Operation Nabucco

Der Bienenstock am Bühnenrand

Von Michael Rüegg, 21.06.2019

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«Willkommen zum organisierten Wahnsinn», bemerkt Katharina Kühnel trocken in Richtung des Bühnenmeisters.

Kühnel sitzt auf dem Platz, der mit «Inspizienz» beschriftet ist. Vor einem Pult mit ungezählten farbig leuchtenden Knöpfen mit diversen Monitoren darüber. Ich setze mich hinter sie, auf einen roten Stuhl, auf dem «Feuerwehr» steht.

Es ist Orchesterhauptprobe. Noch vier Tage bis zur Premiere. Und der letzte «Nabucco»-Durchlauf, den Regisseur und Dirigent noch unterbrechen können. Tags drauf wird schon Publikum den Zuschauerraum füllen, an der Generalprobe. Dann wird es ernst – noch ernster.

Michael Rüegg

Auf einem der Monitore erscheint Dirigent Fabio Luisi, vor einer weissen Blache, damit ihn Orchester und Sänger besser sehen. Eigentlich logisch, aber als Zuschauer würde einem so etwas nie einfallen. «Meine Damen und Herren, noch sieben Minuten, dann geht es los», sagt Inspizientin Kühnel ins Mikrofon. Hinter der Bühne übt der Regie­assistent mit dem Chor noch schnell Tanzschritte.

Es folgen weitere Durchsagen der Inspizientin, die abseits der Bühne aus den Lautsprechern zu vernehmen sind:

«Ich bitte die Damen und Herren der Philharmonia, Platz zu nehmen.»

«Noch fünf Minuten.»

«Ladies and gentlemen, this is your last call to stage.»

Dann gehts los. Eine Chorsängerin huscht in letzter Sekunde auf die Bühne, mit den Worten «… ich kann ja auch nichts dafür, dass …», der Rest ist nicht mehr hörbar.

Neben Katharina Kühnel sitzt ein sogenannter Maschinist, die Hand am Joystick. Vor sich ein Bildschirm, Aufsicht auf die Wand. Die Rede ist von der zwölf Meter breiten und sechs Meter hohen grünen Marmor­wand, die sich bewegt, sobald der Maschinist den Hebel in eine Richtung drückt. Auf einer Folie über dem Bildschirm sind die Positionen markiert, die sie einnehmen muss, mit kleinen Nummern daneben.

Die Wand ist so etwas wie die heimliche Haupt­darstellerin der Inszenierung. Und wie sich herausstellt, eine ganz schöne Diva. Sie ist nicht nur launisch, weil sie im Geschehen immer wieder den Chor vor sich hertreibt. Sondern auch, weil sie es manchmal nicht ganz so genau nimmt.

«Langsam runter auf sieben Prozent», sagt die Inspizientin zum Maschinisten und meint die Fahr­geschwindigkeit. Katharina Kühnel gibt die cues, die Kommandos, für alle Auftritte, Abgänge, was immer sich auf und hinter der Bühne tut. Es ist, als dirigiere Fabio Luisi die Musik und Katharina Kühnel die Handlung. Nichts geschieht, ohne dass sie es angekündigt hat. Die Inspizientin liest dafür parallel die Partitur und die Regie­anweisungen. Sie spricht sich über Funk mit den Technikern ab. Kommuniziert über Laut­sprecher mit den Solistinnen in ihren Garderoben. Springt gelegentlich zum Bühnen­rand, um ein Signal zu geben. Und wirkt, als ob sie jede Sekunde unter Strom stünde.

Alles muss perfekt sein. Eben auch die Position der Wand. Solange sie langsam fährt, lässt sie sich gut steuern. Muss sie sich aber in höherem Tempo bewegen, besteht die Gefahr, dass sie nicht genau in der gewünschten Position landet.

«Mit der älteren Generation von Motoren wäre das nicht möglich gewesen», sagt Marc Linke. Er ist Chef­techniker dieser Aufführung und einer der insgesamt vier Bühnen­meister am Opernhaus. Seit einem Viertel­jahrhundert ist Linke hier tätig.

Es ist Pause zwischen dem zweiten und dem dritten Akt. Und der einzige Ort, an dem er und ich in Ruhe sprechen können, ist mitten auf der Bühne.

Bereits in der Konzeptions­phase von Nabucco sass Marc Linke mit am Tisch, um die Machbarkeit der Ideen zu gewährleisten – oder allenfalls von ihnen abzuraten. Die beiden Elektro­motoren, die in der Wand – Linke nennt sie «den Monolithen» – eingebaut sind, kommunizieren miteinander. «Mit der vorherigen Generation gäbe es diese Inszenierung so nicht», sagt er.

Da ist dieser Moment Ende des zweiten Aktes, wenn im Libretto der Blitz neben Nabucco einschlägt. Dann versinkt die Wand im Boden. Um dies zu bewerkstelligen, muss sie jedoch genau auf dem vorgesehenen Podest stehen. Schafft der Maschinist das nicht, bleibt der Monolith stehen. Dann darf die Inspizientin den cue nicht geben, und der Effekt fällt ins Wasser.

«Die nächste Motorengeneration wird programmierbar sein», erzählt Marc Linke, «ohne manuelle Steuerung.» Ein Objekt wie die Wand wird dann eigene cues erhalten und von allein wissen, wie schnell es wohin muss.

Doch der Monolith kann das noch nicht. Er ist aufs Fingerspitzen­gefühl des Maschinisten angewiesen.

Die Sängerinnen drehen bei dieser Probe auf. Im hinteren Teil der Bühne füllen ihre Stimmen den riesigen Raum. Befinden sie sich jedoch vorne am Bühnen­rand, ist es, als ob man eine Woll­decke über sie geworfen hätte. Man hört die Stimme, aber ihr Klang ist weg.

Manchmal während der Probe gleicht die Hinter­bühne einem Bienen­stock. Wenn etwa die Bühnen­musik bereit ist: ein gutes Dutzend Bläser, die für die Klänge sorgen, die der Zuschauer von der Bühne wahrnimmt – Fanfaren, wenn der König auftritt. Den Musikerinnen fast auf den Füssen stehen Dutzende Chor­damen in ihren weiten Röcken. Am Rand Solisten, die Kinder­statistinnen. Und da und dort eine Mitarbeiterin der Maske, die schnell einen Darsteller nachschminkt. Techniker, die den schwarzen Vorhang zurückziehen müssen, wenn die Wand eine Runde dreht.

Während solcher Momente sieht sich Inspizientin Kühnel gelegentlich gezwungen, ein «Pscht!» in die Menge zu zischen.

Auch wenn einige Abgänge noch nicht perfekt waren, ein Teil des Chors mal den falschen Ausgang genommen hat, man in der Dunkelheit kaum etwas sieht. Und auch wenn nicht immer alle rechtzeitig auf ihren Positionen waren – von all dem haben die Leute im Zuschauer­raum nichts mitbekommen, als der Vorhang fällt.

Zufrieden ist die Inspizientin noch nicht ganz. «Aber das wird schon klappen. Am Ende greifen alle Zahnräder wie bei einem Uhrwerk ineinander», sagt sie. Während auf der Bühne noch kurz die Applaus­ordnung geprobt wird.

Mag sein, dass hinter der Bühne ein bisschen Wahnsinn herrscht. Aber eines muss man ihm lassen: Organisiert ist er.

Zur Operation Nabucco

Michael Rüegg besucht bis zur Premiere am 23. Juni über mehrere Wochen die Proben für «Nabucco» am Zürcher Opernhaus und spricht mit zahlreichen Beteiligten. In der nächsten und letzten Folge lesen Sie, wie die Generalprobe verlief. Hier finden Sie alle erschienenen Beiträge.