Rechtsextremer gesteht Mord, Mexiko geht gegen Migranten vor – und Machtwechsel in Istanbul
Woche 26/2019 – das Kurzbriefing aus der Republik-Redaktion.
Von Ronja Beck, Oliver Fuchs und Christof Moser, 28.06.2019
Erdoğans Kandidat verliert wiederholte Wahlen in Istanbul
Darum geht es: Ekrem Imamoğlu wurde am Sonntag zum Oberbürgermeister von Istanbul gewählt. Der Vertreter der Mitte-links-Partei CHP gewann mit 54 Prozent der Stimmen vor seinem Konkurrenten Binali Yildirim von der Regierungspartei AKP. Imamoğlu war bereits bei den Kommunalwahlen am 31. März zum Bürgermeister von Istanbul gewählt worden. Auf Druck von Präsident Recep Tayyip Erdoğan widerrief die Wahlkommission jedoch kurz darauf die Wahlen mit dem Argument, es sei zu Unregelmässigkeiten gekommen. Dieses Vorgehen sorgte international für Sorge und Kritik.
Warum das wichtig ist: Imamoğlu hat erneut gewonnen – und das mit einem Abstand von 750’000 Stimmen wesentlich klarer als Ende März, als zwischen ihm und Yildirim nur 13’000 Stimmen lagen. Wie in Ankara muss die islamisch-nationalistische AKP nun auch in der Metropole Istanbul den Bürgermeistersitz räumen. Dieser Ausgang versetzt Erdoğan einen herben Schlag. Zum ersten Mal seit 25 Jahren hat seine AKP in beiden türkischen Metropolen das Sagen verloren. Von ihm, der seine politische Karriere als Bürgermeister seiner Heimatstadt Istanbul begann, stammt der Spruch: «Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei.» Jetzt stellt sich die Frage, wie lange er die Türkei noch zu halten vermag.
Was als Nächstes geschieht: Dass Erdoğan erneut eine Annullierung der Wahl erwirken wird, ist unwahrscheinlich, denn das würde seine Position weiter schwächen. Und so hat der türkische Präsident dem Wahlsieger Imamoğlu noch vor der Verkündung des offiziellen Resultats auf Twitter gratuliert. Imamoğlu profitierte laut Beobachtern unter anderem von der andauernden wirtschaftlichen Krise. Dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, ist für Erdoğan essenzieller denn je, will er Präsident bleiben.
Der Tatverdächtige im Mord an Walter Lübcke gesteht
Darum geht es: Im Fall des erschossenen Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke wurde vergangene Woche eine Person verhaftet. Nach tagelangem Schweigen hat der Hauptverdächtige Stephan E. in der Nacht auf Mittwoch seine Tat gestanden. Dies hat der Generalbundesanwalt in einer Sondersitzung des Innenausschusses in Berlin erklärt. In der Folge konnten zwei weitere Personen verhaftet werden. Ihnen wird Beihilfe zum Mord vorgeworfen.
Laut Informationen verschiedener deutscher Medien reagierte Stephan E. mit der Tat auf eine Rede Lübckes von 2015. Damals plädierte der CDU-Mann Lübcke für einen humanen Umgang mit Geflüchteten und erhielt in der Folge Morddrohungen. E. soll bei dieser Rede anwesend gewesen sein und soll ebenfalls online gehetzt haben. Komplizen habe er nach eigenen Angaben keine gehabt.
Warum das wichtig ist: Nach seiner Verhaftung wurde Stephan E. von verschiedenen Medien als einschlägig vorbestrafter Rechtsextremist enttarnt. Nach seinem Geständnis sehen mehrere Abgeordnete des Innenausschusses wie auch Innenminister Horst Seehofer den Mord als politisch motiviertes Attentat eines Rechtsextremisten bestätigt. Die Bundesanwaltschaft bewertet die Tat gleich und bleibt für die Ermittlungen zuständig. Sollte sich dieser Tathintergrund bewahrheiten, wäre es der erste Mord eines Rechtsextremisten an einem deutschen Politiker seit 1945. Mit den neusten Erkenntnissen wurde auch Kritik laut an der AfD. Die Partei sei zumindest indirekt für die Tat verantwortlich, sagte CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer in der Talkshow «Anne Will». Die AfD zeigte sich empört: Sie sieht die Schuld bei der «illegalen Grenzöffnung» von Angela Merkel und dem «Massenzustrom an Migranten».
Was als Nächstes geschieht: Der Generalbundesanwalt hat nach der Sondersitzung weitere Ermittlungen angekündigt. Dazu gehörten die Suche nach weiteren Mitwissern und Mittätern sowie die Überprüfung, ob eine terroristische Vereinigung in die Tat involviert war. Verschiedene Politiker fordern derweil Konsequenzen. Irene Mihalic plädierte für eine eigene Taskforce im Fall Lübcke und dafür, mögliche Verbindungen von E. zum Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) zu klären. Die SPD verlangt zudem die Offenlegung der NSU-Untersuchungsakten, die teilweise für 120 Jahre unter Verschluss stehen. Innenminister Horst Seehofer wiederum prüft ein Verbot der rechtsextremen Gruppe Combat 18, mit der Stephan E. in Kontakt gestanden sein soll.
Berner Top-Beamter soll Geheimnisverrat begangen haben
Darum geht es: Stefan Brupbacher, ehemaliger Generalsekretär des Wirtschaftsdepartements von Alt-Bundesrat Johann Schneider-Ammann (FDP), soll Ende 2018, kurz vor seinem Wechsel in die Privatwirtschaft, vertrauliche Informationen aus der Aussenpolitischen Kommission (APK) weitergegeben haben. Und zwar an seinen künftigen Arbeitgeber: den Industrieverband Swissmem, dessen Direktor er heute ist.
Warum das wichtig ist: Der «Tages-Anzeiger» hat diese Woche den Mailverkehr publik gemacht, in dem Brupbacher den Industrieverband vor einem Vorstoss von SVP-Nationalrat Andreas Aebi warnte: «Am Montag wird in der APK ein Antrag von Aebi behandelt. Es wäre super, wenn ihr den einen oder anderen Parlamentarier aus CVP und SVP, der euch nahesteht, aufklären könnt, dass der Antrag desaströs ist», schrieb Brupbacher der Swissmem. Der frühere FDP-Generalsekretär lobbyierte damit gegen eine Motion von Aebi, der das Freihandelsabkommen mit Indonesien unter strengere Regeln stellen wollte. Brupbachers Vorgehen ist ein schwerer Verstoss gegen die Regeln des Parlaments: Kommissionssitzungen sind vertraulich. Entsprechend harsch fielen die Reaktionen aus: «So funktioniert Wirtschaftspolitik in diesem Land schon lange. Der Freisinn begreift das Staatswesen immer noch als sein Privateigentum», kritisierte zum Beispiel SP-Nationalrat Cédric Wermuth. Der Fall Brupbacher sei kein Einzelfall, vielmehr hätten die Vermischung von Interessen und verstecktes Lobbying im Bundeshaus System: «Jetzt, wo wir einen konkreten Fall haben, müssen wir als Parlament handeln. Tun wir es nicht, akzeptieren wir implizit, dass die Verwaltung die Spielregeln bricht.»
Was als Nächstes geschieht: Brupbacher, der die Anschuldigungen gegenüber dem «Tages-Anzeiger» als «falsch und grotesk» bezeichnete, droht eine Anzeige.
Das Atomabkommen mit dem Iran ist so gut wie tot
Darum geht es: Am Montag hat Donald Trump weitere Sanktionen gegen den Iran verhängt. Dieses Mal richten sich die Massnahmen an das geistige Oberhaupt Ayatollah Ali Khamenei und sein engstes Umfeld. Die Sanktionen sollen die Funktionäre am Zugang zum internationalen Bankensystem hindern. Der iranische Präsident Hassan Rohani bezeichnete die Sanktionen als «Zeichen geistiger Behinderung». Gleichzeitig rechnet der Iran damit, bald die Grenze von 300 Kilogramm angereichertem Uran zu überschreiten und damit das Atomabkommen zu brechen.
Warum das wichtig ist: Trumps jüngste Offensive folgte auf den noch ungeklärten Angriff auf zwei Öltanker im Golf von Oman und den Abschuss einer US-Drohne. Letzteres bewog den US-Präsidenten vergangene Woche beinahe zu einem militärischen Angriff, den er im letzten Moment abpfiff. Die aktuellen Sanktionen betreffen Khamenei zwar nur gering und werden von Beobachtern als symbolisch bewertet. Doch auf beiden Seiten verschärft sich der Ton zunehmend. Trump drohte, den Druck auf den Iran zu erhöhen, sollte er sein Atomprogramm weiterhin hochfahren. Auf Twitter schrieb der US-Präsident gar von «Auslöschung». Der von US-Sanktionen in die Ecke gedrängte Iran erwartet bis zum 7. Juli einen Vorschlag zur Umgehung der Sanktionen von den europäischen Vertragsparteien des Atomabkommens. Sonst würde man gegen weitere Auflagen des 2015 aufgesetzten Vertrages verstossen, verkündete Ali Shamkhani vom Obersten Nationalen Sicherheitsrat am Dienstag.
Was als Nächstes passiert: Der Uno-Sicherheitsrat forderte diese Woche Massnahmen zur Deeskalation und ein Festhalten am Abkommen. Es herrscht die Befürchtung, der Iran könnte in naher Zukunft atomare Waffen produzieren. Die iranische Regierung entgegnete, die atomare Energie rein für zivile Zwecke gebrauchen zu wollen. Europa gerät in der Sache zunehmend unter Druck – auch angesichts der Tatsache, dass der Iran das Abkommen bald seinerseits brechen könnte.
USA und Mexiko gehen immer härter gegen Migranten vor
Darum geht es: Präsident Donald Trumps Druck und seine Sanktionsdrohungen zeigen Wirkung. Mexiko hat in den vergangenen Tagen 15’000 Soldaten und Nationalgardistinnen an die Grenze zu den USA verlegt. Das teilte der mexikanische Verteidigungsminister am Montag mit. Auch an der Südgrenze zu Belize und Guatemala habe man die Kontrollen und das Personal verstärkt. In den USA werden derweil so viele Migrantinnen festgenommen, dass sie in eilig errichteten Zeltcamps untergebracht werden müssen.
Warum das wichtig ist: Die Trump-Regierung droht immer wieder mit Wirtschaftssanktionen, sollte Mexiko südamerikanische Migranten nicht konsequent von der Durchreise in die USA abhalten. Gegen das harte Vorgehen der beiden Regierungen regt sich beiderseits der Grenze politischer Widerstand. In den USA beherrscht das Foto von Oscar Alberto Martínez und seiner knapp zweijährigen Tochter die Schlagzeilen. Die beiden sind am Sonntag im Grenzfluss Rio Grande ertrunken. Die Mutter, Tania Avalos, sagte der Fotografin des Bildes, dass sie den Tod ihres Mannes und ihrer Tochter habe mitansehen müssen. Aktivisten werten diese und weitere Tragödien als direkte Folge der verschärften Grenzkontrollen, welche Migranten dazu brächten, immer gefährliche Überquerungen zu wagen.
Was als Nächstes geschieht: Solange in den USA die Republikanische Partei den Senat und das Weisse Haus kontrolliert, dürfte sich am harten Kurs gegenüber Migrantinnen wenig ändern. Möglich ist allerdings, dass die Gerichte zumindest gewisse Auswüchse bremsen, wie bei der Familientrennung an der Grenze bereits geschehen. Anders in Mexiko, wo die nominell linke Regierung des Präsidenten Andrés Manuel López Obrador eine schwierige Gratwanderung versucht, die jederzeit kippen kann. Mexikos Immigrations-Verantwortlicher ist bereits Mitte Juni aus Protest gegen die verschärfte Migrationspolitik zurückgetreten.
Zum Schluss: Die Leiden des jungen Weber
Zeit für einen kleinen Zwischenstand zur Lage in Brüssel nach der Europawahl. Dort ringen die Staatschefs weiter darum, wer den Posten des Kommissionspräsidenten von Jean-Claude Juncker übernehmen wird. Dafür haben sie ihm oder ihr das Pflichtenheft im Amt schon weitgehend vorgegeben. Würden sie sich nach dem sogenannten Spitzenkandidaten-Modell richten, dann wäre der Fall klar: Der deutsche Manfred Weber hat mit seiner EVP-Fraktion am meisten Sitze und wäre damit Favorit. Aber mehrere Staaten, darunter Frankreich, schliessen seine Wahl kategorisch aus. Seine Parteifreundin Angela Merkel hat über das Wochenende die Niederlage so gut wie eingestanden. Am Dienstag wurde dann auch im Parlament deutlich, dass Weber nicht mehrheitsfähig ist. Bleibt der Spitzenkandidat der Sozialisten, der Niederländer Frans Timmermans. Doch auch seine Aussichten schwinden täglich. Am Sonntag will Ratspräsident Donald Tusk an einem Abendessen in Brüssel die Staatschefs zur Einigung bewegen. Ein Frühstück am Montagmorgen ist ebenfalls bereits fest eingeplant, sollten sich die EU-Granden in der Nacht nicht einig werden.
Topstorys
Konter. In einem Gastkommentar in der NZZ stellt der deutsche Journalist Wolfgang Bok die «Mainstream-Medien» in die linksgrüne Ecke. Das Medienkritik-Portal «Übermedien» hat sich den Text ganz genau angeschaut – und entdeckte Ungenauigkeiten, falsche Zitate und veraltete Studienergebnisse.
Jobprofil. Haben Sie sich schon mal gefragt, wie das so wäre, als Assistent von Popstar Beyoncé zu arbeiten? Nein? Sie sollten sich trotzdem durch den viralen Twitter-Thread eines Beyoncé-Fans klicken. Auch wenn Sie, scheue Prognose unsererseits, bei diesem Test vermutlich scheitern werden.
Kennen Sie Major Pete? Bürgermeister Pete Buttigieg ist im USA-Vorwahlkampf der Demokraten quasi aus dem Nichts zum ernsthaften Kandidaten aufgestiegen. Schwuler Politiker im konservativen Bundesstaat Indiana, schlagfertig und Millennial – nicht schwer zu erklären, warum die Medien viel und gerne über ihn berichten. Doch nun holt Buttigieg seine Heimatstadt ein. Dort schwelt ein Streit um Rassismus in der Polizei. Und der Medienliebling gerät in die Defensive. «Slate» erklärt in einem hörenswerten Podcast, wieso.
Und nochmals die NZZ. In einer lesenswerten Recherche geht sie der schwierigen Beziehung zwischen Schulleitern und Lehrern nach. Fazit: «Haften bleibt der Eindruck zunehmender Führungsmängel an Schulen, von Grabenkämpfen unter Pädagoginnen und Pädagogen.»