«Wenn du von etwas reden willst, verschwindet es» – wie Rauch: Martin Wuttke und Caroline Peters in «Deponie Highfield». Reinhard Werner/Burgtheater

Theater

Wo auch die Wirklichkeit Theater spielt

In welchem Verhältnis steht das Theater zur Realität? Bei den Wiener Festwochen lässt sich das dieses Jahr speziell gut erkunden. Tagebuch einer Woche.

Von Barbara Villiger Heilig, 10.06.2019

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Wien im Frühsommer: Festwochen­zeit. Das grosse und vielfältige Festival bietet neben Blockbuster-Inszenierungen im Museums­quartier kleine, manchmal sehr feine Performances ausserhalb des Stadt­zentrums an. Eine Gelegenheit, als Besucherin nicht nur ins Theater zu gehen, sondern auch die Umgebung zu erkunden. Manchmal ergeben sich daraus Bezüge oder Schluss­folgerungen, manchmal nicht.

Freitag, 31. Mai: Greta Thunberg auf der Bühne

Bis zum Auffahrts­donnerstag war es nass und kalt in Wien. Am Freitag drauf wird es heiss: Tausende Menschen marschieren vom Helden­platz aus über die Ring­strasse und legen den Verkehr lahm. Der Demo­start ist auf fünf vor zwölf angesetzt, um klarzumachen, wie es mit der Rettung des Planeten zeitlich aussieht: knapp. «What do we want? Climate justice! When do we want it? Now!», skandieren die Jugendlichen, die ihren Schul­streik trotz des schulfreien Tags durchführen. Oder: «Wir sind hier / wir sind laut / weil man uns die Zukunft klaut!»

Der Protestmarsch endet am Schwarzenberg­platz. Der ist normaler­weise bloss ein Strassen­abschnitt mit Stau­potenzial. Jetzt verleiht ihm die Menge eine platzartige Form: Zwischen dem Helden­denkmal der Roten Armee und dem Reiter­denkmal von Karl Philipp Fürst zu Schwarzenberg steht man dicht an dicht. Wem es zu eng wird, der klettert auf einen Baum – oder auf das darunter stationierte Gerüst der Werbe­plane mit dem rot-weissen Logo der Wiener Fest­wochen. Über den Köpfen wogen Smartphones und selbstgebastelte Pappkarton­transparente: «Keine Toleranz für Klima­ignoranz», «Opa, was ist ein Schnee­mann?», «The oceans are rising and so are we», «Parents for Future» oder, um auch die aktuelle Staats­krise ins Spiel zu bringen: «Greta 4 Bundes­kanzlerin».

Denn alle warten auf Greta Thunberg («Great Greater Greta»). Bis die Erfinderin der Fridays-for-Future-Bewegung auf der Redner­bühne eintrifft, üben Song­writerinnen mit den Demonstrierenden den Chorus ihrer Protest­lieder ein, stellen sich Orts­gruppen aus anderen Bundes­ländern vor, halten Reden. Eine Dolmetscherin übersetzt in Gebärdensprache.

Greta erklärt, als sie schliesslich da ist, sie habe sich entschieden, an die kommenden Klima­gipfel in Nord- und Südamerika zu reisen. Ohne Flugzeug zweimal über den Ozean und zurück, das dauert, weshalb die 16-Jährige die Schule pausieren will. Nach ihrer Rede entschwindet sie in einem PKW – ganz ohne CO2-Emissionen geht es nicht.

Autos stehen am Abend im Mittel­punkt einer anderen Bühne, im Rahmen der Wiener Festwochen, für die ich eigentlich hier bin – auch wenn ich am Nachmittag zur Kenntnis nahm, dass das zeitgenössische Theater mit all den partizipativen Formen, die es pflegt, nie an eine Klima­demo mit Greta Thunberg herankommen kann. Unbedingte Begeisterung, entschlossenes Mitmachen, massenhaftes Dabei­sein? Hm. Vor den Gösserhallen, der neuen Festwochen-Spielstätte mit historischem Backstein-Chic, nippt man als handverlesenes Grüppchen an seinem Drink.

Drinnen zeigt der italienische Regisseur Romeo Castellucci, Spezialist für starke Bilder, «La vita nuova», eine Performance mit stoffverhüllten Autos und weissgewandeten Schwarz­afrikanern, die uns, das stehende Publikum, auch ohne ihre hohen Damen­absätze um Kopfeslänge überragen würden. Die Männer führen Rituale aus, bis die Autos plötzlich zu hupen beginnen, als flehten sie um Hilfe. Möchten sie erlöst werden? Wovon?

Männer und Autos: «La vita nuova». Stephan Glagla

Natürlich wird nichts klar. Aber laut Castellucci müssen ja nicht wir seine Bilder lesen. Die Bilder lesen uns. Trotzdem sinniere ich auf dem Heimweg darüber nach, was er mit dem Gegensatz von artisans (Hand­werkern) und artistes (Künstlern) meint, den einer der Akteure zum Schluss formuliert hat. Sieht sich Castellucci als Künstler, Handwerker oder Kunsthandwerker?

Samstag, 1. Juni: Isabelle Huppert im Museumsquartier

Während mit Castellucci ein weisser Mann fünf schwarze Männer leitet und lenkt, ohne dass irgendjemand die Notwendigkeit empfindet, das zu thematisieren (sollte man?), liegen die Dinge bei Robert Wilson und Isabelle Huppert so: Die beiden trafen sich per Zufall. Daraus entstand 1993 die unvergessliche Ein-Frau-Performance «Orlando» nach dem Roman von Virginia Woolf. «Ein entscheidendes Treffen», sagt Huppert gut 25 Jahre später bei ihrer dritten Zusammen­arbeit mit dem texanischen Theater­mann. Wieder steht sie allein auf der Bühne, diesmal als Maria Stuart, und lässt eine Biografie Revue passieren, die Stoff für ganze TV-Serien böte. Intrigen, Verdächtigungen, Fallen. Missgunst, Gewalt, Mord. Lust und Liebe.

Die Tribüne im Museums­quartier ist voll, auf dem Samt­vorhang jagt in einem goldgerahmten Video­loop ein kleiner Terrier seinem Stummel­schwanz nach. Nach Marias Enthauptung, so wird kolportiert, kroch eines ihrer geliebten Hündchen aus den blutigen Röcken hervor. Doch von Blut ist keine Spur auf Wilsons Bühne. Rot ist nur der Mund in Marias kreide­weissem Gesicht.

90 Minuten lang füllt Isabelle Huppert, eine grazile Silhouette mit Puffärmeln und Reifrock, die komplett leere Spielfläche. Ein changierendes Licht­panorama bestimmt die Atmosphäre: blassblau, kupferrot, urplötzlich giftgrün (dazu die gellenden Schreie, der fratzenhafte Ausdruck). Alles typisch Wilson. Und doch wirkt Huppert komplett selbstbestimmt. Ein paar angedeutete Tanz­schritte da, wild rudernde Arme dort – Huppert ist Mensch, Marionette, Maschine, aber immer Herrin der Lage. Sie pflügt sich im aggressiven Stakkato durch den Text, schwimmt reflektierend im Meer der Wörter, verinnerlicht einzelne Sätze: Kurz vor der Hinrichtung scheint sich etwas zu legen und zu lösen in dieser Maria Stuart.

Den Überblick verliere ich bald, zu wild, repetitiv, ausgefranst ist die Story. Aber es genügt, die Energie der Emotionen aufzusaugen, mit denen Huppert den ganzen Saal versorgt. Am Schluss, beim Applaus, rennt eine Zuschauerin vor zur Rampe, reicht Rosen hinauf und macht schnell ein Selfie mit der Star­schauspielerin – die hoheitsvoll darüber hinwegsieht.

Isabelle Huppert als Maria Stuart in «Mary said what she said». Lucie Jansch

Ich verlasse das Museums­quartier in Richtung Hofburg. Vor einem Himmel in Wilson’schem Blau thront Maria Theresia auf ihrem Denkmal, deutlich matronenhafter als die schottische Namens­vetterin im Theater. Weiter hinten, auf dem Helden­platz, wummert es dumpf: «Rave against Kurz, Kickl & Korruption» oder «Rave for Versammlungs­freiheit» nennt sich der Event und fordert: «Mehr Bass, weniger Hass» – alles im Zeichen von «#ibizagate».

In der englischen Renaissance, überlege ich, gab es zwar Korruption und Hass, aber keine Raves gegen die Willkür­herrschaft egomanischer Politiker. Die Party ändert ja auch nichts an den Zuständen. Man tobt sich aus.

Sonntag, 2. Juni: Brasilien in Ottakring

Kaum steige ich aus der Strassen­bahn, fühle ich mich in ein anderes Land versetzt: Der Brunnen­markt besteht aus einer endlosen Reihe kleiner Buden, von denen etliche arabisch oder türkisch beschriftet sind. Die Geschäfte dahinter tragen Namen wie «Ankara Market» oder «Alschahbaa Supermarkt», die Metzgereien die Aufschrift «halal», und ein Stand kündigt an: «Ramadan aktion Indomie 5 Pack 1 €» (es geht um Instant­nudeln). Überall hängen Plakate für Konzerte mit türkischen Sängerinnen oder Bands. Mittendrin hat sogar ein Schild mit dem politisch inkorrekten Meinl-Mohr überlebt. Heute ist es ruhig, nur ein paar Bäckereien sind offen. Ich kaufe einen Sesamring.

Ottakring. Der 16. Wiener Gemeinde­bezirk war Ende des letzten Jahr­tausends eine schlecht beleumdete migrantische Hochburg. Heute noch liegt der Ausländer­anteil über dem Durchschnitt der Stadt, und heute noch gibt es «Serben-Krawalle» (so gewisse Lokal­medien), wenn im serbischen Fussball etwas schiefläuft. Aber insgesamt hat die mit der Jahr­tausend­wende einsetzende Gentrifizierung eine angenehme Durchmischung bewirkt.

Mitverantwortlich für diese positive Entwicklung sind kulturelle Initiativen wie die von der Caritas unterstützte Brunnenpassage, die sich als «ArtSocialSpace» versteht: Kunst für alle und von allen wird in der ehemaligen Markthalle gemacht, gezeigt, vermittelt – ohne Sprach­grenzen. Ein im Wortsinn offener Begegnungs­raum: Beim Workshop, an dem ich nachmittags teilnehme, schauen Vorbei­spazierende neugierig herein.

Die brasilianische Choreografin Lia Rodrigues bringt «Fúria» an die Festwochen: eine Wucht, diese «Wut», die auch das diesjährige Zürcher Theater­spektakel eröffnen wird. Begleitend lädt die Tanz­compagnie zum Workshop ein. Circa 30 Leute finden sich dafür ein, jung und weniger jung, mehr Frauen als Männer, vorwiegend Laien. Der Jüngste: ein Bub aus Afghanistan. Sprechen tut er kaum, lachen umso mehr.

Wir alle stellen uns kurz vor, auch die Tänzerinnen und Tänzer, indem sie erklären, wie und wo sie arbeiten: in Maré, einer grossen Favela von Rio de Janeiro, deren Gesten­vokabular in ihren Tanz einfliesst.

Abwechselnd übernehmen die Compagnie­mitglieder die Leitung des Kurses, der mit einer geschmeidigen Selbst­verständlichkeit abläuft. Vieles dreht sich um «energy», nichts um Technik. Wir bilden Gruppen, spielen wilde Tiere, jagen den andern Angst ein. Wir schreiben unsere Namen in die Luft unter Einsatz des ganzen Körpers. Wir verklumpen zu einer Einheit, die sich dehnt und zusammenzieht, als würde sie atmen. Eine soziale Skulptur.

Ich komme ins Schwitzen, nicht nur, weil die Sonne durchs Glasdach brennt. Unsere Proficoaches, die mitschwitzen, haben am Abend noch eine 70-minütige Aufführung zu bestreiten. Körperliche Verausgabung ist ihr Beruf. Gerne hätte ich mich mit ihnen weiter unterhalten, aber dazu reicht die Körper­sprache dann doch nicht aus. Obwohl sie so unglaublich expressiv ist.

Montag, 3. Juni: Jüdisch, muslimisch, queer

Ein unscheinbarer Stadtpark, eigentlich bloss ein Kinder­spiel­platz. Doch in ihm versteckt sich Geschichte: «Benannt nach der Schriftstellerin Veza Canetti, geboren 1897 in Wien, verstorben 1963 in London. Ihr Roman Die gelbe Strasse beschrieb das Leben der Leopoldstädter Juden in der 1. Republik», erklärt eine Tafel. Die Frau von Elias Canetti publizierte unter verschiedenen Pseudonymen. Ursprünglich hiess sie Venetiana Taubner-Calderon. Ihre Mutter war eine Sephardin.

Ich stehe auf der Tempel­gasse im 2. Bezirk. Hier befand sich einst eine Synagoge, sie wurde am 10. November 1938 zerstört. Die sephardischen Juden Wiens betreiben unterdessen ein religiös-kulturelles Zentrum im Wohnhaus vis-à-vis des Veza-Canetti-Parks. Sässe nicht eine Polizistin davor, würde man es kaum bemerken. Ein koscherer Mini-Markt liegt schräg gegenüber.

Um die Ecke ist Or Chadasch domiziliert, die Jüdische Liberale Gemeinde. Darauf weist am Eingang einzig ein zeichenhafter siebenarmiger Leuchter hin. Und die Überwachungs­kamera.

Zwei Männer mit Hut und Pejes begegnen mir, ein Knabe mit Kippa flitzt auf dem Roller vorbei. Aber von pulsierendem jüdischen Alltag ist keine Rede mehr in der Leopold­stadt. Man muss sich die Zeichen der Vergangenheit zusammensuchen: «Steine der Erinnerung» (anderswo «Stolpersteine» genannt) beispielsweise. «Zum Gedenken an die jüdischen Schauspieler und Schauspielerinnen der beliebten jüdischen Bühnen und Kabaretts der Praterstrasse» wurden sie angebracht, mit Namen, Geburtsdatum und – wo vorhanden – Todesjahr: «ermordet in Belzec», «in Auschwitz ermordet» ...

Niemand kann sich mehr vorstellen, dass die Praterstrasse in der Zwischen­kriegs­zeit eine Art Wiener Broadway war. Übrig geblieben ist davon der Nestroyhof, dessen Erd- und Keller­geschoss das Theater Hamakom beherbergen. In seiner jetzigen Form existiert es erst seit 2009. Doch der jüdische Architekt Oskar Marmorek, der den Jugendstil-Prachtbau um die vorletzte Jahrhundert­wende errichtete, konzipierte ihn als vielteiliges Mehrzweck-Vergnügungs­etablissement (die historischen Grundriss­pläne hängen in der Garderobe). Das bewegte Schicksal des Hauses ist auf der Hamakon-Website in Stichworten zusammengefasst; die teilweise abstrus anmutenden Details hat vor einigen Jahren der «Falter» aufgearbeitet.

Heute verortet sich Hamakon auf der «Schnittstelle der Tradition jüdischer Kultur und moderner innovativer Theater­arbeit». Interdisziplinär und interkulturell will das Haus sein – und hat seine Bühne den Wiener Festwochen geöffnet für die Performance «Savašun» von Sorour Darabi (die 2018 beim Zürcher Theater­spektakel zu sehen war).

Präislamische Zeremonie mit Genderstern: «Savašun» mit und von Sorour Darabi. Otto Zinsou

Achtung, jetzt wirds kompliziert.

Denn es handelt sich um eine jener Veranstaltungen, bei denen das Studium des Beipack­zettels fast länger dauert als die 40-minütige Vorführung, die er beschreibt. Da geht es um präislamische Zeremonien, um schiitische Trauer­feierlichkeiten, um einen Prinzen und einen Imam, um das «Buch der Könige» des persischen Dichters Ferdosi und den Film «Close-up» von Abbas Kiarostami. Um Maskulinität, Verletzlichkeit, symbolischen und sinnlichen Widerstand, SM-Praktiken, Identitäts­wandel. Verfasst hat den Programm­text Sorour Darabi selbst, «ein*e autodidaktische*r iranische*r Künstler*in», die*der für sich konsequent den Gender­stern anwendet.

Sorour Darabi ist eine non-binäre Person. Sie*er tänzelt anmutig vors Publikum, lässt den Mantel fallen, streichelt ihre*seine Brustwarzen, zieht Kerzen aus einem Sprengstoff­gürtel, der keiner ist, erzählt mit sanfter Stimme von erotischen Fantasien und tänzelt wieder davon. Ich reibe mir die Augen: Von dem, was wortreich angekündigt war, habe ich nichts gesehen.

Manchmal bringt der Weg zum Theater mehr als das Theater selbst.

Dienstag, 4. Juni: Pollesch, Lipica und Ibiza

Sieben Gäule, gesattelt und gezäumt, stehen auf dem Kunstrasen. Sie bewegen ab und zu ihre Ohren, peitschen mit dem Schweif die Luft und dampfen aus den Nüstern. Oder ist das Rauch? Ob auf dem Pferd geraucht werden dürfe, lautet eine der Fragen in René Polleschs Festwochen­stück am Akademie­theater. Egal: Die glorreichen Fünf des Schauspiel­ensembles verbreiten Qualm auch dank ihrer Colts, die sie als Cowgirls und -boys locker handhaben. Kathrin Angerer, Birgit Minichmayr, Caroline Peters, Irina Sulaver (eine Pollesch-Debütantin) und Martin Wuttke kommen in Wild-West-Montur daher. Die obligaten Stiletto­absätze ersetzen das Stilett.

Ein Hoch auf die Bühnen­bildnerin! Katrin Brack ermöglicht mit ihren Lipizzanern das Wortspiel der Stunde: Stammen die Viecher aus Lipica oder aus Ibiza? Was hingegen den Rasen betrifft, zeigt sich Marin Wuttke am Ende erstaunt: Er hielt ihn die ganze Zeit für einen Green Screen. Künstlichkeit im Quadrat, sozusagen, und deshalb passend für ein Theater, wo nichts «realistisch» sein darf, weil ohnehin alles – Polleschs Lieblingsthema – Repräsentation ist: «Repräsentationistischer Realismus ist keine Darstellung, sondern die Vernichtung dessen, was dargestellt wird.» Etwas simpler: «Wenn du von etwas reden willst, verschwindet es, es ist ganz einfach.» Deshalb dreht sich das Gequassel auch ununterbrochen ums Vergessen.

Auf den Punkt bringen kann man «Deponie Highfield» noch weniger als andere Pollesch-Stücke. Eine Müllhalle recycelter Ideen? Tatsächlich erinnert manches Versatz­stück an die «Manzini-Studien» am Schauspielhaus Zürich – der Fitzgerald-Knacks echot hier wie dort durch die Kulissen.

Viel rhetorisches Pulver: Caroline Peters, Birgit Minichmayr, Kathrin Angerer, Irina Sulaver und Martin Wuttke. Reinhard Werner/Burgtheater

Was keineswegs das Vergnügen mindert. Die Herum­reiterei auf Diskurs­theorien, Sprach­philosophie, Verhaltens­forschung (Tiere!), Paar­psychologie und Nonsens, die gegenseitigen Erniedrigungen und Beleidigungen, die Zitate («Alles Leben ist ein Prozess des Niedergangs ...») samt ihrer Erweiterung («... nur der Kopf driftet noch nicht mit!») erzeugt allgemeine Heiterkeit. Naja, meine Sitz­nachbarin schläft ein – kann passieren. Der Schluss­applaus weckt sie auf. Und nun, da die Performerinnen nach 100 Minuten mit todernster Miene ihr rhetorisches Pulver verschossen haben, strahlen sogar sie.

Mittwoch, 5. Juni: Von Beirut nach Berlin

«Borborygmus» ist nicht, was man unter einem «zugänglichen» Titel versteht, obwohl jeder Mensch das Phänomen kennt: Rumoren im Bauch. Und wie ein Zuschauer hinterher feststellt, trifft der Begriff das Stück gar nicht wirklich: Mehr als um Verdauung dreht es sich um Verlust. Warum lacht man trotzdem ständig? Weil die charmanten Frotzeleien von Rabih Mroué, Lina Majdalanie und Mazen Kerbaj so geistreich wie abgründig sind.

Auch diesmal gibt es einen Begleit­essay, verfasst von einem Spezialisten der New York University: völlig überflüssig, denn das Stück erklärt sich selbst. Es fasziniert durch die geniale Balance von Witz und Ernst, durch die perfekte Hand­habung der – minimalistischen – Bühne, durch den ironischen Einsatz von Musik. Alles very sophisticated und trotzdem griffig.

Die drei Performer aus Beirut leben in Berlin. Das erlaubt ihnen, eine Art von existenzieller Bilanz zu ziehen. In einer Szene der losen Reihe trinken sie auf alle und alles, was ihnen assoziations­weise einfällt, und zeichnen damit ein Bild ihres kulturellen Horizonts. Die geleerten Plastik­becher fliegen fröhlich durch die Luft, zuletzt trinken die drei aufs Trinken. Dann sitzen sie auf dem Tisch, lassen die Beine baumeln und zählen Tote aus dem Bekannten­kreis auf, samt Todes­ursache: eine Litanei, in der sich Privates (Alters­schwäche) und Politisches (ein Attentat) verflechten. Schwer zu beschreiben, diese Mischung aus Ausgelassen­heit und lauernder Katastrophe.

Geniale Balance von Witz und Ernst: Rabih Mroué, Lina Majdalanie und Mazen Kerbaj (v.l.). Bobby_Rogers

Kann Theater die Welt verändern? Ein Abend wie dieser schärft zumindest die Sinne und den Intellekt. Er verändert die Wahrnehmung.

Donnerstag, 6. Juni: Milo Rau, die «Orestie» und Mossul

«Es geht nicht mehr nur darum, die Welt darzustellen. Es geht darum, sie zu verändern.» Voilà: So lautet der erste von zehn Punkten des «Genter Manifests», das Milo Rau und sein Team im letzten September am NTGent veröffentlicht haben. Seither sind sie in den Irak gereist, mit der «Orestie» von Aischylos im Gepäck. Punkt fünf des Manifests: «Mindestens ein Viertel der Probenzeit muss ausserhalb eines Theater­raums stattfinden.»

Auch weitere Manifest-Punkte setzt «Orest in Mossul» exemplarisch um: das Verbot, Klassiker wörtlich zu adaptieren; die Auflage, nicht professionelle Schauspieler einzubeziehen; die Forderung, auf der Bühne mindestens zwei Sprachen zu sprechen; die Verpflichtung, auf Tournee zu gehen.

Nach Mossul und Gent macht Milo Rau momentan bei den Wiener Festwochen Station. Und, Überraschung, demnächst in Zürich, wo das Schauspielhaus im Herbst seinen Neustart lanciert: «Orest in Mossul» ist ab 5. Oktober am Pfauen zu sehen. Dann wird die Republik darüber berichten – weshalb dieses Tagebuch hier mit einem klassischen Cliffhanger endet.