Der Putsch

Das «Kosmos», die fette Beute: Der hippe Kino-, Buch-, Gastro- und Veranstaltungsort im Zürcher Boomviertel Europaallee ist der linksliberale In-Place. Droht jetzt die rechte Übernahme?

Von Daniel Binswanger und Christof Moser, 29.06.2019

Begehrt und umkämpft: Das «Kosmos» an der Europaallee in Zürich. Christian Beutler/Keystone

Meist sind General­versammlungen von Aktien­gesellschaften schrecklich dröge. Doch was sich am Donnerstag, 20. Juni, an der GV der Kosmos-Kultur AG abgespielt hat, war eine Übernahme­schlacht der Extraklasse. Ein echtes amerikanisches B-Picture, wie Beteiligte übereinstimmend sagen.

Der Showdown fand in Kinosaal drei statt, im Untergeschoss des «Kosmos». Während sechs Stunden wurde gestritten, Verfahrens­regeln wurden ruppig gebeugt, Kampf­abstimmungen abgehalten, Überraschungs­kandidaten aus dem Hut gezaubert. Grosses Kino, wenn auch nichts für skrupulöse Seelen.

Am Ende stand fest: Fast der gesamte Verwaltungsrat wird ausgewechselt. Filme­macher Samir Jamal Aldin, einer der «Kosmos»-Gründer, in die Wüste geschickt. Ruedi Gerber, dem grössten Aktionär, der Einfluss entzogen. Und deutlich wurde auch, wer sich ganz plötzlich als der neue Boss im «Kosmos» aufführt: Edwin van der Geest, Gründer der mächtigen Kommunikations- und Lobbying­firma Dynamics Group, aktiver Investor und Spezialist für «öffentliche Übernahmen und proxy fights», rechts­bürgerlicher Agitator, Gründer und Vorsitzender der Interessen­gemeinschaft «Freunde der NZZ».

Publik gemacht hat den «Knall im Kosmos» am vergangenen Wochenende der «SonntagsBlick». Die Nachricht schlug in Zürich ein wie eine Bombe.

Das «Kosmos» weckt Begehrlichkeiten

Was hat Edwin van der Geest, der sich sonst bei grossen Börsen­schlachten engagiert – um das Zuger Chemie­unternehmen Sika zum Beispiel – oder die PR-Betreuung von Liquidationen sicherstellt – bei Saurer, Bally oder dem Textil­unternehmen OVS, dessen Pleite zur grössten Massen­entlassung in der Geschichte des Schweizer Detail­handels führte –, mit dem «Kosmos» zu schaffen? Ist er ein Fan von iranischen Studio­filmen? Oder ist es ihm ein heimliches Anliegen, feministische Salons zu unterstützen?

Wer mit Involvierten spricht und alle Seiten anhört, ist am Ende mit zwei Deutungen der Rolle von Edwin van der Geest konfrontiert. Die eine besagt, dass es ihm an dieser chaotischen General­versammlung einzig und allein darum gegangen sei, die komplett verfahrene Situation im «Kosmos»-Verwaltungsrat zu beruhigen. Nicht mehr und nicht weniger. Die andere besagt: Obwohl die Kosmos-Kultur AG aus Sicht des Private-Equity-Experten van der Geest finanziell ein lächerlich kleiner Fisch ist – das Gesamt­aktienkapital beträgt gerade mal 8 Millionen Franken – und obwohl die Firma kommerziell noch nicht floriert: Das «Kosmos» ist eine fette Beute.

Angestossen wurde das Projekt vom Zürcher Filme­macher, Produzenten und AL-Partei­mitglied Samir und dem Buchhändler und «Sphères»-Gründer Bruno Deckert. Samir träumte schon immer davon, ein eigenes Kino zu besitzen und kreativ bespielen zu können. Deckert träumte von einer Buchhandlung, die gleichzeitig Kultur­veranstaltungsort ist und die grössere Möglichkeiten bietet als das «Sphères». Zusammen­gebracht hat sie einer der umtriebigsten Vertreter des linken Zürcher Establishments: Steff Fischer, ehemaliger Hausbesetzer der Achtziger­bewegung, der später im Immobilien­geschäft reüssierte.

Von den SBB wurde Fischer 2009 beauftragt, Massnahmen gegen das massive Image­problem zu ergreifen, das sich die Bahn mit dem Luxus-Immobilien­projekt Europa­allee eingehandelt hatte. Die SBB gerieten unter Beschuss, weil sie günstigen Gewerbe- und Wohnraum zerstörten, Bürokomplexe für Giganten wie Google und die UBS hinklotzten und damit im Viertel um den Zürcher Haupt­bahnhof einen Gentrifizierungs­schub auslösten. Fischer brachte Samir und Deckert zusammen und überzeugte die SBB davon, nicht durchgängig auf maximale Rendite zu setzen, sondern auch Bauvolumen abzustellen für kleine Läden – und für ein Kino- und Kultur­zentrum. Das Projekt «Kosmos» war geboren. Deckert und Samir wurden Partner.

Die beiden erhielten von den SBB sehr attraktive Miet­konditionen und brachten gemeinsam das notwendige Startkapital von gut 5,5 Millionen Franken auf. Engagiert haben sich vornehmlich finanziell gut gestellte Vertreter des Zürcher Kultur­establishments: Samir und Deckert selbst, die Filmregisseurin Stina Werenfels, die mit Samir verheiratet ist, der Verleger und Schauspieler Patrick Frey, der Architekt Mike Guyer, der Filmemacher Ruedi Gerber, total rund 30 Personen bis hin zum Aargauer SP-Nationalrat Cédric Wermuth.

Im Sommer 2017 eröffnete das «Kosmos» und ist seither der place to be fürs aufgeschlossene urbane Publikum. Die Kultur­veranstaltungen – Lesungen, Debatten­formate wie «Kosmopolitics» oder der «Feministische Salon» – laufen in der Regel gut, das Bistro ist beliebt. Viel Kultur, viel Links­prominenz, viel GLP. Im «Kosmos» wird die Zürcher Agenda der kulturellen Hipness definiert.

Das weckt Begehrlichkeiten.

Machtzentrum der linksliberalen Blase

Wer den Putsch an der General­versammlung der Kosmos-Kultur AG am vorletzten Donnerstag besser verstehen will, muss in der «NZZ am Sonntag» vom 24. Februar 2018 blättern: «Wer hat die Macht in Zürich?» lautete der Printtitel eines gross aufgemachten Artikels, der den erstaunlichen Satz enthielt: «Das neue Kulturhaus Kosmos ist ein guter Ort, um etwas über Zürcher Macht­mechanismen zu lernen.» Die Begründung? «Man trifft ständig auf lokale Kreativ­prominenz, natürlich geht hier auch Samirs Frau, die Regisseurin Stina Werenfels, ein und aus. Es ist, als hätte dieses Milieu auf einen solchen Anziehungs­punkt gewartet.» Das «Kosmos» ist also laut «NZZ am Sonntag» das Macht­zentrum der kreativen, linksliberalen Blase. Und das bürgerliche Gegenstück laut der Zeitung: der Rotary-Club, wo sich die Schwer­gewichte der Schweizer Wirtschaft vernetzen. Nur leider ohne jeden Hipness-Faktor.

Bereits kurz nach der Eröffnung des «Kosmos» versuchte die NZZ-Gruppe, indirekt einen Fuss in die Tür des Hipster­tempels zu bekommen: Das Zurich Film Festival (ZFF), das seit 2016 mehrheitlich der NZZ gehört, wollte das «Kosmos» als Austragungsort gewinnen.

Geschäftsführer Martin Roth, der die Verhandlungen mit dem ZFF führte, geriet sich darob mit Samir in die Haare, der keinen «Blingbling-Grossanlass» im «Kosmos» wollte. Auch Deckert, Werenfels und Gerber waren skeptisch. Weil aber Samir der Wortführer der Skeptiker war und dem ZFF bloss die Austragung der Dokumentarfilm­reihe anbot (was das Festival wiederum nicht wollte), war die Beziehung zwischen Roth und Samir fortan belastet. Zwischen Samir und Deckert wiederum kam es im September 2017 erstmals zu Spannungen, weil Samir beim Film­programm des «Kosmos» mit der direkten Konkurrenz, der Neugass Kino AG, kooperieren wollte und Bruno Deckert nicht.

Die Streitigkeiten fressen sich in der Folge immer tiefer ins «Kosmos» hinein und spalten den Verwaltungsrat schliesslich in zwei Lager. Auf der einen Seite: der Vize-Verwaltungsrats­präsident Samir mit Stina Werenfels sowie Grossaktionär Ruedi Gerber. Auf der anderen Seite: Co-Gründer Bruno Deckert als Verwaltungsrats­präsident, Geschäfts­führer Martin Roth, der bis zum grossen Showdown ebenfalls dem Verwaltungsrat angehörte, sowie die beiden Verwaltungsräte Heinz Göldi und Martin Volkart.

Das Deckert-Lager wirft Samir vor, er mische sich viel zu sehr ins operative Geschäft ein, insbesondere in die Kino­programmierung, er respektiere Zuständigkeiten nicht. Was dadurch begünstigt wird, dass die Firma über kein Organisations­reglement und keine Pflichten­hefte verfügt und Samir, Deckert und Roth bis heute nicht einmal Arbeits­verträge haben.

Als die Stimmung noch gut war: Bruno Deckert (links) und Samir kurz vor der Eröffnung im September 2017. Walter Bieri/Keystone

Samir bestreitet nicht, dass er habe mitreden wollen: Er ist eine der zentralen Figuren der Schweizer Film­industrie, hat eine internationale Reputation als Dokumentar­filmer und Regisseur und verfügt in Zürich über ein breites Netzwerk. Vielleicht sorgt ja auch für Irritationen, dass Samir wesentlich prominenter ist als seine Mitstreiter und dass das «Kosmos» hauptsächlich mit seinem Namen verbunden wird. Unbestritten ist allerdings auch, dass Samir die Nerven aller Beteiligten immer wieder hart auf die Probe stellte.

Seinerseits wirft Samir der Gegenpartei und insbesondere der Geschäfts­leitung vor, sie habe die prekäre finanzielle Lage des «Kosmos» nicht im Griff und sei zu wenig reaktiv. Kompliziert wird die Situation dadurch, dass Samirs Frau Stina Werenfels der Kosmos-Kultur AG ein substanzielles ungesichertes Darlehen gewährt hat, für das man ihr im Gegenzug vertraglich garantierte, dass entweder sie selbst oder ein von ihr bestimmter Vertreter Anspruch auf einen Sitz im Verwaltungsrat hat.

Im Dezember 2018 stellt Samir dem Verwaltungsrat den Antrag, im Kinobereich des «Kosmos» als Delegierter des Verwaltungsrats handeln zu können. Der Verwaltungsrat behandelt den Antrag nicht. Ende Januar 2019 reicht Samir denselben Antrag nochmals ein, untermauert mit einem Report für Verbesserungs­möglichkeiten im Kinobereich. Der Verwaltungsrat geht erneut nicht darauf ein. Dafür verbietet Bruno Deckert in seiner Funktion als Verwaltungsrats­präsident dem Co-Gründer, seine Kritik am schwächelnden «Kosmos»-Kinoprogramm weiterhin in den Verwaltungsrat zu tragen.

Ab diesem Moment läuft alles auf Eskalation hinaus.

Ende März schickt Bruno Deckert eine E-Mail an alle Verwaltungsräte – ausser an Samir und Stina Werenfels. Darin schreibt er, der Geschäfts­führer Martin Roth sei «fast nicht mehr handlungs­fähig» und werde von der «Causa Samir derart absorbiert, dass vieles liegenbleibt». Bruno Deckerts Forderung: Entweder halte sich Samir künftig aus dem operativen Geschäft heraus, oder er müsse den Verwaltungsrat verlassen. Das ist der Bruch.

Uneinigkeit über den Geschäftsgang

Den epischen Konflikten im Verwaltungsrat stehen die real existierenden Nöte eines Start-ups gegenüber: Die Kosmos-Kultur AG ist noch nicht über den Berg. Statt der ursprünglich geplanten 12 Millionen Franken Umsatz schafft das «Kosmos» derzeit knapp 9 Millionen pro Jahr.

Die Kinoauslastung liegt unter den anvisierten 20 Prozent, das Bistro läuft zwar gut, blieb aber während der langen Hitzemonate des letzten Sommers ebenfalls gähnend leer, der Buchladen ist ein beliebter Aufenthaltsort, macht aber zu wenig Umsatz und jährlich 200’000 bis 300’000 Franken Verlust.

Gemäss dem Geschäfts­bericht liegt der Jahres­verlust 2018 der Kosmos-Kultur AG bei 1’165’000 Franken, etwas tiefer als der Jahres­verlust 2017. Zur Sanierung der Bilanz wurde im letzten Jahr eine Kapital­erhöhung durchgeführt und das Eigen­kapital auf 8 Millionen Franken aufgestockt.

Dennoch bleibt die Situation angespannt: Der gesamte Bilanz­verlust beläuft sich jetzt auf 3,9 Millionen Franken. Wenn er die Grenze von 4 Millionen, also 50 Prozent der Eigenmittel, überschreitet, müssen nach Obligationen­recht zwingend Sanierungs­massnahmen eingeleitet werden. Das «Kosmos» hat das Messer am Hals: ein Traumobjekt für einen unfriendly take-over.

Sagt die eine Seite. Die andere Seite hingegen, die um Bruno Deckert und Geschäftsführer Martin Roth, sieht das «Kosmos» ökonomisch auf Kurs. Bei den Einnahmen liege man derzeit 300’000 Franken über Budget, das Schlechtreden des Geschäftsgangs sei bösartig und geschäftsschädigend.

Ein letzter Anlauf zum Kompromiss

Zunächst deutete alles darauf hin, dass sich die zerstrittenen Lager in letzter Minute nochmals zusammen­raufen können. Mithilfe einer Mediatorin, mit der man sich am 11. Juni in Brunnen, Kanton Schwyz, zu Gesprächen und zwei Workshops getroffen hat, wurde kurz vor der General­versammlung zwar kein vollständiger, aber doch ein weitgehender Kompromiss gefunden.

Am 18. Juni, also nur zwei Tage vor der General­versammlung, sandte Bruno Deckert im Namen des Verwaltungsrats eine E-Mail an alle Aktionäre. Sie enthielt die Liste der Verwaltungsräte, auf die sich die Parteien geeinigt hatten. Sie umfasst die beiden Gründer Bruno Deckert und Samir sowie zwei Frauen, die neu dazugekommen wären und frischen Wind in das Unter­nehmen hätten bringen sollen: die Unternehmens­beraterin, Organisations­entwicklerin und Rechts­anwältin Monika Binkert und die Gastro­unter­nehmerin Simone Müller-Staubli. In der E-Mail ist vermerkt, dass eigentlich noch eine fünfte Person zu bestimmen sei, ein Finanz­spezialist, auf den man sich aber noch nicht habe einigen können, weshalb seine Wahl verschoben werde.

Die E-Mail liegt der Republik vor.

Am 19. Juni geht eine weitere E-Mail an alle Aktionäre, diesmal mit dem Absender des Samir-Lagers im Verwaltungsrat, unterzeichnet von Samir selbst, Stina Werenfels und Ruedi Gerber. Die drei bestätigen die Viererliste, geben jedoch ihrer Sorge um die finanzielle und betriebliche Situation Ausdruck und schlagen vor, den Anwalt Balthasar Wicki als Vertreter von Werenfels und Grossaktionär Ruedi Gerber zusätzlich in den Verwaltungsrat aufzunehmen.

Auch diese E-Mail liegt der Republik vor.

Kurzum: Es gab also einen Mehrheits- und einen Minderheits­vorschlag, über den die Aktionäre hätten befinden müssen. Aber auch die Viererliste – mit Samir und Bruno Deckert –, auf die sich beide Seiten verständigt hatten. Das Schlimmste schien vermieden. Man würde sich finden.

Doch es kam: der grosse Showdown. Der Tag begann schon schlecht, weil sich am Morgen des 20. Juni, nur wenige Stunden vor der GV, Simone Müller-Staubli, die erfahrene Gastro­unternehmerin aus Luzern, plötzlich selbst aus dem Rennen nahm. Eine Kandidatin, über die sich alle einig sind – und ganz plötzlich sagt sie in aller­letzter Sekunde: Nein, doch lieber nicht?

Am Telefon gibt sie der Republik Auskunft über ihre Gründe für den Rückzug. Sie sei von keiner Seite zur Aufgabe gedrängt worden, und sie wolle und könne auch für keine der beiden Seiten Partei ergreifen. Die beiden E-Mails der Verwaltungsräte Bruno Deckert und Samir Jamal Aldin hätten ihr vor Augen geführt, dass es in dem Betrieb viele Probleme gebe, über die sie nicht ausreichend informiert gewesen sei. Sie habe nicht gewusst, dass über das Vierer­ticket hinaus noch keine Einigkeit bestanden habe – das habe sie erst den E-Mails entnommen. Es habe sie auch niemand über das ungesicherte Darlehen von Stina Werenfels und den sich daraus ergebenden Vertretungs­anspruch informiert. Somit habe sie zu wenig Kenntnisse gehabt, um im Verwaltungsrat Verantwortung übernehmen zu können.

Da warens also nur noch drei Verwaltungsräte, über die Konsens herrschte. Oder jedenfalls zu herrschen schien.

Zugleich drohte auch Kandidatin Monika Binkert abzuspringen, empört über die E-Mail von Samir, Werenfels und Gerber. Derart verworren präsentierte sich die Lage – am Tag der GV.

Verspätet, statt wie geplant um 17.30 erst gegen 18 Uhr, beginnt im «Kosmos» die General­versammlung. Sie verkommt zum obligationen­rechtlichen Popcorn-Kino. Die Republik hat mit über einem Dutzend Personen geredet, die anwesend waren, und kann aus den überein­stimmenden Aussagen die Geschehnisse zuverlässig und im Detail rekonstruieren.

High Noon – und ein Fremder

Bereits der Start gestaltet sich hürdenreich: Als Samir als Vize rechts neben dem Verwaltungsrats­präsidenten Bruno Deckert Platz nehmen will, sitzt auf diesem Stuhl bereits ein unbekannter Herr mittleren Alters, der das Feld partout nicht räumen will. Auf die Frage «Und wer sind Sie?» verweigert er die Auskunft. Erst nach längerem Hin und Her ist der mysteriöse Fremde bereit, den Platz links von Deckert einzunehmen und Aufklärung zu geben über seine Identität und den Grund seiner Anwesenheit. Er stellt sich als Rechtsanwalt Dr. André E. Lebrecht vor und wird fortan über die ganze Dauer der General­versammlung dem Verwaltungsrats­präsidenten Anweisungen ins Ohr flüstern wie ein Strafverteidiger in einem Prozess. Es entsteht Verwirrung, wer den Anwalt mandatiert hat. Deckert behauptet erst, es sei der Verwaltungsrat, was aber offensichtlich nicht zutrifft, da ein Teil des Verwaltungsrates darüber nicht informiert ist. Schliesslich gibt er zu Protokoll, es handle sich um seinen persönlichen Anwalt.

Alle Zeugen beschreiben eine Wildwest-Atmosphäre, in der die eine Seite rückblickend sagt, man habe sich um Verfahrens­regeln nur noch am Rande gekümmert, und die andere Seite, es sei alles getan worden, um die GV zum Absturz zu bringen. Ruedi Gerber forderte ein Wortprotokoll, was vom Verwaltungsrats­präsidenten verweigert wird. Obligationen­rechtlich steht dem Präsidenten das nicht zu, aber es kümmert niemanden. Gerber fordert im Weiteren eine ordentliche Revision des Geschäfts­berichtes 2018, die ihm ebenfalls verweigert wird – bis schliesslich der anwesende Revisions­experte darauf hinweist, dass einem Grossaktionär (Gerber hält über 10 Prozent) diese Forderung eigentlich gar nicht verweigert werden kann.

In diesem Moment hat noch ein neuer Mitspieler einen unerwarteten Auftritt: Ständerat Ruedi Noser, der ebenfalls «Kosmos»-Aktien für 50’000 Franken hält. Lauthals kommentierend, immer wieder das Wort ergreifend, bittet er Gerber, um Himmels willen keine ordentliche Revision zu verlangen. Für einen Betrieb von der Grösse des «Kosmos» sei eine eingeschränkte Revision genügend, alles andere würde unverhältnis­mässig hohe Kosten verursachen. Noser sagt auf Anfrage zur Generalversammlung bloss: «Ich habe gestaunt, was da abging.»

Weitere bizarre Momente folgen: Während seiner Präsentation des Geschäfts­gangs macht Martin Roth unaufgefordert den Vorschlag, das Darlehen von Stina Werenfels sofort zurück­zuzahlen. Aber wie? Roth sagt, aus dem Betriebskredit – und muss offenbar darauf hingewiesen werden, dass es illegal wäre, einen Betriebs­kredit dafür zu verwenden. Warum ist es so wichtig, Stina Werenfels sofort auszuzahlen? Aus dem Deckert-Lager heisst es, zerstrittene Aktionäre führten für eine Firma zu einer bedrohlichen Situation, die man möglichst lösen müsse. Bloss: Woher sollen die Mittel kommen, um das Darlehen zu tilgen? Diese Frage bleibt unbeantwortet.

Doch dann scheint plötzlich alles wieder Sinn zu machen.

Wer ist der Boss?

Man schreitet zur Wahl des neuen Verwaltungsrats. Erster Coup: Bruno Deckert, der vor zwei Tagen noch ein Ticket propagierte, das beide Gründer umfasst, ihn und Samir, erklärt seinem Vize: «Ich kann und will nicht mehr mit dir zusammen­arbeiten.» Er fügt hinzu, er schlage ein neues Team vor – und erteilt Edwin van der Geest das Wort. Nicht der amtierende Präsident Deckert präsentiert seinen Vorschlag, sondern der bis dahin praktisch allen Aktionären unbekannte Kommunikations­spezialist van der Geest stellt sein Team vor, in dem auch Deckert noch ein Plätzchen erhalten soll. Alle Zeugen dieser Szene sagen, der vor Jovialität triefende Auftritt des Übernahme­experten van der Geest habe exakt eine Message gehabt: Der Boss bin ich.

Und tatsächlich: Er ist der Boss. Das Van-der-Geest-Ticket gewann die Wahl, zur völligen Verdatterung des Samir-Lagers, das glaubte, über eine knappe Mehrheit zu verfügen.

War es ein sorgfältig vorbereiteter Coup? Ein Zeuge sagt gegenüber der Republik, ihm sei schon über eine Woche vor der General­versammlung zugetragen worden, dass van der Geest Kapital beschaffen werde – viel Kapital, genug, um sowohl den Kredit von Stina Werenfels zurück­zuzahlen als auch das Aktien­paket von Ruedi Gerber zu übernehmen. Ein anderer Zeuge bestätigt: Der Versuch eines Aufkaufs der Gerber-Aktien stehe im Raum. Ein Hinweis auf voraus­schauende Planung ist auch die Tatsache, dass der Financier Erhard Lee, ein weiterer Gründer der «Freunde der NZZ» und langjähriger Komplize von van der Geest, in dieser Geschichte auftaucht.

Lee wurde nach Informationen der Republik von Bruno Deckert und Martin Roth ebenfalls schon über eine Woche vor der General­versammlung als möglicher Verwaltungsrat ins Spiel gebracht. Im Deckert-Lager wird bestätigt, man habe Lee als Finanzspezialist an Bord holen wollen. Aber warum bekennt sich Deckert am Dienstag zu einem Verwaltungsrats­ticket mit Samir und erklärt am Donnerstag an der General­versammlung, er könne unmöglich mit ihm zusammen­arbeiten? Bloss, weil am Mittwoch das Schreiben des Samir-Lagers an die Aktionäre ging?

Abgesehen von der Darstellung des sorgfältig vorbereiteten Coups, welche die gewählten Verwaltungsräte unisono bestreiten, wird auch noch eine andere Erzählung herumgereicht: die des geschäftlich naiven Bruno Deckert, der sich von einem eloquenten Finanzmann blenden lässt, fasziniert ist von seiner Weltläufigkeit und seiner Business­kompetenz – und der ohne einen Begriff davon zu haben, was da eigentlich gespielt wird, zum Einfallstor geworden ist für mächtige Player mit eigener Agenda.

Alles entscheidend für die neuen Mehrheits­verhältnisse waren die Stimmen, die der abwesende Aktionär und «Kosmos»-Wegbereiter Steff Fischer an seinen Vertreter delegiert hat, den Architekten Mark Burkhard. Steff Fischer hält 5 Prozent des Kapitals, und seine Stimme fiel in den entscheidenden Momenten dem Van-der-Geest-Lager zu. Sie gaben den Ausschlag. «Ich liess mich vertreten an der General­versammlung, und mein Vertreter hat für mich gehandelt. Das Ergebnis ist ein mehr oder weniger knapp gewählter Verwaltungsrat, den niemand wirklich wollte», schrieb Fischer diese Woche auf seinem Facebook-Profil. «Niemand war an diesem Abend in der Lage, kühlen Kopf zu bewahren. Genau dies wollte ich im Vorfeld verhindern.»

An Hinweisen, warum jetzt offenbar er das Heft in der Hand hat, liess es van der Geest an der General­versammlung nicht fehlen. Wir sind doch hier unter Freunden, wir kennen uns doch schon seit dem Freien Gymnasium, ich habe dich so gern, gurrte er Stina Werenfels an. Und: Wegen des Darlehens brauche sie sich nicht zu sorgen. Es gebe genug Leute, die sich für das «Kosmos» engagieren wollten.

An dieser Stelle – das muss man dem Raider lassen – ist er sehr glaubwürdig. Edwin van der Geest selbst ist zwar vorderhand nur mit 150’000 Franken beim «Kosmos» engagiert. Erhard Lee hält weitere 100’000 Franken. Van der Geest hat bei der Aktienkapital-Erhöhung aufgestockt, Lee ist neu dazugekommen. Auch die Frau des Van-der-Geest-Kumpanen und Dynamics-Group-Senior-Partners Andreas Durisch hält eine Aktie.

Geschäftliches mit dem Politischen verbinden

Alles in allem sind das bescheidene Anteile, die der Trupp der «Freunde» bis anhin mobilisieren kann. Aber wenn es natürlich darum gehen sollte, potente Kapital­geber zu akquirieren für eine Kredit­rückzahlung oder eine Aktienkapital­erhöhung, dann hat niemand bessere Netzwerke in Zürich als Edwin van der Geest. Gehört nicht Privatbankier, Chef-Propagandist und SVP-Schwergewicht Thomas Matter zu den «Freunden der NZZ»? Wird van der Geest nicht nachgesagt, eine der bestvernetzten Figuren in der Schweizer Private-Equity-Szene zu sein?

Und hat er nicht bewiesen, als er 2013 als aktiver Aktionärs­vertreter versuchte, die NZZ dazu zu bringen, ihre Aktien­vinkulierung abzuschaffen und dadurch ihr Kapital für SVP-Partei­mitglieder zu öffnen, dass er das Geschäftliche mit dem Politischen zu verbinden weiss? Edwin van der Geest kennt jede Menge Leute, die sich in der Kosmos-Kultur AG gerne engagieren würden, ohne Zweifel. Die Frage ist nur: wofür?

Ist geplant, das Samir-Lager so nachhaltig zu vergrämen, dass es seine Aktien­anteile verkauft? Dann würden sich die Mehrheits­verhältnisse sofort ändern. Doch selbst wenn die bisherigen Aktionäre stur bleiben und nicht verkaufen wollen: Die nächste Aktienkapital­erhöhung dürfte bald unumgänglich werden, so prekär finanziert, wie die Kosmos-AG heute ist.

Warum sollte der «Freund der NZZ» so etwas wollen? Warum sollte er die Kontrolle übernehmen über den «Anziehungs­punkt der Kreativ­prominenz», wie viele «Kosmos»-Aktionäre jetzt befürchten? Erstens, weil das «Kosmos» Definitions- und Agendasetting-Macht hat – eine Macht, die an der Falkenstrasse schon fast grotesk hochstilisiert wird, wie der «NZZ am Sonntag» zu entnehmen war. Zweitens, weil Eventräume an der Europaallee extrem heisse Ware sind. Zwar gehörte der AG die «Kosmos»-Immobilie nicht, sie ist nur zur Miete bei den SBB. Aber sie hat einen zwanzig Jahre laufenden, extrem vorteilhaften Mietvertrag. Was man da nicht alles verdienen könnte mit einem Luxus-Coworking-Space, einem kleinen Konferenz­saal für Investoren­seminare, mitten an der teuersten und heissesten Business­meile der Stadt? Drittens ist die NZZ selber stark am «Kosmos» interessiert. Das Medienhaus setzt immer offensiver auf das Event­geschäft, und das «Kosmos» ist eine hippe, attraktive Location, ein Ort, der zukunfts­weisender und cooler ist als jede andere Zürcher Adresse.

Es ist ja auch nichts einzuwenden dagegen, dass an einem Ort wie dem «Kosmos» die verschiedensten Angebote bestehen, dass neben den Reihen, die sich an ein linksprogressives Publikum richten, und Podien, die primär ein grünliberales Publikum anziehen, die NZZ einen rechts­bürgerlichen Akzent setzt. Sind wir nicht alle auf Pluralismus verpflichtet? Doch an dieser Stelle wird es kompliziert. Denn es scheinen sich heute um hippe Locations dieselben Kämpfe zu entspinnen, die bisher vornehmlich um Medien geführt wurden: Man erobert die Kontrolle über einen prestige­trächtigen Titel, gibt ihm eine neue ideologische DNA – und merzt aus, was nicht dazu passt.

«Attraktive Location»

Der Republik wird während der Recherchen zu den Vorgängen im «Kosmos» der Entwurf eines Vertrags zugespielt, der eine Kooperation zwischen der Event­sparte NZZ Live und der Kosmos-Kultur AG vereinbaren soll. Die NZZ führt bereits heute regelmässig Veranstaltungen im «Kosmos» durch, die nächste am kommenden Mittwoch. Laut Vertrag sollte «eine längerfristige Kooperation angestrebt» werden, «in der das Kosmos als regelmässige Partner-Location für NZZ Live etabliert werden soll». Der Vertrag enthält allerdings eine Exklusiv­klausel. Unter «Leistungen Kosmos» wird aufgeführt: «Kosmos verzichtet darauf, ähnliche Formate wie die geplanten mit anderen Veranstaltern oder Medien im Kosmos durchzuführen. Insbesondere der Buchclub mit Republik wird nicht fortgeführt.»

Der NZZ-Verlag strebte also eine Kooperation mit dem «Kosmos» an – unter der Bedingung, dass das «Kosmos» die Zusammen­arbeit mit der Republik beendet. Der Vertragsentwurf liegt der Republik vor.

Auf Anfrage heisst es von der NZZ-Medienstelle: «Bei Kooperationen dieser Art, auch bei Medien­partnerschaften, ist Branchen­exklusivität durchaus üblich – nicht nur bei der NZZ-Mediengruppe.» In der Antwort macht die NZZ auch kein grosses Geheimnis aus ihrem Interesse an der Lokalität: «Das ‹Kosmos› ist eine attraktive urbane Location, die auch ein jüngeres, vielseitig interessiertes Publikum anzieht. Von der Zielgruppe her sehen wir das ‹Kosmos› deshalb als ideale Ergänzung zu unseren bereits erfolgreich etablierten eigenen Räumlichkeiten an der Falkenstrasse.»

Liegt hier die eigentliche Bedeutung des Van-der-Geest-Coups? Wird die Kampfzone der ideologischen Auseinander­setzung jetzt auch auf Veranstaltungs­orte ausgedehnt? Tatsache ist: Diejenigen, die unter dem Banner des liberalen Pluralismus segeln, praktizieren de facto das Gegenteil. Der Vertrags­entwurf, der uns vorliegt, ist nicht paraphiert. Die «Kosmos»-Leitung hat die Exklusiv­klausel nicht akzeptiert. Dies bestätigt auch die NZZ: Auf Wunsch des «Kosmos» habe man inzwischen entschieden, auf die Exklusivitäts­klausel zu verzichten. Man darf die Frage stellen, ob das so bleiben wird unter dem Verwaltungsrats­team von Edwin van der Geest.

Wie geht es jetzt weiter?

Bruno Deckert will sich erst nächste Woche zu den Vorgängen äussern. Was Samir plant, ist nicht bekannt – vielleicht läuft das Ganze auf eine juristische Auseinander­setzung hinaus.

Steff Fischer nutzt das Vakuum, das die «Kosmos»-Gründer Samir und Bruno Deckert mit ihrem öffentlichen Schweigen schaffen, um hinter den Kulissen die Fäden zu ziehen. Gegenüber der Republik sagt er: «Van der Geest muss sofort aus dem Verwaltungsrat zurücktreten, ebenso Bruno Deckert.» Es gehe jetzt darum, dem «Kosmos» einen Neustart zu ermöglichen. Allerdings: Im Lager von Edwin van der Geest will man von Rücktritten nichts wissen, wohl aber heisst es, das jetzige Team sei eine «Übergangslösung». Die Rede ist von einem halben Jahr, bis sich die Lage beruhigt habe.

Sollte Steff Fischer die Seiten wechseln, hat das Samir-Lager erneut eine Mehrheit. Eine ausserordentliche General­versammlung könnte einberufen werden, alles würde wieder möglich. Das Ringen um das «Kosmos» bleibt ein offener Kampf. Auch bei einer Kapital­erhöhung kann alles wieder anders werden. Ein zweites Mal unterschätzen sollten die übertölpelten Alt-Linken ihren Gegen­spieler besser nicht. Feindliche Übernahmen sind schliesslich Edwin van der Geests Spezialgebiet.

Korrigendum: In der ersten Version des Artikels hiess es, dass «mehrere Mitarbeitende noch nicht einmal über Arbeitsverträge verfügen». Das «Kosmos» hat uns gebeten, zu präzisieren, dass dies konkret Bruno Deckert, Samir und Martin Roth betrifft.

Zur Transparenz

«Kosmos»-Wegbereiter und -Aktionär Steff Fischer ist auch Aktionär der Republik. Das Aktionariat ist hier öffentlich einsehbar.