Am Gericht

Zu lange geschwiegen

Ein Auftraggeber überweist die ersten Teilrechnungen einer Firma unwidersprochen. Erst bei den letzten zwei weigert er sich zu bezahlen. Überzeugen seine Einwände?

Von Sina Bühler, 05.06.2019

Teilen1 Beitrag1

Ort: Kreisgericht Wil
Zeit: 23.05.2019, 13.30 Uhr
Fall-Nr: VV.2018.36
Thema: Unbezahlte Rechnungen

Wenn zwei miteinander eine Vereinbarung treffen, dann entsteht ein Vertrag. Verträge sind ein zentraler Pfeiler jedes Rechtsstaates, ohne sie wäre Handel unmöglich. Niemand würde etwas verkaufen, wenn er oder sie nicht darauf zählen könnte, dafür den vereinbarten Preis ausbezahlt zu bekommen.

Wie Verträge zwischen Privatpersonen zustande kommen, regelt das Obligationen­recht. «Zum Abschluss eines Vertrages ist die übereinstimmende gegenseitige Willens­äusserung der Parteien erforderlich», steht gleich im ersten Artikel. Und dann steht da auch: «Sie kann eine ausdrückliche oder stillschweigende sein.» Nur: Wer definiert die «stillschweigende Willensäusserung»?

Im Zweifelsfall tun das die Gerichte. Und das kann manchmal ziemlich kompliziert werden. Anschauungsbeispiel am Kreisgericht Wil SG.

Es sind alles Deutsche, die sich im Gerichtssaal gegenüberstehen. Auf der einen Seite der Patron, ein 80-jähriger Unternehmer aus Heilbronn, der auf der ganzen Welt gebrauchte Pressen­strassen vermittelt, auf- und abbauen lässt. Damit wird Blech in mehreren Schritten in die benötigte Form gepresst, etwa in Auto­fabriken. Er hört vermutlich schlecht und flüstert deshalb zu laut. Pausenlos kommentiert er die Aussagen der übrigen Verfahrens­beteiligten. Seine Firma hat er in Wil eintragen lassen, darum ist das Kreis­gericht in Flawil für die Zivilklage zuständig.

Eingereicht hat sie der Maschinen­schlosser und Kaufmann K. aus Weilheim. Wegen einer Sache in Polen: K. hat vom Firmen­patron den Auftrag erhalten, in Warschau eine Pressen­strasse abzumontieren. Auf solche «Verlagerungen von Produktions­stätten» ist K. spezialisiert. Im Frühjahr 2015 fährt er also nach Polen. Der Auftrag ist dringlich, muss sofort erledigt werden. Mehr als 3 Monate bleibt K. in Warschau, sein Team arbeitet fast pausenlos. Für die geleistete Arbeit verschickt er 8 Teil­rechnungen. Die ersten 3 werden relativ schnell bezahlt, die nächsten 3 mit Verzögerung. Die 7. und 8. Rechnung, insgesamt 23’310 Euro, bleiben unbezahlt.

Der Patron war mit den Stunden­rapporten und Zuschlägen auf den Rechnungen nicht einverstanden. War der Ansicht, es sei gar kein Tarif für den Auftrag vereinbart worden.

Natürlich sei ein Tarif verabredet worden, genauso wie die Zuschläge, meint hingegen Andreas Haffter, der Anwalt des Klägers. Das ergebe sich schon aus der anstandslosen Bezahlung der ersten Rechnungen. Bereits dort hatte K. mit demselben Stunden­tarif gerechnet, schon damals legte er Rapporte und Berichte bei. Sie wurden nicht beanstandet.

Der Anwalt des Patrons, Adrian Koller, bestreitet das. Er bestreitet sogar, dass diese Arbeits­stunden überhaupt geleistet wurden: «Auf den Montage­berichten und Rapporten ist nicht aufgeführt, welche Arbeiten mit welcher Dauer an welchem Tag ausgeführt worden sind.» Ausserdem hätten der Patron oder sein Sohn die Rapporte visieren müssen. Dazu war allerdings nichts verabredet. Später wird der Sohn etwas dazu sagen – ein Mann, der so schnell spricht, als wäre er ein gezündetes Feuer­werk. So schnell, dass der gegnerische Anwalt vergeblich versuchen wird, seine Antwort auf dessen Aussagen später schriftlich einzureichen. Er habe kaum etwas verstanden.

Als der Schnellsprecher vom Richter als Zeuge befragt wird, wird klar, dass die Hierarchie auf der Baustelle in Polen diffus war. Vier verschiedene Super­visoren habe es dort gegeben, unter anderem auch K. Der Sohn, der selber immer wieder mal in Polen auftauchte, zählt umständlich auf, wie die Prioritäten­liste der Verantwortung gelautet habe. Was allerdings in Erinnerung bleibt: K. selber hätte seine eigenen Stunden­rapporte visieren dürfen. Nur sei das gar nie verabredet gewesen, sagt dieser.

Noch vor dem Sohn ist der Vater dran. Das dauert ewig, der Mann holt aus, breitet dem Gericht praktisch jeden Gedanken aus, den er sich je zur Sache gemacht hat.

Dabei schaut er den Richter kaum an. Was aber keine Rolle spielt, denn er beantwortet auch nicht dessen Fragen.

«Haben Sie Kenntnis vom Stunden­ansatz?», fragt Einzel­richter Daniel Weniger.

Der Patron sagt: «Wir haben nie seinen Stunden­ansatz infrage gestellt. 65 Euro, keine Zuschläge. Ich mache seit 50 Jahren diese Presse­montagen für Automobil­fabriken. 10 bis 12 grössere Projekte im Jahr. In keinem Fall wurden Zuschläge über dem Stunden­ansatz verabredet. Wenn ich einen Stunden­ansatz nenne, muss die Wochenend- und Feiertags­arbeit drin sein. Auf der Baustelle gab es 3 andere Subunternehmer, aus Polen und der Slowakei. Die haben auch nur einen Ansatz.»

Er plaudert und schwatzt, schweift ab, erklärt, begründet. Sein Anwalt zieht die Schultern hoch und den Hals ein, klopft mit seinem Stift auf Stuhl und Tisch. Irgendwann streckt er seine Beine unter dem Tisch, macht ein Brett aus seinem ganzen Körper, der Kopf kippt nach hinten.

«Sie müssen hier nicht Ihre Position verteidigen, Sie müssen mir nur meine Fragen beantworten», meint Richter Weniger irgendwann. Es bringt nicht viel. Den einen Satz repetiert der Patron immer wieder: Er habe die ersten Rechnungen einfach bezahlt, damit K. wieder Geld habe. «Ich habe dem Büro gesagt, ihr zahlt dem so viel, dass seine Kosten gedeckt sind.» Das klingt zu Beginn nach einem guten Mann, einem empathischen Auftrag­geber. Doch mit jeder Wiederholung verliert es diesen Klang ein wenig.

Unklar bleibt die Rolle des Sohnes bei den Verhandlungen. Er selber meint zwar, er sei einfach das technische Gesicht der Firma. Als Ingenieur sei er derjenige, der sich das vor Ort anschaue. Er habe zwar den Kontakt zu K. hergestellt, mit dem er bereits zusammen­gearbeitet hatte und früher sogar befreundet war. Über Geld hätten sie aber nicht gesprochen. Und laut seinem Vater hatte der Sohn auch nichts zu vereinbaren. Er sei weder beteiligt noch beschäftigt bei der Firma, selbst als die Kopie einer Visiten­karte auftaucht, in dem sich der Sohn als Verwaltungsrat ausgibt, meint der Vater: «Der war als Verwaltungsrat vorgesehen, ist aber nie eingetragen worden.» Der Sohn meint: Die Visiten­karte sei ein Irrtum.

Irgendwie gelangte sie allerdings zum Kläger. Und der bleibt bei seiner Geschichte. Er habe den Auftrag erledigt, wie verabredet Rapporte und Rechnungen geschickt. Teils mit Zuschlägen, weil er mit seiner Mannschaft auch am Abend und am Wochen­ende im Einsatz war. Diese Baustelle in Polen übrigens, die muss für K. ein schrecklicher Ort gewesen sein. So unmenschlich, dass er zuletzt eine Aufforderung zur Schlichtung verweigern wird, mit den Worten: «Gibt es nicht. Es war dreckige Arbeit. Es war heiss, kein Wasser, keine Toiletten.»

Am Ende der Verhandlung erklärt Richter Weniger, wie es nun weitergeht. Er schlage vor, in zwanzig Minuten eine mündliche Erklärung zu seinem voraussichtlichen Entscheid abzugeben. Es ist noch keine Urteils­eröffnung, aber Weniger hofft, mit seinen Erklärungen zusätzliche Kosten und Aufwand für die Parteien zu vermeiden. Beispielsweise eine schriftliche Begründung, auf der K.s Vertreter aber jetzt schon bestehen will. Der Richter sagt freundlich: «Wir sind in Ihren Augen vielleicht ein burschikoses Land­gericht, aber wir versuchen eine schriftliche Stellung­nahme zu vermeiden. Kommen Sie zurück, hören Sie sich das an. Dann sparen wir uns alle Zeit und Kosten.» Murrend zieht der Zürcher Anwalt davon.

Eine halbe Stunde später wird er sich beim Richter bedanken: Das Gericht hat ihm – bis auf die Erstattung juristischer Beratung in Deutschland – Recht gegeben. Das Vertrags­verhältnis habe bestanden, auch wenn klar sei, dass nicht darüber verhandelt worden sei.

Der Patron habe sich ins eigene Fleisch geschnitten, weil er die Details nicht geklärt habe. Somit sei die Höhe der Stunden­ansätze «konkludent, stillschweigend vereinbart». – «Es gab keinen Vertrag!», schreit jetzt der Patron, «das ist unmöglich hier!» Der Richter spricht geduldig weiter.

Drei Tage später kommt das Urteils­dispositiv: Der Patron muss dem Kläger 21’314.40 Euro plus Zins bezahlen und ihn für seine Partei­kosten mit 5’129.45 Franken entschädigen. Ausserdem muss er 2880 Franken Gerichts­kosten übernehmen.

Illustration: Friederike Hantel