Stimmung auf dem Platz ist gut, die Musik laut. Und so bekommen die meisten Teilnehmer das Gegröle gar nicht mit.
So, wie sie sich gibt, könnte diese Pride auch in vielen anderen Städten auf der Welt stattfinden: Die Demonstranten tragen eine überdimensionierte Regenbogenflagge durch Skopje, und aus den Boxen pumpt «Standing in the Way of Control» von Gossip.
Das Highlight ist der Auftritt von Tamara Todevska, die ihren Song «Proud» performt. Mit dem Lied holte sie beim diesjährigen Eurovision Song Contest den ersten Preis der Fachjury und belegte zum Schluss Rang sieben.
«Tell them / Raise your voice and say it loudly / Show them what it means to stand up proudly / Tell them / This is me and thanks to you I am proud».
(Sag es ihnen / Erheb deine Stimme und sag es laut hinaus / Zeig ihnen, was es heisst, stolz aufrecht zu stehen / Sag es ihnen / So bin ich und dank dir bin ich stolz drauf)
Kocho Andonovski, der erste geoutete Schwule Nordmazedoniens, wäre mit 200 Teilnehmerinnen an der Pride zufrieden. Mit 500 wäre er schon glücklich. Tatsächlich sind über 1000 Menschen aus der gesamten Region zusammengekommen. Darunter auch Verteidigungsministerin Radmila Sekerinska und die Arbeits- und Sozialministerin Mila Carovska. Aktivisten sind mitmarschiert und ausländische Diplomatinnen. Aber eben auch Menschen aus der nun endlich sichtbar gewordenen LGBT-Szene Nordmazedoniens.
Kocho Andonovski kann sein Glück kaum fassen. Vierzehn Jahre nachdem er sich geoutet hat, feiern so viele Menschen an der Pride in seiner Stadt: «Es ist unglaublich. Ich hätte niemals gedacht, dass es einmal wieder so viel Solidarität in diesem Land geben würde.»
Die Gegendemonstration wird von einer Gruppe namens «Allianz für das Leben» organisiert, die sich laut eigener Aussage gegen den Einfluss des Westens wehrt, der ihr christliches Verständnis von «Ehe, Familie und Geschlecht» zerstören will. Sie tragen Schilder, auf denen «Parade der Schande» und «Stolz auf die Krankheit» steht. Einige der Gegendemonstrantinnen tragen slawische Trachten, weit vorne laufen orthodoxe Priester mit grossen Kreuzen, Mitglieder der muslimischen Gemeinde und katholische Nonnen. Für sie ist das, was wenige hundert Meter entfernt passiert, nichts anderes als «LGBT-Propaganda».
Die Polizei hält die Pride und die Gegendemonstration auseinander. Die Teilnehmer aus beiden Lagern bekommen ihre Feinde nicht zu Gesicht. Es bleibt friedlich, niemand wird verletzt.
Lila Milić ist da und trägt ein weisses T-Shirt, auf dem steht: «Sex Work is Real Work!» Visar Mehmedi hat den Wunsch seiner Mutter respektiert und nimmt nicht teil. Predrag Jovanovski verbringt den Tag bei seiner Familie in Sveti Nikole. Doch ob anwesend oder nicht, alle sind froh, dass die Parade friedlich bleibt und dass so viele Menschen dabei sind.
Bunte Farben stehen in Skopje für die Hoffnung. Ganz egal, ob sie nun als Beutel auf Fassaden aufplatzen oder als Regenbogenflaggen durch die Strassen getragen werden.
In einer früheren Version haben wir bei einem Zitat von Predrag Jovanovski versehentlich den Sinn falsch wiedergegeben. Wir haben «Mir war klar, dass ich kein Mädchen bin, auch kein lesbisches» geändert in «Mir war klar, dass ich kein lesbisches Mädchen bin».
Krsto Lazarević wurde in Tuzla in Bosnien-Herzegowina geboren. Nach der Flucht vor dem Krieg und einem Abstecher auf die Hauptschule in Reutlingen (D) studierte er Politikwissenschaft, Soziologie und Gender Studies in Frankfurt am Main, Valencia und Berlin. Er arbeitet als Redaktor in Berlin und war zuvor Korrespondent in Wien, Belgrad und Sarajevo. Lazarević dreht Dokumentarfilme, unter anderem für Arte und den MDR, und schreibt eine Kolumne für die Deutsche Welle. Er betreibt gemeinsam mit Danijel Majić («Frankfurter Rundschau») den Podcast «Neues vom Ballaballa-Balkan».