«Am Limit», Teil 2 – der Gutachter: «Eine solche Praxis kommt einer Misshandlung gleich»
Alle meinen, den 23-jährigen Intensivtäter zu kennen. Alle wissen von seinen Taten. Aber kaum jemand spricht darüber, dass Mike viermal in seinem jungen Leben unzumutbaren Situationen und Torturen ausgesetzt war.
Von Elia Blülle, Brigitte Hürlimann (Text) und Alexandra Compain-Tissier (Illustrationen), 04.06.2019
In Teil 1 schildern wir die Kindheit von Mike. Und wie er ab dem Alter von 10 Jahren regelmässig straffällig und verhaftet wurde. Es war der Beginn einer Negativspirale, die bis heute nicht endete.
Seit Jahren schon versuchen Psychologinnen und Psychiater zu ergründen, warum es Mike nicht gelingt, ein delikt- und gewaltfreies Leben zu führen. Im neuesten psychiatrischen Gutachten vom Februar 2019 ist von einer dissozialen Persönlichkeitsstörung mit ausgeprägten psychopathischen Wesenszügen die Rede, die sich vor allem durch Verantwortungslosigkeit, fehlendes Schuldbewusstsein sowie durch geringe Empathie ausdrücke.
Der Gutachter, Henning Hachtel, geht von einem hohen Rückfallrisiko für erneute Gewaltstraftaten und von einer geringen Therapiebereitschaft aus.
Mikes Vater hingegen stellt die psychiatrischen Diagnosen und vor allem die Einschätzung der Rückfallgefahr energisch in Abrede. Es handle sich um ein reines Aktengutachten, betont Herr K.
Wesentliche Ereignisse im Leben seines Sohns würden entweder komplett ausgeblendet, falsch oder gar nicht gewürdigt.
Dies ist die Geschichte von Mike, dem jungen Intensivtäter, der unter dem Pseudonym «Carlos» national bekannt wurde. Mehrere Monate haben Elia Blülle und Brigitte Hürlimann recherchiert, haben Gerichtsakten, Gutachten, Gesuche und Verfügungen studiert. Sie haben mit Anwältinnen, mit Angestellten des Justizvollzugs, mit Professoren, Politikerinnen, NGO-Vertretern gesprochen – und mit Mikes Eltern. Ihre Leitfrage: Sind Fairness und Professionalität überhaupt möglich im Umgang mit einem Straftäter, der seit dreizehn Jahren die Strafjustiz überfordert? Zur Übersicht.
Sie lesen: Teil 2
Die Tortur
Teil 3
Die Verzweiflung
Teil 4
Der Prozess
Mike weigert sich seit Jahren, mit amtlich bestellten Gerichtspsychiatern zu kooperieren, ihnen Rede und Antwort zu stehen. Er misstraut ihnen zutiefst. Seine Familie übrigens auch, die ihn in dieser Entscheidung unterstützt. Und Mike hört auf die Familie.
Es wäre aber zu einfach, Mikes Unvermögen, gelassen auf schwierige oder gar ungerechte Entscheide zu reagieren, allein mit seinen Persönlichkeitsmerkmalen zu erklären.
Sein Misstrauen den Behörden gegenüber ist begründet.
Mike hat in seinem kurzen Leben mindestens viermal krasse behördliche Fehlentscheide und unzumutbare Situationen erdulden müssen. Es sind Ereignisse, die man in der Schweiz für undenkbar halten würde und die den jungen Mann bis heute prägen – Vorfälle, die gerichtlich beurteilt und korrigiert werden mussten oder noch zu beurteilen sind.
Auch sie gehören zur Geschichte von Mike.
XI. Die Vorfälle
Ereignis 1: Als 10-Jähriger in Handschellen abgeführt, als 12-Jähriger im Gefängnis
Mike ist 10 Jahre alt, als ihn die Polizei 2006 wegen Verdachts auf Brandstiftung von zu Hause abholt und in Handschellen abführt, vor den Augen der Eltern. Sie dürfen ihn nicht einmal auf den Polizeiposten begleiten. Die Vorwürfe gegen Mike erweisen sich später als haltlos; Mike war zu Unrecht beschuldigt worden. Trotzdem verbringt Mike als Kind einen Tag in Haft und anschliessend über einen Monat in geschlossenen Einrichtungen.
Zwei Jahre später wird Mike wegen neuer Vorwürfe – einer Bagatelle, einer Auseinandersetzung mit seinem Vater – zuerst ins Polizeigefängnis, danach ins Gefängnis Horgen und ins Untersuchungsgefängnis Basel gesteckt. Mike ist acht Monate lang eingesperrt, oft in Einzelhaft, mit wenig bis keinem schulischen Unterricht. Als Grund für die monatelange Inhaftierung des Kindes werden «fehlende Alternativen», «die Sicherung vorsorglicher Massnahmen» oder sein «eigner Schutz» genannt.
Mike überfordert schon als Bub mit seinem unkooperativen und teilweise aggressiven Verhalten die Jugendstrafbehörde. Und seine Familie. Wenn niemand mehr weiterweiss, wird er kurzerhand in den Knast gesteckt; nicht zuletzt auch deshalb, weil ihn keine Institution mehr aufnehmen will.
Doch das Bundesgericht weist die Jugendanwaltschaft der Stadt Zürich auf die Grenze bei der Inhaftierung von Kindern hin.
In einem Urteil vom September 2011 schreibt das höchste Schweizer Gericht, eine provisorische Unterbringung im Gefängnis (in der Jugendabteilung) bis zum Auffinden einer geeigneteren Einrichtung sei «noch bundesrechtskonform». Die Jugendanwaltschaft müsse jedoch intensiv nach einem anderen Platz suchen. Der Zeithorizont für die Inhaftierung eines Kindes im Jugendgefängnis sei beschränkt.
Mikes Vater berichtet, sie hätten den Sohn in dieser Zeit meist nur einmal pro Woche besuchen dürfen, durch eine Glasscheibe getrennt. Danach habe Mike jahrelang unter massiven Schlafstörungen und Albträumen gelitten. «Das wird in keinem der psychiatrischen Gutachten gewürdigt», sagt Herr K.
Ereignis 2: Suizidversuche und tagelange Fixierung
Im Juni 2011 begeht Mike sein schwerstes Delikt. Er ist 15-jährig, als er im Zürcher Quartier Schwamendingen einem 18-Jährigen nach einer kurzen Auseinandersetzung mit einem Messer in den Rücken sticht. Mike wird nach der Attacke ins Gefängnis Limmattal eingeliefert.
In der Untersuchungshaft versucht er sich zweimal das Leben zu nehmen; am 5. Juli 2011 durch Erhängen, wenige Tage später nimmt er einen Mix aus Shampoo, Salben und Desinfektionsgel ein. Nach dem zweiten Versuch wird Mike in die Psychiatrische Universitätsklinik (PUK) Zürich eingewiesen.
Mike wird sofort am Bett fixiert und zwangsweise medizinisch behandelt, mit einem Cocktail aus Medikamenten. Das Beruhigungsmittel Promazin verabreichen ihm die Ärzte in einer dreifach stärkeren Dosis als üblich; in Kombination mit anderen Medikamenten verstärkt sich die Wirkung des Mittels noch einmal.
Dreizehn Tage lang bleibt der Jugendliche ans Bett gefesselt, mit einer sogenannten 7-Punkte-Fixation. Das bedeutet: null Bewegungsfreiheit. Mike ist es nicht möglich, sich auch nur an der Nase zu kratzen. Seine Liegeposition ist unverrückbar, weil auch der Oberkörper mit einem eng anliegenden Gurt angeschnallt ist.
Nach zehn Tagen wird ihm ein einstündiger, begleiteter Spaziergang pro Tag gewährt. Auf die Toilette gehen oder duschen darf er nicht. Derart ans Bett gefesselt, verbringt er seinen 16. Geburtstag.
Die Familie steht um ihn herum, fassungslos.
Ende September 2011 erhebt Mikes ältere Schwester gegen die drei verantwortlichen Ärzte an der PUK Anklage wegen Körperverletzung und Freiheitsberaubung. Die Zürcher Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren vier Jahre (!) später ein. Erst eine Beschwerde des Rechtsanwalts Marcel Bosonnet führt 2016 dazu, dass die Strafverfolger auf Anweisung des Obergerichts doch noch eine Untersuchung führen müssen.
Staatsanwalt Hans Maurer bestellt beim Berliner forensischen Psychiater Werner E. Platz ein Gutachten über die Vorgänge in der PUK. Er will wissen, ob die vollständige Fixierung von Mike während dreizehn Tagen sowie die teilweise zwangsweise erfolgte Medikation medizinisch indiziert und erforderlich gewesen seien.
Das Gutachten des erfahrenen Berliner Psychiaters liegt seit kurzem vor. Sein Fazit ist an Deutlichkeit kaum zu überbieten. Er schreibt: Eine Fixierungsdauer von dreizehn Tagen habe er in seiner langjährigen Tätigkeit noch nie erlebt.
Nach den einschlägigen internationalen Standards gebe es keine Rechtfertigung für eine tagelange mechanische Fixierung, «eine solche Praxis kommt einer Misshandlung gleich».
Das damalige Verhalten Mikes habe seiner Ansicht nach weder eine Fixierung noch eine parallel erfolgte Zwangsmedikation gerechtfertigt; die Kombination beider Massnahmen sei nicht nachvollziehbar.
Mike lässt sich in diesem Verfahren inzwischen von Rechtsanwalt Markus Bischoff vertreten, eine Erhebung einer Anklage gegen die drei Ärzte steht bisher noch aus. Bischoff sagt, die Vorwürfe betreffend die Körperverletzung seien inzwischen verjährt, weshalb die Ärzte nur noch wegen Freiheitsberaubung gerichtlich zur Verantwortung gezogen werden könnten. Er rechnet damit, dass die Anklage diesen Herbst eingereicht werden soll.
Ereignis 3: Abbruch des Sondersettings und Inhaftierung
August 2013. Seit über einem Jahr befindet sich Mike in einem engmaschigen Sondersetting. Er bewährt sich, hält sich an die Regeln, kooperiert, lernt, macht in jedem Bereich Fortschritte. Doch dann strahlt das Schweizer Fernsehen ein Porträt des Zürcher Jugendanwalts Hansueli Gürber aus.
Gürber berichtet von seinem Erfolg mit dem schwierigen Jugendlichen und erwähnt so nebenbei, was das Sondersetting kostet: rund 29’000 Franken pro Monat. Das ist unbestrittenermassen sehr viel Geld – und das Instrument des Sondersettings ist in der Schweiz noch wenig bekannt.
Doch die Massnahme funktioniert; die Chancen, dass der jugendliche Mike fortan ein deliktfreies Leben führt (und dem Staat keine Kosten mehr verursacht), steigen markant. Und nebenbei: Der regelmässige, monatelange Einsatz von polizeilichen Sondertruppen für die Durchführung eines einstündigen Hofspaziergangs in der Psychiatrie oder für die Zuführung des Häftlings zu staatsanwaltlichen Einvernahmen kostet sehr viel mehr.
Darüber macht sich der «Blick» keine Gedanken. Nach der Ausstrahlung des Fernsehfilms lanciert das Boulevardblatt unverzüglich eine reisserische Kampagne gegen das Sondersetting und seine Kosten. Andere Medien springen auf. Aus Mike wird «Carlos». Die Volksseele kocht. Das Deo des Jugendlichen und seine Essensvorlieben werden öffentlich diskutiert. Er steht unter Dauerbeobachtung und Dauerbeschuss.
Der damalige Zürcher Justizdirektor Martin Graf und die Oberjugendanwaltschaft halten dem medialen Druck nicht stand und brechen das Sondersetting abrupt ab. Sie stecken Mike zuerst ins Gefängnis Limmattal und dann in die geschlossene Abteilung des Massnahmenzentrums Uitikon.
Dabei hat sich Mike nichts zuschulden kommen lassen.
Ins Gefängnis kommt er angeblich, um ihn vor der öffentlichen Empörung und vor den Medien zu schützen.
Einsperren, um ihn zu schützen: Das wird er fortan noch öfter hören.
Mikes damaliger Verteidiger, Stephan Bernard, muss bis vor Bundesgericht, um seinen Mandanten aus dem Gefängnis zu bringen. Das Verdikt aus Lausanne ist klar: Die Inhaftierung Mikes stelle einen schweren Eingriff in dessen Persönlichkeits- und Freiheitsrechte dar, beruhe auf sachfremden Gründen und verstosse gleich mehrfach gegen die Bundesverfassung.
Mike muss sofort entlassen werden.
Ereignis 4: Menschenrechtswidrige Behandlung im Bezirksgefängnis Pfäffikon
Als sich Mike wegen des Faustschlags im Tram in Haft befindet, wird er Anfang 2017 wieder einmal ins Bezirksgefängnis Pfäffikon verlegt, in die Sicherheitsabteilung.
Während rund dreier Wochen ist er dort einem Haftregime unterworfen, das als schweizweit einmalig bezeichnet werden muss: Mike schläft über zwei Wochen lang auf dem nackten Boden, nur mit einem Poncho bekleidet, ohne Unterwäsche. Die Zelle ist unterkühlt. Der Häftling friert, erhält aber keine Decke. Er darf nicht duschen und sich auch tagelang nicht die Zähne putzen. Er trägt drei Wochen lang ununterbrochen Fussfesseln, und der Hofgang wird ihm verweigert. Zum Essen gibt es belegte Brote. Gespräche mit seinem Verteidiger finden durch die geschlossene Zellentür statt.
Die Zürcher Justizdirektorin Jacqueline Fehr lässt die Haftbedingungen im Nachhinein administrativ untersuchen. Sie beauftragt dazu den ehemaligen Staatsanwalt Ulrich Weder.
Weder kommt zum Schluss, dass die Situation objektiv gesehen einer erniedrigenden und diskriminierenden Behandlung gleichkomme. Da aber keine Schädigungsabsicht des Personals zu erkennen sei, verstosse die Behandlung nicht gegen die Verfassung und die Menschenrechtskonvention. Staatsrechtsprofessor Jörg Künzli von der Universität Bern widerspricht dieser Auffassung.
In einem Gutachten, das sich auf Weders Bericht stützt, hält Künzli fest, es brauche keinen Vorsatz der involvierten Staatsorgane, um eine Menschenrechtsverletzung zu bejahen. Mike habe im Bezirksgefängnis Pfäffikon eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung erdulden müssen. Folter liege hingegen nicht vor.
XII. Staatliches Versagen
Fassen wir zusammen:
Als 10-Jähriger wird Mike in Handschellen abgeführt und eingesperrt aufgrund falscher Verdächtigungen.
Mit 15 versucht er sich im Gefängnis zweimal umzubringen, wird in die Psychiatrie eingeliefert, dreizehn Tage lang ans Bett gebunden und mit einem hoch dosierten Medikamentencocktail ruhiggestellt.
Wegen eines Medienskandals wird er aus einem gut funktionierenden Sondersetting herausgerissen und ohne jegliches Verschulden ins Gefängnis gesteckt.
Als junger Erwachsener erfährt er im Bezirksgericht Pfäffikon Haftbedingungen, die unmenschlich und erniedrigend sind.
Vier Fälle. Viermal krasses Versagen.
Der Kanton Zürich hat im Fall von Mike mehrfach grundlegende Prinzipien der Verhältnismässigkeit, des Kinder- und Jugendschutzes und der Grundrechte verletzt. Das Vertrauen des jungen Mannes in die Behörden ist erschüttert. Mike verweigert jegliche Kooperation. Er lässt sich nicht therapieren, misstraut jedem, wittert überall Fallen und Ungerechtigkeiten.
Kann man ihm das zum Vorwurf machen?
Man müsste meinen, die Zürcher Justizbehörden hätten aus den Fehlern gelernt. Doch dem ist nicht so. In der Haftanstalt Pöschwies bahnt sich erneut – zum fünften Mal in Mikes Leben – eine Katastrophe an.