Was diese Woche wichtig war

Die EU am Pranger, die SPD in der Krise – und die Wirren um Lauber

Woche 23/2019 – das Kurzbriefing aus der Republik-Redaktion.

Von Oliver Fuchs und Christof Moser, 07.06.2019

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Anwälte prangern EU wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit an

Darum geht es: Menschenrechts­anwälte haben am Montag am Inter­nationalen Straf­gerichtshof (ICC) eine detaillierte Analyse der EU-Flüchtlingspolitik eingereicht. Auf rund 250 Seiten kommen sie zum Schluss, dass die EU als Ganzes (und insbesondere die Mitglieds­staaten Italien, Deutschland und Frankreich) Tausende Menschen im Mittel­meer bewusst und willentlich habe ertrinken lassen. Das seien Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Anwälte fordern eine Straf­untersuchung gegen die Verantwortlichen.

Warum das wichtig ist: Die beiden Haupt­autoren der Analyse sind internationale Kapazitäten. Omer Shatz lehrt an der Yale Law School und der Pariser Elite­hochschule Science Po. Er hat bereits mehrere ähnliche Verfahren angestossen. Juan Branco hat in der Vergangenheit selbst für den ICC gearbeitet. In der Analyse schreiben die beiden, dass die EU ab 2014 den Tod von Migranten bewusst in Kauf genommen habe, um «andere in derselben Lage davon abzuhalten, in Europa Schutz zu suchen». Weiter sei die EU verantwortlich für die Gefangen­nahme, die Folter, die Versklavung und die Ermordung von Flüchtlingen. Dies, weil sie Schutz­suchende zurück nach Libyen schicke. Die Uno schätzt, dass rund 1,1 Millionen Menschen in Libyen humanitäre Hilfe benötigen. Und dass seit 2014 rund 18’000 Menschen auf der Überfahrt nach Europa ertrunken sind. Frankreich liess gegenüber der «New York Times» verlauten, die Vorwürfe von Shatz und Branco seien «sinnbefreit» und hätten keine rechtliche Basis. Auch Vertreter Deutschlands und der EU verteidigten ihre Flüchtlingspolitik.

Wie es jetzt weitergeht: Der ICC steht immer wieder in der Kritik, weil er kaum gegen Verbrecher aus westlichen Staaten vorgehe. Tatsächlich laufen Untersuchungen zur Situation der Migranten in Libyen bereits, allerdings sind bis jetzt nur Verantwortliche im nordafrikanischen Staat im Visier der Ermittler. Jährlich werden unzählige Analysen und Petitionen beim ICC eingereicht – es bleibt also abzuwarten, ob die Initiative Konsequenzen nach sich ziehen wird.

Abgang von Nahles – GroKo hält vorerst

Darum geht es: Nach dem historisch schlechten Ergebnis der deutschen Sozial­demokraten bei der Europa­wahl kündigte die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles abrupt ihren Rückzug aus der Politik an. Innerhalb von zwei Tagen gab sie den Partei- und den Fraktionsvorsitz ab. Ein Trio hat ihre Ämter interimistisch übernommen. Die Partei will vorerst an der Grossen Koalition mit der Union festhalten.

Vakanz an der SP-Spitze: Andrea Nahles hat den Partei- und den Fraktionsvorsitz abgegeben. Krisztian Bocsi/Bloomberg/Getty Images

Warum das wichtig ist: Andrea Nahles war die erste Frau überhaupt an der Spitze der SPD. Sie führte die Partei seit Februar 2018. Sie war eine Verfechterin der Koalition mit der Union CDU/CSU. Politikerinnen inner- wie ausserhalb der Partei prangerten nach Nahles’ Rücktritt die extrem persönlichen Angriffe an, die die Partei­chefin habe erdulden müssen. Sie sei bei weitem nicht allein verantwortlich für die Krise der SPD. Die Republik-Jury hat Nahles für den Umgang mit diesen Angriffen diese Woche den Preis der Republik verliehen. Nun stehen die Sozial­demokraten einmal mehr vor der Frage, ob sie sich in der Opposition erneuern oder weiter mit der Union koalieren sollen.

Was als Nächstes geschieht: Ein Bruch der Koalition könnte zugleich das Ende der Kanzler­schaft von Angela Merkel bedeuten. Eigentlich wollte die SPD erst an einem Parteitag im kommenden Dezember Bilanz über die Koalition ziehen. Das dürfte nun deutlich früher der Fall sein. Falls die SPD die Koalition verlässt, wären sowohl Neuwahlen denkbar als auch eine neue Koalition mit anderen Parteien oder eine Minderheits­regierung unter Kanzlerin Merkel. Die nächste reguläre Bundestags­wahl steht erst im Oktober 2021 an.

Bundesanwalt Michael Lauber gerät weiter unter Druck

Darum geht es: Die Wirren um die Fifa-Ermittlungen der Schweizer Bundes­anwaltschaft nehmen kein Ende. Bisher war bekannt, dass sich Bundes­anwalt Michael Lauber 2016 und 2017 während des laufenden Ermittlungs­verfahrens gegen die Fifa insgesamt dreimal informell mit Fifa-Präsident Gianni Infantino getroffen hat. Jetzt wird bekannt, dass es im Juli 2015 gar zu einem vierten Treffen gekommen sein soll. Das ist brisant, weil zwei Monate nach diesem Treffen gegen Ex-Fifa-Präsident Sepp Blatter ein Straf­verfahren eröffnet wurde wegen der obskuren Zahlung von 2 Millionen Franken an den ehemaligen Spitzen­fussballer und Sport­funktionär Michel Platini. Das Straf­verfahren beendete Platinis Ambitionen auf das Fifa-Präsidium – und machte den Weg frei für Gianni Infantino. Platini, der dieses vierte Treffen diese Woche gegenüber Journalisten bekannt machte, ohne allerdings Beweise vorlegen zu können, spricht von einem «Komplott». Zum Vorwurf des angeblichen vierten Treffens von Lauber und Infantino wollte die Bundes­anwaltschaft bisher keine Stellung nehmen.

Warum das wichtig ist: Die Verfehlungen, Verdächtigungen und Vorwürfe schränken die Handlungs­fähigkeit des Bundes­anwalts ein und hinterlassen den Eindruck, dass bei der obersten Ermittlungs­behörde gekungelt wird. Das neu aufgetauchte Treffen könnte erklären, wie die Bundes­anwaltschaft vom geheimen Millionen­honorar an Platini erfahren hat: durch Insider­wissen, mit dem zwei führende Fussball­funktionäre ausgeschaltet werden konnten. Bereits seit längerem ist in US-Medien die Rede von einem vierten Treffen zwischen Lauber und Infantino, das angeblich höchst konspirativ auf einer Zürcher Parkbank stattgefunden haben soll. Für Bundes­anwalt Lauber sind diese Treffen vor allem deshalb ein Problem, weil sie nicht protokolliert wurden, obwohl die Strafprozess­ordnung dies vorschreibt. Erinnern kann sich Lauber nur noch an ein Treffen. Darüber hinaus macht er «Erinnerungs­lücken» geltend. Deshalb läuft gegen Lauber jetzt ein Disziplinarverfahren – und seine Wieder­wahl durch das Parlament wurde verschoben, bis die Sache aufgeklärt ist. Lauber wiederum ging zum Gegen­angriff über und reichte bei den Geschäfts­prüfern des Parlaments eine Aufsichts­beschwerde gegen die Aufsicht der Bundes­anwaltschaft ein.

Was als Nächstes geschieht: Das Disziplinar­verfahren gegen Lauber läuft, die Folgen der Untersuchung können von einer Verwarnung über einen Verweis oder eine Lohn­kürzung für maximal ein Jahr bis hin zur Absetzung reichen. Was Bundes­anwalt Lauber in dieser Situation nicht hilft: Diese Woche hat das Bundes­strafgericht in Bellinzona auch noch einen seiner ehemaligen Berater wegen Vorteilsnahme verurteilt. Der Berater hatte sich in Russland in teure Restaurants einladen lassen, übernachtete in Luxus­hotels und flog im präsidialen Jet von Wladimir Putin. Zum Verhängnis wurde dem Berater eine Bären­jagd mit der russischen General­staatsanwaltschaft: Mit Helikoptern und Gelände­wagen trieben die Jäger die Bären vor die Gewehre und ballerten los. Die Richter verurteilten den Berater, weil er «jedes Gespür für korruptions­anfällige Situationen» habe vermissen lassen, zu einer bedingten Geldstrafe von 9000 Franken.

Massenproteste in Tschechien gegen Ministerpräsident Babiš

Darum geht es: In der tschechischen Hauptstadt Prag kam es am Dienstag zu einer Grossdemonstration. Die Veranstalter wollen bis zu 120’000 Teilnehmerinnen gezählt haben. Sie fordern den Rücktritt des tschechischen Minister­präsidenten Andrej Babiš, dem sie Korruption und einen autokratischen Regierungs­stil vorwerfen. Auch die von ihm unlängst eingesetzte Justiz­ministerin solle zurücktreten.

Warum das wichtig ist: Seit Ende April gehen in Tschechien Menschen gegen die Regierung auf die Strasse – und es werden immer mehr. Unterdessen sind es die grössten Demonstrationen seit dem Fall des Kommunismus im Jahr 1989. Ihren Anfang nahmen sie im April, als Andrej Babiš den Justizminister entliess und durch eine Loyalistin ersetzte. Er tat das nur einen Tag nachdem die Polizei empfahl, eine Strafuntersuchung gegen Babiš zu eröffnen. Babiš wird vorgeworfen, EU-Förder­gelder für sich abgezweigt zu haben. Trotz der Vorwürfe gegen ihn ging Babiš’ Partei aus den Europa­wahlen mit rund 21 Prozent der Stimmen als Siegerin hervor.

Was als Nächstes geschieht: Würden sich die Vorwürfe bestätigen und würde Babiš verurteilt, drohten ihm bis zu zehn Jahre Gefängnis. Babiš streitet die Vorwürfe vehement ab – und hat angekündigt, keinesfalls zurückzutreten. Die Opposition wird sich derweil darum bemühen, dass die Proteste nicht abreissen.

Tausende Demonstranten fordern auf dem Prager Wenzelsplatz den Rücktritt von Andrej Babiš. Lukas Kabon/Anadolu Agency/Getty Images

Militär würgt Proteste im Sudan gewaltsam ab

Darum geht es: In der sudanesischen Hauptstadt Khartum hat das regierende Militär am Montag auf Demonstranten schiessen lassen. Seit Monaten campieren Tausende Menschen vor dem Haupt­quartier der Armee – und fordern eine zivile Regierung. Augen­zeugen berichten von einem regelrechten Massaker. Schätzungen gehen von mindestens 60 Toten aus. Die Opposition hat als Reaktion im ganzen Land zu zivilem Ungehorsam aufgerufen.

Nach dem Massaker an Demonstranten in Khartum gibt es kaum noch Hoffnung auf Demokratie im Sudan.Stringer/Anadolu Agency/Getty Images

Warum das wichtig ist: Die Protestierenden hatten vor gut zwei Monaten den Sturz von Diktator Omar al-Bashir erzwungen. Doch die Hoffung auf eine demokratische Zukunft des Landes scheint sich zu zerschlagen. Das Militär, welches Omar al-Bashir abgesetzt hat, klammert sich an die Macht. Bisher konnten sich die Generäle und die Opposition nicht auf die Bildung einer Übergangs­regierung einigen. Nach dem Massaker vom Montag erklärte das Militär die Verhandlungen für gescheitert.

Wie es jetzt weitergeht: Die Militärs wollen in sieben Monaten Wahlen abhalten. Derzeit spricht wenig dafür, dass diese fair und demokratisch ablaufen werden. Es scheint wahrscheinlich, dass der Sudan auf eine neue permanente Militär­diktatur zusteuert, analog zur Diktatur von Abdel Fattah al-Sisi in Ägypten.

Zum Schluss: Ungleiche Spiesse für chinesische Twitterer

Am 4. Juni 1989 schoss die chinesische Armee auf demonstrierende Studentinnen und setzte damit wochenlangen Forderungen nach Reformen ein Ende. AP/Keystone

Am Dienstag hat sich das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens zum dreissigsten Mal gejährt. In der Nacht auf den 4. Juni 1989 rollten auf dem Tiananmen-Platz in Peking Panzer auf. Die Kommunistische Partei liess Studenten erschiessen und nieder­walzen, die dort für mehr Demokratie demonstrierten. Bis heute ist das Ereignis in der Einparteien­diktatur ein Tabu. Nur in der ehemaligen britischen Kolonie Hongkong dürfen Gedenk­feiern stattfinden. Im Netz machen hingegen Jahr für Jahr Chinesen ihrer Wut und Trauer über das Massaker Luft. Doch ausgerechnet kurz vor dem dreissigsten Jubiläum sperrte Twitter Hunderte chinesische Profile, wie «Netzpolitik.org» berichtet. Schuld sei allerdings nicht Druck aus China, sondern ein übereifriger Algorithmus gewesen, liess Twitter verlauten. Zeitgleich hatten chinesische Staats­medien freie Bahn, Twitter mit Aussagen wie «Tiananmen war eine Impfung für die chinesische Gesellschaft» zuzumüllen.

Top-Storys: Lesens- und Bedenkenswertes

Zivilcourage: «Da muss man für Werte eintreten. Und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er will.» Das sagte der CDU-Politiker Walter Lübcke an einer Bürger­versammlung im Jahr 2015, an rechte Pöbler gewandt. Diese beiden Sätze machten ihn zur Zielscheibe einer beispiel­losen Hass­kampagne, die «Vice» hier dokumentiert hat. Vergangene Woche wurde Lübcke vor seinem eigenen Haus erschossen. Die genauen Hinter­gründe seiner Ermordung sind unklar. Klar ist aber, schreibt «Vice»: «Die Szene, die sich damals seinen Tod gewünscht hat, feiert ihn jetzt – oft völlig ungeniert.»

«Parler de la merde, c’est génial.» Der 19. November ist der Internationale Tag der Toilette. Wie kommen solche Gedenk­tage eigentlich zustande? «Heidi News» hat den Mann getroffen, der hinter dem Toiletten­tag steckt. Gesprochen haben sie mit ihm – wo sonst – auf dem stillen Örtchen.

Neues zur ETH: Nina Buchmann ist Professorin und Vorsteherin des Departements für Umwelt­system­wissenschaften an der ETH. Die «NZZ» hat mit ihr über die Lage der Frauen an der Hochschule gesprochen. Auch darüber, warum sie den «Fall Carollo» anders sieht als ihre Professoren-Kollegin Ursula Keller.

Meister seines Fachs: Michael Lewis ist einer der besten Finanz­reporter überhaupt. Mehrere seiner Bücher wurden verfilmt. Bürokratie, Finanz­konstrukte, Sport­statistiken: Lewis ist ein Meister darin, «langweilige» und hoch komplexe Themen wie einen Thriller zu erzählen. Wie macht er das? Und wie findet er seine Protagonisten? «Vox» hat ihn gefragt.

Was diese Woche wichtig war

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