Swissminiatur der Volksabstimmungen
Zürich und Bern setzen den Trend – und der Aargau wurde als Durchschnittskanton von Baselland und Graubünden abgelöst: eine politologische Analyse der ablaufenden Legislatur.
Von Claude Longchamp, 17.06.2019
Swissminiatur: Der Themenpark im Tessin fasziniert viele Menschen. Berge, Häuser und Eisenbahnen sind so ausgestellt, dass man den Überblick über das Ganze bekommt – und das Besondere der einzelnen Teile trotzdem erkennt.
Die Schweiz im Kleinen, sie ist auch politologisch faszinierend. Jeden Abstimmungssonntag können wir beobachten, wie sich die Kantone zu den einzelnen Vorlagen äussern. Rot und grün eingefärbte Karten zeigen uns jeweils an, wer Ja und wer Nein gestimmt hat – beziehungsweise wo die Trennlinien und wo die Gemeinsamkeiten zwischen den Kantonen verlaufen.
Doch wie sieht die Sache eigentlich über eine längere Zeit aus? Wie stehen die einzelnen Kantone zueinander, und wie stehen sie zum grossen Ganzen?
Wir präsentieren: das Swissminiatur der Volksabstimmungen, konstruiert anhand der Ergebnisse der soeben zu Ende gehenden Legislaturperiode und kontrastiert zu den Ergebnissen einer Legislatur vor dreissig Jahren.
Behördentreue und Kritiker
In den vergangenen dreieinhalb Jahren befanden die Schweizer Stimmberechtigten insgesamt über 33 Vorlagen. 16 dieser Vorlagen waren Volksinitiativen, die alle scheiterten, 17 waren Referenden über Behördenvorlagen.
Bei diesen Referenden hatten die Behörden 14-mal Erfolg. 3-mal ergab sich damit keine Gefolgschaft: bei der Unternehmenssteuerreform III, bei der Altersreform 2020 und bei der dazugehörigen Finanzierung – wobei die beiden Scharten mit der Staf diesen Mai doch noch ausgewetzt wurden.
Wie trugen die einzelnen Kantone zu dieser Abstimmungsbilanz bei?
Gehen wir zunächst auf die Behördenvorlagen ein. Hier kann sich Bundesrat Ignazio Cassis freuen. Kein Kanton war in den vergangenen dreieinhalb Jahren regierungs- und parlamentstreuer als sein Tessin. Der Kanton stimmte in 17 von 17 Fällen den Behördenvorlagen zu – sogar dann, wenn die Schweiz wie bei der Steuer- und bei der Rentenreform insgesamt Nein sagte.
Die Karte
Das Tessin erscheint deshalb auf der Rangliste der Ja-Sager ganz zuoberst und ist auf unserer politischen Swissminiatur-Karte ganz in Dunkelblau eingefärbt.
Zuunterst auf der Rangliste liegt der Kanton Obwalden. Hier nahmen die Stimmbürger nur 11 von 17 Behördenvorlagen an. Als notorischer Nein-Sager-Kanton erscheint Obwalden auf der Karte der Schweiz in hellgelber Farbe.
Was sagen diese Zahlen aus? Fürs Tessin wohl nicht allzu viel. Der Grund für die hohe Zustimmung ist relativ profan: Er liegt in der Natur der Politkampagnen, die im Tessin bei eidgenössischen Vorlagen geführt werden. Diese sind meist kurz – ausser es geht um Dauerbrenner wie die EU oder um Zuwanderungsfragen. Das verringert die Politisierung und hebt die Zustimmungsbereitschaft.
In Obwalden liegt der Fall anders. Hier versenkten die Stimmbürger nebst der Unternehmenssteuer- und der Rentenreform in der laufenden Legislatur auch die Fortpflanzungsmedizin, die erleichterte Einbürgerung der dritten Ausländergeneration und das gesamtschweizerische Energiegesetz. Diese Vorlagen bildeten zuletzt die Eckpfeiler der rechtskonservativen Opposition gegen Entscheidungen, die aus Bundesbern kamen – nicht nur in Obwalden.
Die Nein-Stimmen in vielen Inner- und Ostschweizer Kantonen zeigen, dass die Modernisierung der Gesellschaft und die Wirtschaft neuralgische Punkte sind, bei denen sich Widerstand von rechter und konservativer Seite formiert. Behördenvorlagen haben in diesen Kantonen also Mühe, wenn religiöse Wissenschaftsskepsis oder lokale Identität gegen sie ins Feld geführt und mit einem föderalistischen Reflex kombiniert werden kann.
Das Koordinatenfeld
Noch klarer wird dies, wenn man das Stimmverhalten der Kantone nicht anhand einer einzigen Metrik misst – der Anzahl angenommener Vorlagen –, sondern dieses mit komplexeren politologischen Methoden analysiert.
Wie sich die Lage dann präsentiert, zeigt die folgende Grafik. Sie liest sich wie eine Landkarte: Zwei Kantone, die nahe beisammenliegen, sind Verwandte im Geist – sie stimmen ähnlich ab. Der graue Punkt in der Mitte symbolisiert die Schweiz. Je weiter ein Kanton davon entfernt ist, desto stärker weicht sein Verhalten also vom gesamtschweizerischen Mittel ab.
Sie stammen vom Bundesamt für Statistik. Für die Analyse verwendet wurde das MDS-Verfahren (multidimensionale Skalierung), projiziert auf zwei Dimensionen. Je näher zwei Punkte stehen, desto ähnlicher das Abstimmungsverhalten, gemessen an der Zustimmung zu einer Vorlage in Prozentwerten. Die Bedeutung der Dimensionen ist interpretationsbedürftig. Klar ist die horizontale Dimension: Sie repräsentiert die Links-rechts-Achse. Die rot eingefärbten Kantone kritisieren Behördenvorlagen also verstärkt aus linker Warte, die grünen Kantone üben eine rechtskonservative Kritik. Die zweite, vertikale Achse lässt sich nicht haargenau interpretieren. Am ehesten reflektiert sie einen Gegensatz zwischen konservativen (negative Werte) und ökologischen Haltungen (positive Werte).
Wir haben die Kantone in der Darstellung in fünf Gruppen eingeteilt.
Durchschnittsschweiz: In diesem Cluster (blau) stehen Kantone wie Basel-Landschaft – dieser sagte immer dann Ja, wenn die Schweiz als Ganzes ebenfalls Ja sagte – sowie Zürich, Bern, Freiburg, Luzern, Graubünden und Wallis. Ihr Verhalten wich in den vergangenen drei Jahren kaum je namhaft vom nationalen Mittel ab.
Punktuell rechtskonservative Schweiz: In diesem Cluster (gelb) stehen Aargau, Solothurn, Thurgau, St. Gallen, Appenzell Ausserrhoden, Schaffhausen, Zug, Glarus und Uri. Sie wichen bei einzelnen Abstimmungen von der Restschweiz ab – Unternehmenssteuerreform, Fortpflanzungsmedizin, Einbürgerungen, Energiegesetz, Asylgesetz oder Geldspielgesetz –, allerdings nicht mehr als 2-mal.
Systematisch rechtskonservative Schweiz: Dies ist im nächsten Cluster (grün) anders. Zu ihm gehören nebst Obwalden auch Nidwalden, Schwyz und Appenzell Innerrhoden. Hier gibt es einen erheblichen modernisierungskritischen Sockel an Stimmen, der bei Behördenvorlagen wiederholt ablehnend zum Ausdruck kommt.
Linke Schweiz: Ein ganz anderes Profil hat der vierte Cluster (rot). Er umfasst die Westschweizer Kantone Waadt, Genf, Neuenburg, Jura und daneben Basel-Stadt. Hier kommt bei Behördenvorlagen oft eine linke Opposition zum Tragen. Am klarsten etwa in Genf: Eine Mehrheit war gegen die zweite Gotthardröhre und die Überwachung von Versicherten. Auch bei der Finanzierung des Agglomerationsverkehrs, bei der erleichterten Einbürgerung und bei der Ernährungssicherheit wichen Kantone im linken Cluster typischerweise von der Gesamtschweiz ab.
Im Vergleich zu früher haben sich die Fronten damit verschoben. Ende der 1980er-Jahre war nicht Baselland, sondern Zug die Referenz. Ein gutes Abbild des Landes boten zudem Nidwalden und Solothurn. Namentlich Nidwalden hat sich von diesem Profil entfernt: Der Innerschweizer Kanton ist mit seiner Steuerpolitik nach rechts gewandert und deutlich behördenkritischer geworden. Gleiches gilt in eingeschränktem Mass auch für Zug.
Verschoben haben sich auch die Positionen von Uri, Obwalden und Glarus. Auch sie stimmen heute bei Behördenvorlagen rechtskonservativer, sei dies im Einzelfall oder schon recht systematisch. Sie stehen damit in der Nähe des Kantons Schwyz. Dieser war vor dreissig Jahren noch ein Sonderling in der Abstimmungslandschaft – um ihn hat sich in den kleinen Innerschweizer Kantonen inzwischen ein eigentlicher rechtskonservativer Block gebildet.
Nach rechts gewandert ist auch der Kanton Baselland. Vor einer Generation gehörte er, ähnlich wie Basel-Stadt, zu den eher linken Kantonen. Am meisten verändert hat sich der Kanton Wallis. Sein ausgesprochen föderalistischer Reflex bei eidgenössischen Abstimmungen ist weitgehend verflogen, sodass er heute zum nationalen Mainstream gehört.
Initiativenfreunde und -gegner
All diese Entwicklungen lassen sich auch anhand einer anderen Kategorie von Abstimmungen beobachten: den eidgenössischen Volksinitiativen.
Die Logik ist dabei umgekehrt. Anders als bei Behördenvorlagen geht man bei Volksinitiativen in der Regel von einer Ablehnung aus: Regierung und Parlament empfehlen ein Nein; die Stimmbevölkerung folgt dem Ratschlag.
Bei den 16 Abstimmungen während der laufenden Legislatur war dies durchgehend so. Sämtliche Begehren, egal ob von linken oder von rechten Komitees eingereicht, scheiterten am Verdikt der Stimmberechtigten. Das war in jüngerer Zeit nicht immer so; in den vorausgehenden Legislaturen seit 2003 wurden stets eine, zwei, drei, ja gar vier Volksinitiativen angenommen.
Die Karte
Das gesamtschweizerische Bild entspricht allerdings nicht dem Bild in den Kantonen. Wäre bloss in Genf und Jura abgestimmt worden, so wären auch in der laufenden Legislatur gleich sechs Initiativen durchgekommen. Denn die beiden Kantone folgten nur in 10 von 16 Fällen den Empfehlungen des Parlaments. Sie sind auf der unten stehenden Karte gelb eingefärbt. Auch in Neuenburg, Waadt und Tessin wurden öfter Initiativen angenommen.
Als deutlich folgsamer erwiesen sich die bevölkerungsreichen Kantone Zürich und Bern sowie Graubünden und Appenzell Ausserrhoden. Sie haben zuletzt alle Initiativen gemäss Behördenempfehlung verworfen und sind auf der Karte in Dunkelblau eingefärbt. Die restlichen Kantone, die gelegentlich Ja zu einer Initiative sagten, sind in helleren Blautönen dargestellt.
Dieses Muster lässt sich am besten mit den Vorlagen selbst erklären: Es kamen tendenziell mehr linke als rechte Initiativen zur Abstimmung.
Begehren von links waren die Atomausstiegsinitiative, die AHV-plus-Initiative, die Fair-Food-Initiative und mehrere Volksinitiativen für die Ernährungssouveränität. Sie waren jeweils in ausgewählten Kantonen populär. Genf und Jura befürworteten diese Volksinitiativen sogar durchwegs. In Genf passierten zudem ökologisch ausgerichtete Vorlagen wie die Hornkuhinitiative und die Initiative für eine grüne Wirtschaft.
In Freiburg und Wallis, die wir als Teil der Durchschnittsschweiz eingestuft hatten, scheiterten dagegen alle linken und ökologischen Volksinitiativen. Angenommen wurde aber die CVP-Volksinitiative gegen die Ehestrafe. Diese fand auch in allen rechtskonservativen Kantonen Zustimmung, ob katholisch oder reformiert. (Diese Vorlage wäre bei den Ständen angenommen worden, scheiterte aber am Volksmehr. Inzwischen wurde der Entscheid vom Bundesgericht wegen vorenthaltener Information aufgehoben.) Als Überraschung kam auch Neuenburg als zustimmender Stand hinzu.
Weniger mit Ja stimmende Kantone finden sich bei der Durchsetzungsinitiative der SVP. Angenommen wurde sie einzig in Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden sowie in Appenzell Innerrhoden und im Tessin. Es war eines von wenigen Begehren, denen diese Kantone in der letzten Legislatur zustimmten.
Das Koordinatenfeld
Verteilt auf ein zweidimensionales Feld, ergibt sich ein ähnliches, aber nicht identisches Bild wie bei den Behördenvorlagen.
Die Cluster verteilen sich nun leicht anders: Das linke Lager (rot) erscheint diesmal zersplitterter und weiter weg vom Zentrum. Es findet sich auch der rechtskonservative Pol (grün) wieder, angeführt von Appenzell Innerrhoden.
Weniger deutlich getrennt erscheinen die punktuell konservative Schweiz (gelb) und die Durchschnittsschweiz (blau). Dieser Block bestimmt die Mehrheitsmeinung und sorgt dafür, dass Volksinitiativen meist scheitern.
Bilanz
Das Swissminiatur der Volksabstimmungen sieht im Licht der vergangenen dreieinhalb Jahre zusammengefasst also folgendermassen aus:
Die beiden bevölkerungsreichsten Kantone Zürich und Bern prägen die Abstimmungsschweiz heute deutlicher denn je. Sie unterscheiden sich kaum mehr und machen zusammen über 30 Prozent der Schweiz aus.
Graubünden mit seiner Konsenskultur und seiner Sprachenvielfalt gehört auch zu jenem Gebilde, das man heute als «Durchschnittsschweiz» bezeichnen könnte. Diese Schweiz wird bei Behördenvorlagen von Baselland, Luzern und Wallis und bei Volksinitiativen namentlich von Appenzell Ausserrhoden repräsentiert. Um diese Kantone herum muss man die heutigen Trendsetter an Abstimmungssonntagen suchen.
Definitiv gefallen ist also der Mythos, der aus den 1960er-Jahren datiert und damals sogar wissenschaftlich untermauert war: dass der Aargau der Trendkanton bei schweizerischen Volksabstimmungen sei.
Ein wichtiger Grund dafür ist: Mit der Modernisierung der Schweiz richtete sich der politische Schwerpunkt weg von kleinen bürgerlichen Kantonen wie Zug hin zu den grossen urbanen Zentren.
Nicht alle Städte sind aber zur nationalen Mehrheitsbeschafferin geworden. Das gilt für Basel, Lausanne und Genf. Genf repräsentiert sogar die «andere Schweiz» am besten: Nirgends werden so viele Behördenvorlagen abgelehnt, nirgends werden so oft Volksinitiativen angenommen.
Das Tessin ist ein Querschläger. Das Tessin stimmte für die gewerkschaftliche AHV-Initiative, aber gegen den rot-grünen Atomausstieg, für die ökokonservative Hornkuhinitiative, aber strikte gegen ökologische Vorlagen, für die Durchsetzungsinitiative der SVP, aber auch für die Ehe-und-Familie-Vorlage der CVP.
Nun spielt immer ein Zufallsfaktor mit, wenn man sich eine Miniaturschweiz bastelt. Im Themenpark von Melide ist die Autobahnraststätte von Würenlos nachgebaut, die St. Moritzer Bobbahn und das Schloss von Chillon – nicht aber das Zürcher Fraumünster.
Ähnlich ist es bei unserer politikwissenschaftlichen Swissminiatur-Analyse: Die Abstimmungsvorlagen, auf denen sie beruht, beeinflussen die ermittelten Positionen der Kantone. Wäre in den vergangenen vier Jahren über andere Initiativen und Referenden abgestimmt worden, wären – mit Ausnahme von Zürich und Bern – leicht andere Aussagen entstanden.
Das politische Swissminiatur ist somit kein dauerhaftes Bild. In zehn oder zwanzig Jahren wird die Schweiz wieder anders aussehen.
Claude Longchamp ist Politikwissenschaftler und Historiker. Er ist Lehrbeauftragter der Universitäten Bern und Zürich, Gründer und Verwaltungsratspräsident des Forschungsinstituts GFS Bern. Während dreissig Jahren analysierte er Volksabstimmungen für das Schweizer Fernsehen.
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