Das falsche Signal
Ein Kommentar von Dominique Strebel, 03.07.2019
Peter Studer, Einzelrichter am Bezirksgericht Luzern, setzt das falsche Signal: Wollen Journalistinnen in Zukunft über eine Hausbesetzung berichten, werden sie sich nicht mehr selbst vor Ort ein Bild der Lage machen. Sie werden nicht mehr schauen, ob etwa das Gebäude in solch schlechtem Zustand ist, dass es trotz Ortsbildschutz abgerissen werden darf, wie es der Hauseigentümer wünscht. Sie werden sich nur auf Aussagen der Besetzer und des Grundeigentümers stützen und nicht mehr selbst Augenschein nehmen.
Studer hat die Journalistin Jana Avanzini letzte Woche wegen Hausfriedensbruch verurteilt, weil sie im April 2016 ein besetztes Grundstück betreten hatte, um für das Onlinemagazin «Zentralplus» darüber zu berichten. Nach diesem Entscheid, sollte er rechtskräftig werden, wird kaum ein Journalist das Risiko eingehen, wegen seiner Recherche verurteilt zu werden. Auch wenn es nur – wie im konkreten Fall – eine Busse von 500 Franken gibt: Es droht ein Strafregistereintrag, der bei Jobbewerbungen und bei der Wohnungssuche behindert. Und es drohen Gerichts- und Anwaltskosten in fünfstelliger Höhe, wenn sich eine Betroffene wehrt.
So entsteht ein chilling effect, der dazu führt, dass Berichterstattung unterbleibt. Grundeigentum wird zur Blackbox. Journalistinnen bleiben am Gartenzaun stehen. Ist das wirklich im berechtigten Interesse der Öffentlichkeit?
Das Bezirksgericht Luzern stützt sich auf einen Leitentscheid des Bundesgerichts, der bereits 2001, als er erging, von der juristischen Lehre, den Medien und der Öffentlichkeit stark kritisiert wurde.
Das Bundesgericht büsste damals einen italienischen Journalisten der Tageszeitung «Corriere della Sera», weil er sich mit Flüchtlingen von einer Schlepperorganisation über die Schweizer Grenze bringen liess, um über die stossenden Zustände am Grenzübergang zu berichten. Der Bundesgerichtskorrespondent der NZZ meinte damals, es sei naiv zu behaupten, der Journalist hätte durch Befragung illegal eingereister und verängstigter Flüchtlinge auch nur annähernd gleichwertige Informationen erhalten.
Das Urteil entfernt sich weit von den aus Karl R. Poppers kritischem Journalismus abgeleiteten Recherchierregeln: «Zu den Beobachtungsregeln gehört die Priorität der Primärerfahrung, also der erlebten Recherche, vor der Sekundärerfahrung.»
Es ist aber nicht nur ein umstrittenes Urteil, auf das sich das Bezirksgericht Luzern stützt, sondern auch ein veraltetes: In den bald 20 Jahren, seit dieser Entscheid ergangen ist, hat die Rechtsprechung der Medienfreiheit und dem öffentlichen Interesse an Information mehr Gewicht gegeben.
So rügte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Mai 2015 einen Entscheid des Bundesgerichts, mit dem das höchste Schweizer Gericht «Kassensturz»-Journalisten wegen illegaler Bild- und Tonaufnahmen verurteilt hatte. Die Journalisten hatten Versicherungsvertreter versteckt gefilmt, um deren zweifelhafte Methoden zu kritisieren. Das Bundesgericht hatte sie für schuldig befunden, weil sie diese Zustände auch ohne (illegale) versteckte Kamera mittels Eigenbericht ohne Bilder hätten öffentlich machen können. Der Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg sah dies am 24. Februar 2015 anders: Das berechtigte öffentliche Interesse an der Berichterstattung überwiege, urteilte Strassburg, sah im Bundesgerichtsurteil eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention und verlangte mehr Gewicht für die Medienfreiheit.
Seither haben Staatsanwälte und Gerichte das Interesse an Information regelmässig höher gewichtet und Journalistinnen freigesprochen, weil ihre Berichterstattung im überwiegenden öffentlichen Interesse sei und es keine anderen Wege gebe, mögliche Missstände aufzuklären.
So etwa im Fall des pakistanisch-deutschen Journalisten Shams ul-Haq, der unter falschem Namen im Durchgangszentrum Kreuzlingen recherchierte (rechtskräftige Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft Kreuzlingen SUV_K.2016.112). Oder im Fall eines Journalisten von Telebasel, der einem Drogenabhängigen einen Kugelschreiber mit eingebauter Kamera mitgab. Der Film belegte, dass im Vorhof eines Basler Gassenzimmers mit Kokain und Heroin gehandelt wurde. Eine Basler Einzelrichterin sprach den Journalisten, der einen entsprechenden Beitrag auf Telebasel realisiert hatte, im Mai 2015 frei (siehe «Basler Zeitung» vom 8. Mai 2015).
Selbst das Parlament gab der Medienfreiheit 2017 mehr Gewicht, als es das Strafgesetzbuch revidierte und die Gerichte in Zukunft abzuwägen zwingt, ob das öffentliche Interesse überwiegt, wenn geheime Dokumente veröffentlicht werden.
Genau auf dieser Linie lag denn auch der Entscheid des Luzerner Staatsanwalts, der das Verfahren gegen Avanzini im Juni 2018 einstellen wollte. Erst das Kantonsgericht Luzern zwang ihn zur Anklageerhebung. Und das Bezirksgericht Luzern entschied nun gegen die Journalistin.
Durchgangszentren, Fixerstuben und Versicherungsberaterbesuche – all das soll keine Blackbox mehr sein. Da sollen Journalistinnen Missstände recherchieren dürfen. Bei Hausbesetzungen hingegen nicht. Nochmals die Frage: Ist das wirklich im Interesse der Öffentlichkeit?
Nein. Gute Journalisten bleiben nicht am Gartenzaun stehen, wenn mögliche Missstände recherchiert werden müssen. Zentral ist dabei die Recherche, die der Vermutung nachgeht, und nicht das veröffentlichte Resultat. Denn mögliche Missstände gilt es immer abzuklären, auch wenn sich im Nachhinein keine Belege finden lassen, die eine Veröffentlichung rechtfertigen.
Deshalb muss eine Journalistin die besetzte Villa eines Grossindustriellen betreten dürfen, wenn umstritten ist, ob diese in gutem Zustand ist und wegen Ortsbildschutzes nicht abgerissen werden darf; der Besitzer hingegen behauptet, der Abriss sei gerechtfertigt, weil die Bausubstanz in desolatem Zustand sei.
Eine Journalistin muss ein solches Grundstück betreten dürfen, auch wenn sie dabei keine Belege für einen Missstand findet und «nur» eine Reportage ihres Besuchs publiziert.
Urteil des Bezirksgerichts Luzern 2Q1 19 13 vom 26. Juni 2019; noch nicht rechtskräftig.