Am Gericht

Kuhhändel

Auf einem Hof in Wittenbach SG geraten sich Tierfreunde in die Haare. Sie streiten um Kühe – und berufen sich alle aufs Tierwohl. Am Schluss entscheidet der Strafrichter.

Von Sina Bühler, 03.07.2019

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Ort: Kreisgericht St. Gallen
Zeit: 21.06.2019, 14.00 Uhr
Fall-Nr.: ST.2018.21662
Thema: Sachentziehung

Es geht um Gretli, Schnee­flöckli, Miranda, Mirabelle und Tulipe.

Die Rede ist von fünf Ost­schweizer Kühen, um deren Wohl­ergehen bis vor Gericht erbittert gestritten wird. Eine hochemotionale Angelegenheit. Der Straf­richter handelt den Fall allerdings nüchtern und sachlich unter dem Tat­bestand der Sach­entziehung ab – eine juristische Einordnung, die Tier­freundinnen und Tier­freunde schmerzen muss.

Und es sind ausschliesslich Tier­liebhaber, die sich am Kreis­gericht St. Gallen als Kontrahenten gegenüberstehen: Der eine ist Präsident eines regionalen Tier­schutz­vereins und leitet das Projekt «Viva la Vacca». Dieses hat zum Ziel, ausgedienten Kühen einen tiergerechten Lebens­abend zu ermöglichen. Das Vieh wird sozusagen ins Alters­heim geschickt.

Der Vereins­präsident hat mit einer Straf­anzeige das Verfahren ins Rollen gebracht. Er geht gegen zwei Männer vor, Mitglieder einer fünfköpfigen Gemeinschaft, die ein Kuh-Alters­heim führen; auf einem Hof in Wittenbach SG, auf dem früher einmal Land­wirtschaft betrieben worden ist. Die Gemeinschaft besteht aus einer Patch­work­familie. Von der Kuh­betreuung allein kann sie nicht leben, fast alle gehen einer zweiten Erwerbs­tätigkeit nach.

Auf dem Wittenbacher Hof leben vier Kühe, die von «Viva la Vacca» vermittelt worden sind; ein fünftes Tier – Schnee­flöckli – ist auf dem Hof geboren. Vor Gericht verantworten müssen sich zwei Männer: der Hof­besitzer, ein 62-jähriger Bauer, und ein 59-jähriger deutscher Kauf­mann, der das Kuh-Alters­heim als Hof­wart führt.

«Viva la Vacca» zahlt den Hof­betreibern ein Pensions­geld von 100 Franken pro Tier und Monat. Das sei wenig, sagt am Rande des Prozesses eine junge Frau aus der Patch­work­familie, die das Verfahren als Zuschauerin mitverfolgt: Etwa 300 Franken pro Tier und Monat würden die Voll­kosten betragen. Auf einem anderen Hof zahle das Tier­schutz­projekt das Doppelte. Aber, so die Frau, das Wichtigste sei: «Wir haben die Tiere gern.»

Mehrere Jahre lang klappt die Zusammen­arbeit, doch im Juni 2018 will der Verein seine Kühe plötzlich zurückhaben. Weil dies erst nach mehreren Anläufen gelingt – über die Gründe dafür herrscht grösste Uneinigkeit –, erstattet der Präsident Anzeige gegen die zwei Tier­betreuer.

Ein Schlichtungs­versuch bleibt erfolglos. Im Januar 2019 stellt die Staats­anwaltschaft zwei Straf­befehle wegen Sach­entziehung aus: eine bedingte Geld­strafe von 20 Tagessätzen zu 80 Franken und eine von 25 Tages­sätzen zu 40 Franken. Dazu kommen zwei Bussen à 400 beziehungsweise 300 Franken.

Der Bauer und der Hofwart akzeptieren die Schuld­sprüche nicht und ziehen vor Gericht. Einzel­richter Tom Frischknecht ist für den Fall zuständig und hört sich die Argumente der zerstrittenen Parteien geduldig an.

Laut dem Vereins­präsidenten und Anzeige­erstatter mussten die Kühe umplatziert werden, weil sie auf dem Wittenbacher Hof nicht artgerecht gehalten worden seien. Ausserdem habe man ihm nicht mitgeteilt, dass eines seiner Tiere gestorben sei. Per eingeschriebenem Brief kündigt er den Hof­betreibern an, er werde die Tiere abholen. Den Betreibern ist allerdings unklar, wann genau dies geschehen soll. Unbestritten ist hingegen, dass die Kühe nicht ihnen gehören, sondern dem Verein beziehungsweise dem Projekt «Viva la Vacca».

Die Frage nach dem Abhol­datum klärt sich zwei Wochen später, als der Vereins­präsident nach Wittenbach fährt und vor Ort mitteilt, die Kühe würden am kommenden Tag abtransportiert.

Die Hofbetreiber winken ab. Das gehe nicht.

Die Zufahrt zur Weide, dem einzigen Ort, an dem ein Tier­transporter parkieren könne, sei durch einen kaputten Bau­wagen und einen Entsorgungs­container versperrt. Der Vereins­präsident regt sich fürchterlich auf. Und fährt am nächsten Tag trotzdem vor, mit einem Transporter. Es kommt zum Spektakel. Die Polizei und das Lokal­fernsehen stehen auf dem Hof, eine ehemalige Kuh­besitzerin sowie Freunde der Hof­betreiber sind ebenfalls angereist. Der Abtransport gelingt nicht, die einzige Zufahrt ist, wie angekündigt, immer noch versperrt.

Der Vorgang wiederholt sich mehrmals, und jede Partei schiebt der jeweils anderen die Schuld dafür in die Schuhe, dass die Kühe nicht abtransportiert werden können.

Er sei einfach aufgetaucht, ohne sich vorher zu melden, monieren die Hof­betreiber. Die Tiere seien halt auf der Weide gewesen, man habe sie nicht so kurzfristig einfangen können.

Die Betreiber hätten den Transport verunmöglicht, widerspricht der Anwalt des Vereins­präsidenten, Simon Lichtensteiger. Ob sie denn die Absicht gehabt hätten, die Kühe herauszugeben, erkundigt sich Einzel­richter Frischknecht bei den beiden Beschuldigten. «Selbstverständlich», antworten sie im Chor, «ja, natürlich!» Die zwei Männer verteidigen sich selbst, sie haben auf den Beizug von Anwälten verzichtet.

Der 62-jährige Bauer ist eher still vor Gericht. Er gibt einsilbige, aber präzise und höfliche Antworten. Ganz anders sein 59-jähriger Mitbewohner und Hof­wart. Der gebürtige Deutsche spricht eloquent, ausführlich und sehr emotional: «Der Tier­schutz­verein hat uns die Tiere anvertraut, damit wir ihnen gut schauen. Das haben wir getan!» Seine Stimme zittert, als er schildert, wie die Tiere bei der Abhol­aktion auf der Weide zusammengepfercht worden seien. Man habe ihnen die Hörner verschnürt. Sie seien die Rampe des Last­wagens hinauf- und hinuntergetrieben worden. Einmal sei der Chauffeur sogar weggefahren, weil er das unwürdige Theater nicht habe mitmachen wollen.

Irgendwann gelingt der Abtransport. Zurück auf dem Hof bleibt einzig Schnee­flöckli, die hier geboren wurde.

Und so habe «Viva la Vacca» eine Situation verursacht, sagt der Hof­wart, die laut Tier­schutz­gesetz nicht zulässig sei: ein einzelnes Tier, allein im Stall. Ihnen sei klar geworden, dass es dem Vereins­präsidenten nicht ums Tier­wohl gehe. Später habe der Anzeige­erstatter sogar das Einschläfern von Schnee­flöckli angeordnet; «einer jungen, gesunden Kuh!», wie sich der Hof­wart empört. Er verhindert, dass die Tötung im Wittenbacher Hof geschieht. Das Tier wird deshalb lediglich betäubt und mit Gurten auf einen Transporter gezerrt.

Aufs Töten wird später verzichtet. Schnee­flöckli hat nochmals Glück gehabt.

Die Staats­anwaltschaft hat sich vor Gericht dispensieren lassen. Also spricht der Anwalt des Vereins­präsidenten, der als Privat­kläger am Verfahren teilnimmt: «Tier­schutz ist eine emotionale Angelegenheit», sagt Simon Lichtensteiger – betont monoton. Den Sach­verhalt und seine Schluss­folgerungen fasst er in wenigen Minuten zusammen. Schuld am Desaster seien der Bauer und der Hofwart. Die beiden hätten den Abtransport verhindert und auch gegenüber den Medien geäussert, sie würden alles dransetzen, um die Tiere auf dem Hof behalten zu können. «Besten Dank.» Und fertig ist der Vortrag.

Die beiden Beschuldigten widersprechen, aber halten sich ebenfalls kurz. Der Bauer sagt, sie hätten nie den Vorsatz gehegt, den Abtransport zu verhindern. Der Hof­wart ergänzt, man hätte sie einfach vorinformieren müssen, dann hätte man dafür gesorgt, dass die Kühe im Stall stehen und abtransportiert werden könnten. Man habe dem Tier­schutz­präsidenten stets geholfen. Er sei sprachlos über die Anschuldigungen und das Verfahren.

Nach kurzer Beratung spricht Einzel­richter Tom Frischknecht die beiden Männer frei. Eine Sach­entziehung sei grundsätzlich ein Vermögens­delikt. Sie setze voraus, dass jemandem ein erheblicher Nachteil zugefügt werde, üblicherweise finanzieller Natur. Obwohl in Einzelfällen auch ein immaterieller Nachteil erheblich sein könne, «etwa, wenn einem Musiker das Instrument vorenthalten wird oder einer Braut ihr Braut­kleid». Dies sei hier jedoch nicht der Fall.

Der Vereins­präsident habe dadurch, dass sein Plan vorübergehend verhindert worden sei (die Umplatzierung der Kühe), keinen relevanten Nachteil erlitten. «Alles Weitere dürfen und müssen wir nicht beurteilen. Daher kann offenbleiben, ob an jenem Tag, beim ersten Versuch, ein Transport möglich gewesen wäre.»

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Illustration: Friederike Hantel