Korrupte Ermittler, Proteste in Hongkong – und #MediaToo
Woche 24/2019 – das Kurzbriefing aus der Republik-Redaktion.
Von Ronja Beck, Elia Blülle und Oliver Fuchs, 14.06.2019
Justizskandal in Brasilien bringt Regierung in Bedrängnis
Darum geht es: Die Strafuntersuchung gegen den ehemaligen brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva, genannt Lula, soll politisch motiviert gewesen sein. Das Ziel sei gewesen, Lulas Teilnahme an der Präsidentschaftswahl 2018 zu verhindern. Das berichtet das investigative Onlinemedium «The Intercept». Die Journalisten beziehen sich unter anderem auf Videoaufnahmen und Chats zwischen den damals ermittelnden Staatsanwälten. Diese wurden ihnen anonym zugespielt. Lula war 2017 wegen Korruption verurteilt worden und sitzt seit 2018 eine 12-jährige Haftstrafe ab.
Warum das wichtig ist: Der beliebte Linkspolitiker Lula galt laut Umfragen als Favorit für die Präsidentschaftswahl 2018 – trotz der laufenden Ermittlungen gegen ihn. Doch dann wurde er verurteilt und von einer Kandidatur ausgeschlossen. Davon profitierte der heutige Präsident Jair Bolsonaro, dessen Umfragewerte in die Höhe schossen. Schlüsselfigur in der Untersuchung gegen Lula war Sérgio Moro. Moro war damals Richter und involviert in eine umfangreiche Anti-Korruptions-Untersuchung, genannt «Operation Autowäsche». Moro genoss international den Ruf als gnaden- und parteiloser Anti-Korruptions-Kämpfer. Nach seinem Wahlsieg beförderte Bolsonaro den Ermittler Moro zum Justizminister. Linke Kräfte in Brasilien bezweifeln dagegen schon länger Moros Unabhängigkeit. Die Recherchen von «The Intercept» deuten nun darauf hin, dass Moro und weitere Beteiligte an der «Operation Autowäsche» tatsächlich gegen Lula Partei ergriffen hatten. So habe Moro seine Rolle als objektiver Richter missbraucht – und sich wiederholt in die Ermittlungen eingemischt. Weiter zeigen die Recherchen, wie dünn die Beweislage gegen Lula war. Selbst die Ermittler zweifelten an ihrer Stichhaltigkeit. Und schliesslich belegen die Recherchen, wie inständig die Staatsanwälte nach Lulas Ausschluss von der Wahl 2018 den Sieg eines anderen Vertreters seiner Arbeiterpartei verhindern wollten.
Was als Nächstes geschieht: Journalisten und Politiker fordern seit der Veröffentlichung der Recherche den Rücktritt von Sérgio Moro – und eine frühzeitige Haftentlassung für Lula. Moro will derweil in den veröffentlichten Daten kein unsauberes Verhalten erkennen. Präsident Bolsonaro gibt sich eher schweigsam zur Sache, sicherte seinem Minister aber sein vollstes Vertrauen zu. «The Intercept» hat angekündigt, dass diese Recherche erst der Anfang gewesen sei. Man darf auf weitere Enthüllungen gespannt sein.
Gesetzesentwurf führt in Hongkong zu Protesten
Darum geht es: In Hongkong kam es seit dem Wochenende täglich zu grossen, teilweise gewalttätigen Protesten. Am Sonntag wollen die Organisatoren eine Million Menschen auf den Strassen gezählt haben. Auslöser der Demonstrationen ist ein geplantes Auslieferungsgesetz der Hongkonger Verwaltungsregierung, über welches das Parlament in diesen Tagen beraten will. Es soll Auslieferungen von Straftätern auch in Länder ermöglichen, mit denen kein Abkommen besteht – und nach Festlandchina. Bereits Ende April demonstrierten 130’000 Menschen in Hongkong gegen den Entwurf.
Warum das wichtig ist: Die momentanen Proteste sind die grössten seit der Regenschirm-Bewegung 2014, bei der Demonstrantinnen grössere Teile der Stadt während Wochen besetzten und freie, von China unabhängige Wahlen forderten. Das geplante Auslieferungsgesetz lässt die Hongkong-Chinesen nun erneut um ihre Autonomie fürchten. Hongkong ist seit 1997 zwar Teil von China, hat aber den Status einer Sonderverwaltungszone. Dadurch geniesst die Stadt eine gewisse Unabhängigkeit vom chinesischen Zentralstaat. Sie verfügt über ein eigenes Parlament, ein eigenes Polizeikorps, über eine freie Presse. Der Entwurf zum Auslieferungsgesetz wird nun als einer von vielen Versuchen der Einflussnahme durch Festlandchina gedeutet. Die Gegner befürchten, dass die Kommunistische Partei das Gesetz für ihre Zwecke missbrauchen und beispielsweise die Auslieferung von politischen Aktivisten erwirken könnte. Die Befürworter entgegnen, dass auch nach Verabschiedung des Gesetzes immer noch ein Hongkonger Gericht über eine Auslieferung zu entscheiden hätte – und diese ablehnen würde, wenn der betroffenen Person politische Verfolgung drohte.
Was als Nächstes geschieht: Das Parlament will voraussichtlich am 20. Juni über den Entwurf abstimmen. Dass ihn das Parlament durchwinkt, ist zum jetzigen Zeitpunkt wahrscheinlich. 43 der 70 Parlamentsmitglieder sind der Festland-Regierung wohlgesinnt. Auch die von Peking gestützte Regierungschefin Carrie Lam stellt sich hinter das Gesetz. Kritiker sagen ihr eine zu straffe Verbindung zum Festland nach und fordern ihren Rücktritt. Lams Umfragewerte sanken in den vergangenen Wochen. Dass sie ihren Posten demnächst räumt, ist jedoch unwahrscheinlich. Die Unterstützung durch Peking ist ihr mit ihrer jetzigen Haltung gewiss.
Schweizer Medienbranche hat ein #MeToo-Problem
Darum geht es: Sexismus und Belästigung sind in der Schweizer Medienbranche weit verbreitet. Das legt eine Tamedia-Umfrage nahe, die am Wochenende veröffentlicht wurde. Das Tamedia-Recherchedesk berichtet, dass 53 Prozent der 458 befragten weiblichen Medienschaffenden angegeben haben, dass sie sexuellen Belästigungen oder Übergriffen bei der Arbeit ausgesetzt waren. Obwohl die Umfrage nicht repräsentativ ist, sind die Resultate so deutlich, dass davon ausgegangen werden kann, dass sexuelle Übergriffe in der Medienbranche öfter vorkommen als in anderen Berufen.
Warum das wichtig ist: Die Recherche erlaubt erstmals Rückschlüsse auf die ganze Branche in der Schweiz. Reporterin Simone Rau schreibt in ihrer Recherche von Fällen, in denen solche Übergriffe negative Auswirkungen auf die Karriere der betroffenen Frauen hatten, ihr Selbstvertrauen zerstört sowie Konzentration und Leistungen gemindert hatten. Die befragten Teilnehmerinnen haben in insgesamt 410’000 Zeichen von ihren Erlebnissen berichtet. Das entspricht etwa einem 220-seitigen Buch. Die Medienbranche hat also offenbar ein ähnlich grosses #MeToo-Problem wie Hollywood und die Theaterwelt. Deswegen verliert sie talentierte Journalistinnen an andere Branchen. Und das kratzt nicht zuletzt auch an der Glaubwürdigkeit von Medien, wenn sie anderswo Missstände anprangern.
Was als Nächstes geschieht: Im zugehörigen Podcast erzählt die Journalistin Simone Rau, dass sie sich in ihrer Recherche zunächst auf die Fälle von sexueller Belästigung konzentriert habe. Den tiefer liegenden Sexismus werde sie zu einem späteren Zeitpunkt untersuchen. Weiter kündigt sie an, dass sie konkrete Einzelfälle von Missbrauch weiterverfolgen werde. Es ist also damit zu rechnen, dass weitere Fälle von Belästigungen und Missbrauch ans Licht kommen.
Massaker erschüttert Mali
Darum geht es: Am Montag wurde ein Dorf in Zentralmali angegriffen. 35 Bewohner wurden getötet – die meisten davon Kinder. Das attackierte Dorf befindet sich in der Gemeinde Sangha, im Gebiet der Volksgruppe der Dogon. Angehörige der Volksgruppe der Peulh sollen den Angriff ausgeübt haben. Die Regierung bezeichnete die Angreifer als «Terroristen» und rief eine mehrtägige Staatstrauer aus.
Warum das wichtig ist: Erst Ende März waren beim Angriff auf ein Dorf über 130 Malier getötet worden. Sie gehörten den primär muslimischen Peulh an, die Täter waren Dogon. Der jüngste Angriff wird nun als Racheakt der Peulh gedeutet. Mali hat schwer mit den Konflikten der verschiedenen Ethnien im Land zu kämpfen. Die Situation hat sich seit 2012 zunehmend verschärft, als islamistische Fundamentalisten kurzzeitig die Kontrolle über den Norden Malis übernommen hatten. Auch die seit 2013 stationierten Friedenstruppen der Uno vermochten die Situation nicht zu deeskalieren. Über 100 Blauhelm-Soldaten wurden seither getötet, die Uno-Mission in Mali gilt als die weltweit gefährlichste. Die Gewaltausbrüche unter den Ethnien und die wachsende Stärke der Islamisten in Mali sorgten im April für Massenproteste in der Hauptstadt Bamako. Erst am vergangenen Freitag war Ministerpräsident Soumeylou Boubèye Maïga gemeinsam mit seinem Kabinett zurückgetreten.
Was als Nächstes geschieht: Laut dem Präsidialdepartement soll in Kürze eine neue Regierung stehen. Die Parlamentswahlen, die nach mehrfachen Aufschüben diesen Juni hätten stattfinden sollen, sind abgesagt worden. Stattdessen wurden die Mandate der Parlamentarier bis 2020 verlängert. Es deutet wenig darauf hin, dass sich die Situation in Mali bald grundlegend verändern wird – auf jeden Fall nicht zum Positiven.
Krankenkassen dürfen weniger Spitalkosten verrechnen
Darum geht es: Schweizer Krankenkassen haben ihren Kunden jahrelang zu viel Geld in Rechnung gestellt. Zu diesem Schluss kommt das Bundesgericht in Lausanne in einem Urteil, das am Mittwoch veröffentlicht wurde. Es geht dabei um den sogenannten Spitalkostenbeitrag. Der beträgt 15 Franken pro Nacht im Spital. Manche Kassen hatten aber 16.50 Franken berechnet.
Warum das wichtig ist: 1.50 Franken, das ist keine gewaltige Differenz. Und doch ist das Urteil peinlich. Einerseits für die Assura, eine der grössten Krankenversicherungen der Schweiz. Und andererseits für das Bundesamt für Gesundheit, welches diese Praxis nicht unterbunden hatte. Die Differenz kommt zustande, weil gewisse Kassen auf den Spitalkostenbeitrag den Selbstbehalt von 10 Prozent draufgeschlagen haben. Das bedeutet aber faktisch, dass der Patient doppelt beteiligt würde, denn er bezahlt bereits die 15 Franken. Geklagt hatte ein Mann, der 2016 im Kantonsspital Winterthur behandelt wurde. Es sei ihm dabei ums Prinzip gegangen.
Was als Nächstes geschieht: Der Krankenkassenverband hat bereits angekündigt, dem Urteil Rechnung zu tragen. Auch wenn das für die Einzelnen nur kleine Differenzen bedeutet, können sich die Beträge über alle Patienten gesehen jedes Jahr auf Millionen Franken summieren. Wie viel die neue Berechnungspraxis die Krankenkassen in Zukunft kosten wird, lässt sich gemäss der «Neuen Zürcher Zeitung» aber nicht genau beziffern. Denn es ändert sich faktisch nur für jene Patienten etwas, deren Spitalaufenthalt so teuer ist, dass er die 700 Franken überschreitet, welche sie pro Jahr bei ausgeschöpfter Franchise zusätzlich selber übernehmen müssen. Weiter sei unklar, wie viele andere Krankenkassen genauso abgerechnet hätten wie die Assura. Theoretisch könnten Patienten rückwirkend die zu viel bezahlten Beträge zurückverlangen. Aber für die meisten dürften die Beträge so tief sein, dass sich der Aufwand nicht lohnt.
Zum Schluss: Journalist sein in Putins Russland
Iwan Golunow, 36, schreibt für das russische Medienportal «Meduza». Er schreibt über Immobilienhaie, Bauabsprachen, Korruption. Iwan Golunow ist Investigativjournalist. Und als wäre das in Russland nicht schon gefährlich genug, ist er eben auch Drogenbaron. Das behaupteten jedenfalls die russischen Behörden. In Moskau wurde Golunow vergangene Woche verhaftet. Man habe weisses Pulver in seinem Rucksack gefunden, Mephedron, Badesalze. Und seine Wohnung erst, die sei ein einziges Drogenlabor. Die Polizei veröffentlichte Fotos davon. Golunow drohte eine jahrelange Haft. Doch Freunde von ihm stellten kurz darauf fest, dass auf den Bildern gar nicht Golunows Wohnung zu sehen war. Die Polizei zog die Fotos schliesslich zurück. Tausende protestierten in Moskau gegen Golunows Verhaftung, es gab zahlreiche Festnahmen. Russische Zeitungen solidarisierten sich auf ihren Titelseiten mit Golunow. Sogar dem Kreml eigentlich wohlgesinnte Journalisten setzten sich für den Mann ein. Am Dienstag wurde die Anklage gegen den Journalisten schliesslich fallen gelassen. Iwan Golunow kam auf freien Fuss. Für Putin ist das alles einigermassen peinlich, schliesslich steht in einer Woche die grosse jährliche TV-Fragestunde mit dem Präsidenten an. Obwohl, es wäre Putin auch zuzutrauen, dass er sich bei der Gelegenheit als der Mann inszenieren wird, der aufseiten von Journalisten wie Golunow gegen die Korruption kämpft.
Top-Storys: Helden, Hacker, HBO
Golunows Geschichten. Noch ein Letztes zu Iwan Golunow. Gut möglich, dass Sie noch gar nie eine Geschichte von diesem profilierten Journalisten gelesen haben. Das können Sie nun nachholen – auch ohne Russischkenntnisse: Sein Arbeitgeber hat verschiedene Artikel ins Englische übersetzen lassen und zur Weiterverbreitung freigegeben.
OK Computer. Der Computer von Thom Yorke, Sänger der britischen Band Radiohead, wurde gehackt. Die Hacker entwendeten 18 Stunden unveröffentlichtes Material und drohten es online zu stellen, wenn die Band nicht 150’000 Pfund bezahle. Da veröffentlichte Radiohead das Material lieber gleich selber. Man sollte nicht, aber man möchte die Hacker doch ganz feste drücken.
Und lächeln! Die Miniserie «Chernobyl» des amerikanischen Bezahlsenders HBO ist aufwendig produziert, hochkarätig besetzt und emotional aufgespritzt. Das bringt ihr zurzeit ordentlich Aufmerksamkeit – natürlich auch von Influencer-Seite. Bei denen ist die seit dem atomaren GAU 1986 verstrahlte und verlassene Stadt Prypjat nämlich gerade hoch im Kurs. Atomare Katastrophen in Selfie-Retrospektive: So schön wie in diesen Bildern können Sie die Skurrilität des 21. Jahrhunderts selten beobachten.
Ungleichheit – erklärt. Die soziale Ungleichheit steigt, weltweit. Ein unglücklicher Nebeneffekt der freien Marktwirtschaft sei das, wird gerne behauptet. Der Ökonomieprofessor Jonathan Aldred sieht das anders. Im «Guardian» zeichnet er für Grossbritannien und die USA auf, wie die Ungleichheit seit den 1980ern ganz bewusst geschürt wurde.