Lobbying für Konzerne, ein Brief für Brüssel – und ein «Schweizer Brexit»
Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (61).
Von Andrea Arežina, Urs Bruderer und Dennis Bühler, 13.06.2019
Nein! Ja, aber! Auf keinen Fall! Oder vielleicht doch ein wenig? Die Konzernverantwortungsinitiative lässt das Parlament schlingern wie selten.
Heute Donnerstag berät der Nationalrat zum zweiten Mal darüber. Wieder geht es um einen Gegenvorschlag. Für einen solchen hat sich die grosse Kammer schon letzten Juni ausgesprochen. Der Ständerat wollte ihn dann zunächst auch, dann aber doch nicht. Und jetzt, einen Sommer später, steht der Gegenvorschlag im Nationalrat auf der Kippe.
Die Konzernverantwortungsinitiative verlangt, dass Schweizer Unternehmen für im Ausland begangene Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden in der Schweiz vor Gericht gezogen werden können. Lanciert hat die Initiative eine Allianz aus Hilfswerken, Umweltorganisationen und Kirchen.
Der Gegenvorschlag des Nationalrats nimmt das Anliegen auf, schwächt es aber ab. Er greift nur, wenn durch das Verhalten eines Unternehmens Menschen «Schaden an Leib und Leben oder Eigentum» erfahren und nicht immer, wenn Menschenrechte oder Umweltstandards verletzt werden. Der Gegenvorschlag schränkt die Haftung der Schweizer Unternehmen weiter auf Tochterfirmen ein, also auf Unternehmen, die ihnen gehören. Laut der Initiative müssten Schweizer Unternehmen mit einer Klage auch dann rechnen, wenn ein von ihnen lediglich kontrolliertes Unternehmen Menschenrechte verletzt oder die Umwelt zerstört.
Es wird davon ausgegangen, dass das Lobbying des Wirtschaftsverbandes Economiesuisse den Ständerat umschwenken und den Gegenvorschlag zuerst abschwächen und dann ganz fallen lassen liess.
Doch die Wirtschaft ist nicht geschlossen gegen die neue Konzernverantwortung. Viele internationale Unternehmen, unter ihnen Ikea, aber auch die Migros, einige KMUs, Vermögensverwalter oder die Aktionärsvertreterorganisation Ethos, setzen sich für einen Gegenvorschlag ein. Einige wohl aus tiefer Überzeugung, andere, weil sie aus Furcht vor der Initiative das kleinere Übel wählen: Lieber ein Spatzenschiss in der Hand als Taubenschisse im ganzen Haus.
Dass diese Logik sich im Nationalrat weiterhin durchsetzt, scheint unwahrscheinlich. Offenbar hat Economiesuisse auch in der grossen Kammer erfolgreich lobbyiert. Ein Nein zum Gegenvorschlag liegt in der Luft.
Dann kommt die Initiative vors Volk. Und klar, Economiesuisse wird warnen, die Konzernverantwortung sei schädlich für die Schweizer Unternehmen und die Schweizer Wirtschaft. Aber sich schützend vor Unternehmen zu stellen, die gegen die Menschenrechte verstossen, ist heikel. Und Umweltzerstörer vor Klagen zu bewahren, ist in Zeiten des Klimawandels noch heikler.
Schon einmal wehrte sich der Wirtschaftsdachverband gegen einen Gegenvorschlag – und rieb sich dann die Augen, als die Schweiz die Abzockerinitiative annahm, die sich gegen exorbitante Managerlöhne richtete. Wir sagen nicht, dass es wieder so kommt. Wir sagen nur, dass Economiesuisse wieder dasselbe Spiel spielt: alles oder nichts.
Und damit zu den typisch helvetischen Zwischentönen, zum Briefing aus Bern.
Viel Lob für einen Brief aus Bern an Brüssel
Was bisher geschah: Der Bundesrat schrieb EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker wegen des Rahmenabkommens einen Brief. Er verlangt darin drei Dinge: eine Klärung zu den staatlichen Beihilfen; eine Präzisierung, dass das Abkommen die Schweiz nicht zwingt, die Unionsbürgerrichtlinie zu übernehmen; und eine juristische Absicherung für das derzeitige Lohnschutzniveau. Eingepackt sind die drei Forderungen in eine Bitte um Verständnis: Ein Rahmenabkommen sei fällig, aber nur zu haben mit der Unterstützung der Schweizer Bevölkerung.
Was Sie wissen müssen: Dem Brief ging hierzulande eine halbjährige öffentliche Debatte voraus, die kaum ein gutes Haar liess am ausgehandelten Abkommen. Ein wenig überraschend wurde der Bundesrat letzte Woche dennoch von fast allen Seiten gelobt. Das liegt wohl an der hinreichenden Unschärfe seines Briefes: Alle Kreise konnten ihn nach ihrem Geschmack interpretieren. Nur die SVP lehnt das Abkommen weiterhin ab. Sie sieht in der dynamischen Rechtsübernahme und dem Schiedsgericht, das in Streitfällen schlichtet, einen inakzeptablen Souveränitätsverlust. Vorsichtig positiv reagierte hingegen die EU-Kommission. Er sei bereit, in ergänzenden Gesprächen «alle Zweifel zu zerstreuen», so Kommissionspräsident Juncker. Nur: Er will das in den nächsten Tagen tun. So hat sich das der Bundesrat nicht vorgestellt. Seine Hoffnung war, dass der Brief allein die EU schon dazu bewegen würde, die Anerkennung der Schweizer Börse zu verlängern. Und dass damit einige Monate Zeit gewonnen wären für Gespräche. Juncker aber will offenbar vor der Erteilung der Börsenanerkennung reden.
Wie es weitergeht: Es bleibt schwierig. Nicht nur, weil Juncker zur Eile drängt. Sondern auch, weil die Schweizer Gewerkschaften ihr Lob für den Brief wieder relativieren und sagen, dass das Abkommen ihres Erachtens mit Klärungen und Präzisierungen nicht gerettet werden kann: Sie fordern weiterhin Nachverhandlungen und eine Garantie für die flankierenden Massnahmen. Doch von Nachverhandlungen will die EU nichts wissen. Und auch der Bundesrat spricht lediglich von einer juristischen Absicherung des bestehenden Lohnschutzniveaus. Bleibt die Frage, ob der Bundesrat eine solche Absicherung hervorzaubern kann, die neben dem Abkommen besteht und die Gewerkschaften überzeugt. Vielleicht muss er dafür gar nicht nach Brüssel: Letzte Woche liess er durchblicken, dass er wieder ins Gespräch gekommen sei mit den Sozialpartnern.
«Schweizer Brexit»
Worum es geht: Der Bundesrat lehnt die sogenannte Begrenzungsinitiative der SVP und der Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (Auns) ab. Die zuständige Bundesrätin Karin Keller-Sutter bezeichnet die Initiative als «Schweizer Brexit».
Was Sie wissen müssen: Während bei der letzten SVP-Initiative, der sogenannten Selbstbestimmungsinitiative, noch darüber gestritten wurde, was ihre Folgen wären, sind diese bei der neuen Initiative klar: Das seit 2002 bestehende Abkommen über die Personenfreizügigkeit mit der EU soll gekündigt werden. Wird die Initiative angenommen, hat der Bundesrat genau ein Jahr Zeit, um mit der EU eine Beendigung der Personenfreizügigkeit auszuhandeln, sozusagen einen geordneten «Schweizer Brexit» zu vollziehen. Gelingt es dem Bundesrat nicht, muss er das Abkommen kündigen. Bürgerinnen und Bürger der Schweiz hätten nicht mehr das Recht, ihren Arbeitsplatz und ihren Aufenthaltsort innerhalb der EU-Länder frei zu wählen. Die Initiative gefährde auch viele Arbeitsplätze in der Schweiz, warnte Bundesrätin Keller-Sutter vor den Medien. Die EU sei der bedeutendste Handelspartner der Eidgenossenschaft.
Wie es weitergeht: Mit der Initiative befasst sich der Nationalrat in der Herbstsession. Zur Abstimmung kommt sie frühestens 2020.
Die Fifa will keine Steuern mehr bezahlen
Worum es geht: Der in Zürich ansässige Weltfussballverband Fifa will, dass die Schweiz ihn als internationale Nichtregierungsorganisation (NGO) anerkennt. Dann müsste er viel weniger oder sogar gar keine Steuern mehr bezahlen und könnte leichter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von ausserhalb der EU anstellen. Beim Aussendepartement stiess die Fifa mit dem Anliegen auf offene Ohren.
Das müssen Sie wissen: Schon im Dezember 2017 suchte Fifa-Präsident Gianni Infantino Aussenminister Ignazio Cassis auf, um ihm sein Anliegen vorzutragen. Cassis, damals gerade drei Wochen im Amt, liess der Fifa kurze Zeit später über seinen Generalsekretär Markus Seiler mitteilen, man habe ihre Argumente «mit grossem Interesse» aufgenommen und teile die Ansichten «ausdrücklich». Das geht aus den Football-Leaks-Dokumenten hervor, die das deutsche Nachrichtenmagazin «Spiegel» mit seinen Partnern der European Investigative Collaboration (EIC) analysierte (darunter auch das Westschweizer Fernsehen RTS). Der Schmusekurs des Aussendepartements ist auch deshalb brisant, weil man auch anderen Bundesbehörden zuletzt eine unkritische Nähe zur Fifa unterstellte – so insbesondere Bundesanwalt Michael Lauber, der sich 2016 und 2017 während laufender Ermittlungen gegen die Fifa mehrfach informell mit Fifa-Chef Infantino getroffen hatte.
So geht es weiter: Der Entscheid, ob die Fifa als NGO anerkannt wird, obliegt gemäss Gaststaatgesetz allein dem Bundesrat. Einen Zeitplan hierfür gibt es offiziell nicht. Doch im Parlament regt sich bereits Widerstand. Gegenüber RTS sagte der Aargauer SP-Nationalrat Cédric Wermuth, zwar sei Sport ein Kulturgut, doch repräsentiere die Fifa längst nur noch «die Privatisierung und Kommerzialisierung dieses Kulturguts». Man könne heute daher keinesfalls mehr von einer gemeinnützigen Organisation sprechen, was eine der Voraussetzungen für eine Statusänderung wäre. Als NGO hätte die Fifa einen ähnlichen Status wie das Internationale Rote Kreuz, Ärzte ohne Grenzen oder Amnesty International.