Streik oder Nichtstreik
Der Aktionstag für Gleichberechtigung ist eine zeitgemässe und effektive Form der Mobilisierung – auch wenn das noch nicht ganz alle begriffen haben.
Von Daniel Binswanger, 08.06.2019
Der Frauenstreik ist kein Streik – nicht im eigentlichen Sinne. Diese offensichtliche Tatsache hat in den vergangenen Tagen die Presse in Wallung gebracht, verschiedene Arbeitgeber zur Entwicklung teils hilfloser und teils kreativer Lösungsansätze motiviert, den harten Kern des rechtsbürgerlichen Antifeminismus zu martialischen Kündigungsdrohungen, Ordnungsanträgen im Parlament und allgemeiner Übellaunigkeit provoziert.
Nein, im streng juristischen Sinn ist der Frauenstreik kein Streik. Wäre er das, stellte er sogar einen Rechtsbruch, jedenfalls einen Bruch der Friedenspflicht in einzelnen Gesamtarbeitsverträgen dar. Doch gerade sein hybrider Charakter ist, was ihn zu einer so mächtigen Waffe macht. Und weshalb er diesmal noch effektiver sein könnte als die erste Schweizer Ausgabe vor 28 Jahren.
Nichts bestimmt die grosse politische Agenda heute intensiver als zwei Streiks, die keine Streiks sind: der Klimastreik, der nicht aus Arbeitsniederlegungen besteht, sondern darin, dass Schülerinnen nicht zum Unterricht erscheinen. Und der Frauenstreik, der sich nicht auf die Verbesserung der Arbeitsverhältnisse beschränkt, sondern einem sehr breiten Forderungskatalog Nachdruck verschafft, der die Gleichstellung und die Nichtdiskriminierung in allen Bereichen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens durchsetzen soll. Es handelt sich in beiden Fällen um eine relativ neue, atypische Form des politischen Aktivismus – und unreflektierte Gemüter glauben, sich deshalb über sie mokieren zu müssen. Wer so argumentiert, verkennt, wie zeitgemäss und effektiv solche Strategien sind.
Sowohl der Kampf gegen die Klimaerwärmung als auch der Kampf für die Gleichstellung sprengen den Rahmen klassischer sozialer Konflikte. Die Fridays for Future sind weder ein Klassen-, noch ein Generationen-, noch eigentlich ein Parteienkonflikt. Es geht um die Zukunft des Planeten, den wir alle bewohnen. Es geht um die Verhinderung von Entwicklungen, die niemand wollen kann.
Natürlich stehen der Umsetzung einer konsequenten Klimapolitik massive wirtschaftliche Interessen entgegen; natürlich kann man sich über die richtigen Strategien zur Reduktion des CO2-Ausstosses uneinig sein; natürlich gibt es soziale und zwischenstaatliche Konflikte um die Verteilung von Opferlasten. Dennoch sind die Fridays for Future eine Mobilisierung für ein eminent gesamtgesellschaftliches Interesse. Und obwohl die Feinde einer aktiven Klimapolitik sie in Abrede stellen, hat diese Einsicht eine erdrückende Überzeugungskraft bekommen. Nur auf dieser Basis konnte ein alle gesellschaftliche Sphären durchdringendes Aktivierungsnetzwerk entstehen, das klassische Konfliktlinien – und damit auch klassische Kampfformen wie etwa den Streik – mit verblüffender Leichtigkeit unterläuft.
Bezeichnend ist, dass die Fridays for Future zwar so etwas wie eine transnationale Schülerdemo darstellen und von extrem jungen Akteurinnen getragen werden, dennoch aber einen Generationenkonflikt nicht wirklich entstehen lassen. Im Gegenteil: Die Eltern lassen sich zu guten Teilen von ihren Kids den Weg weisen und führen in der Parteienlandschaft die dramatischen Verschiebungen herbei, die wir gerade beobachten. Man kann es, je nach Perspektive, als postpolitisch oder als hyperpolitisch bezeichnen: Was sich hier entwickelt hat, ist keine Jugendrevolte, sondern die Aktivierung eines weit gestreuten Konsenses.
Im Kampf um geschlechtliche Gleichstellung geschieht etwas ganz Ähnliches. Natürlich bestehen weiterhin massive Formen der Diskriminierung, die sich äussern in starken Einkommensunterschieden, in einer hierzulande nach wie vor katastrophal reaktionären Familien- und Kinderbetreuungspolitik und natürlich auch im Fortleben einer strukturellen Misogynie, wie sie kürzlich etwa Kate Manne in ihrem Buch so glänzend analysiert hat. Doch was die Gleichstellung behindert, ist weniger ihre explizite Zurückweisung als ein ungeheuer mächtiges Verharrungsvermögen von Rollenbildern und Sozialisierungsmustern.
Obwohl der Antifeminismus ein zentrales ideologisches Kernstück – wenn nicht das zentrale – des Rechtspopulismus geworden ist, kann sich keine politische Kraft mehr offen zu einer antifeministischen Agenda bekennen. Dafür haben sich die gesellschaftlichen Standards und die realen Machtverhältnisse schon viel zu weit verschoben. Es gibt zwar einen heftigen sexistischen Backlash gegen die Liberalisierung der Rollenbilder, aber was soll er noch erreichen, ausser Ressentiments anzustacheln? Fortschritte verlangsamen, erschweren, blockieren? Sicherlich, das kann er. Aber die Uhren zurückstellen, das traditionelle Familienmodell wieder alternativlos werden lassen, Sexismus zum offiziellen Programm erheben? No way.
Auch der Frauenstreik erhebt Forderungen, die in allen gesellschaftlichen Sphären Resonanz finden. Auch der Frauenstreik ist eine Form des Aktivismus, der die klassischen politischen Frontlinien im Grunde unterläuft. Der in allen gesellschaftlichen Sphären, in allen sozialen Schichten und eigentlich in allen politischen Lagern auf Resonanz stösst. Je nach Perspektive: postpolitisch oder hyperpolitisch. Genau deshalb ist der Frauenstreik richtig und notwendig. Und genau deshalb kann er eine mächtige Wirkung entfalten.
Vor 28 Jahren wurde der Frauenstreik von den Gewerkschaften angeschoben. Die jetzt kommende Ausgabe wird von verschiedensten Organisationen und Initiativen getragen, auch wenn die Gewerkschaften immer noch eine wichtige Rolle spielen. Es ist ja auch nicht so, als ob die historische Erfahrung traditioneller Arbeitskämpfe plötzlich unerheblich geworden wäre für die Durchsetzung feministischer Forderungen. Dennoch bleibt es unverständlich, dass die bürgerlichen Frauenorganisationen – am prononciertesten die FDP-Frauen, aber auch Alliance F und die CVP-Frauen – dem Streik fernbleiben oder ihn jedenfalls nicht aktiv unterstützen.
Hier werden die Anliegen aller Frauen vertreten, auch der bürgerlichen. Der Streik ist eine Aktion, die nichts anderes tut, als auf sehr zeitgemässe Weise für ein gesamtgesellschaftliches Anliegen zu mobilisieren. Es sieht aber ganz so aus, als würde schneller die volle Gleichberechtigung hergestellt sein, als dass die bürgerlichen Frauenorganisationen wirklich in der Gegenwart ankommen.
Illustration: Alex Solman