Klima schlägt Europa
Welches Thema wird die Schweizer Parlamentswahlen entscheiden? Die europäischen Wahlen geben Hinweise – die stur ignoriert werden.
Von Daniel Binswanger, 01.06.2019
Europa hat seine Parlamentswahlen hinter sich – und die Schweiz startet in die Warm-up-Phase zu den National- und Ständeratswahlen. Die Listen stehen, Imagekorrekturen werden vorgenommen, Themenschwerpunkte werden gesetzt. Gibt es für die kommenden Schweizer Wahlen ein paar Lehren, die aus den Europawahlen zu ziehen wären? Eindeutig ja. Natürlich wird die politische Situation in den verschiedenen europäischen Ländern von unterschiedlichen Faktoren geprägt, und ganz besonders gilt das von der Schweiz, die der EU bekanntlich nicht angehört. Dennoch ist die Konvergenz der Agenden und Dynamiken immer wieder frappierend.
Das war schon vor vier Jahren so, als die SVP wider Erwarten zur grossen Siegerin der nationalen Wahlen wurde – hauptsächlich aufgrund einer «Flüchtlingskrise», die sich zwar in Deutschland und in Teilen Osteuropas auf spektakuläre Weise manifestierte, die die Schweiz jedoch hauptsächlich in Form von Medienberichten erreichte. Zwar nahm auch bei uns die Zahl der Asylsuchenden zu, aber von der Ausnahmesituation, wie sie in Deutschland oder entlang der Balkanroute herrschte, blieb die inländische Lage himmelweit entfernt.
Dennoch schob sich das Thema auch in der Schweizer Politik ins Zentrum des Interesses. Gegenüber europäischen Grosswetterlagen ist die helvetische Politik extrem durchlässig, ein Schengen-Space der Meinungsbildung, von dem auch unsere Nationalisten gerne profitieren. Das gilt selbst dann, wenn wir von einem Thema – wie eben der «Flüchtlingskrise» – gar nicht direkt betroffen sind, und natürlich umso mehr, wenn die Agenda von einem Politikfeld wie dem Klimawandel beherrscht wird, das tatsächlich keine nationalen Grenzen kennt und dessen überall simultan zu beobachtende Dominanz unmittelbar in der Sache gründet.
Auch im aktuellen Wahljahr existiert wieder eine Reihe von frappierenden Analogien zwischen der helvetischen und der gesamteuropäischen Auseinandersetzung. Nicht nur in der Schweiz, sondern auch in den Nachbarländern wird die Debatte neben dem Klima stark von Europa dominiert. Nicht nur bei uns, sondern auch in der EU sind die grünen Parteien in der Regel auch die offensiv proeuropäischen. Sowohl in der Schweiz als auch in angrenzenden Staaten lässt sich eine verstärkte Mobilisierung einer neuen politischen Mitte feststellen, die sich in erhöhter Stimmbeteiligung äussert und zu einem Dämpfer für die nationalistischen, rechtspopulistischen Kräfte wird. Das liess sich bei den Europawahlen nicht weniger als bei den Zürcher Kantonsratswahlen beobachten.
So weit zu den Analogien. Was aber ist mit den Lehren, welche die Schweizer Parteistrategen aus den Europawahlen ziehen können?
Die wichtigste Lektion dürfte lauten: Klima schlägt Europa. Zwar haben in der EU gerade die grünen Parteien in der Regel auch ein dezidiert proeuropäisches Profil. Das gilt für die deutschen Grünen, die für eine stark forcierte EU-Integration plädieren – und im Gegensatz zur an der Regierung beteiligten SPD damit auch glaubwürdig sind. Es gilt für die französischen Grünen, Europe Ecologie – Les Verts, die Europa noch vor écologie sogar in ihrem Namen tragen. Und es gilt für die britischen Grünen, die sich nicht nur für Umweltbelange starkmachen, sondern dezidiert ins Remain-Lager gehören. Aber die spektakulären Zugewinne aller dieser Parteien sind nicht ihrer europapolitischen Agenda geschuldet. Sie gehen primär auf das Konto ihrer umweltpolitischen Glaubwürdigkeit.
Das zeigt sich beispielsweise in Frankreich, wo Macron mit seiner europapolitischen Agenda der verstärkten Integration eine unbestrittene Führungsrolle einnimmt, in Sachen Umweltpolitik jedoch immer wieder starker Kritik ausgesetzt ist. Nur in diesem Feld konnten sich die Grünen als Alternative profilieren, und das, obwohl die Regierung extrem offensiv darum bemüht ist, ihr ökologisches Profil zu schärfen. Es zeigt sich im Brexit-gebeutelten England, wo die Grünen zu den ebenfalls dezidiert proeuropäischen Liberal Democrats in Konkurrenz stehen. Die «Lib-Dems» haben zwar massiv von der europapolitischen Linienlosigkeit von Labour profitiert und spektakuläre Zugewinne erzielt. Sie konnten aber nicht verhindern, dass jenseits der beiden etablierten Grossparteien auch für eine Ökoformation ein überraschend breiter politischer Raum aufging.
Und bei uns? Wer einen Blick auf die eidgenössischen Debatten wirft, könnte den Eindruck gewinnen, Petra Gössi sei die einzige Schweizer Politikerin, die ab und zu mal einen Blick in den Auslandteil einer Zeitung wirft. Die FDP tut, was angesichts der politischen Ausgangslage naheliegend ist: Im Eilzugtempo wird der Versuch gemacht, die klimapolitischen Hausaufgaben zu erledigen. Sehr verblüffend ist jedoch, dass die anderen Parteien sich an diesem Wettlauf bisher kaum zu beteiligen scheinen.
Mit Ausnahme der Grünen, die sich um ihre Glaubwürdigkeit als Umweltpartei keinerlei Sorgen machen müssen, und der SVP, die sich offenbar entschieden hat, zu einem Kamikaze-Club der Klimalügner zu mutieren, wäre von allen Parteien zu erwarten, dass sie sich mit schrillen ökologischen Profilierungsversuchen beharken. Die SP ist umweltpolitisch fast genauso engagiert wie die Grünen und hätte ein überwältigendes Interesse daran, diese Tatsache laut und deutlich unters Volk zu bringen. Die Roten sind de facto die Mustergrünen. Bisher jedoch war wenig davon zu spüren, dass sie mit diesem Pfund auch würden wuchern wollen.
Die CVP hat 2011 sehr offensiv auf den «Fukushima-Effekt» reagiert und unter Anleitung von Doris Leuthard die FDP in die Defensive gedrängt. In diesem Wahljahr ist davon bisher ebenfalls nichts zu merken. Ist das Teil der Neuausrichtung der Partei durch Gerhard Pfister?
Am enigmatischsten bleibt die Strategie der Grünliberalen Partei. Sie liefert sich weiterhin einen hingebungsvollen Kleinkrieg mit der Kantonalzürcher SP und zelebriert jeden Parteiübertritt als nationales Medienereignis. Sie kommuniziert aus allen Rohren zu Europa, zur Politik im Start-up-Stil und – wenn es hochkommt – zur Rentenreform. Wann ist die Grünliberale Partei zum letzten Mal als Ökopartei aufgetreten? Natürlich redet GLP-Gründervater Martin Bäumle von einer «klima- und umweltpolitischen Schlüsselwahl». Aber abgesehen davon, dass Bäumle kaum mehr präsent ist, wird die Kommunikationsstrategie von dieser Einsicht dem Anschein nach nicht berührt. Den Grünliberalen als grüner, bürgerlicher Kraft würde sich ein historischer Boulevard auftun. Stattdessen verausgaben sie sich in einem bizarren Dauerscharmützel um die Deutungshoheit über «Sozialliberalismus».
Wird Gössi aus den kommenden Wahlen also als Gewinnerin hervorgehen? Dies wäre eine gewagte Hypothese, und auch für Gössis Problem sind die Europawahlen instruktiv. Es reicht eben nicht, sich ganz plötzlich grüne Parolen auf die Fahne zu schreiben. Je mehr die Klimaagenda zum parteipolitischen Gemeingut wird, desto wichtiger wird in Umweltfragen die Glaubwürdigkeit. Die FDP hat einen langen Track-Rekord als nach der SVP zweitklimafeindlichste Partei der Schweiz. Diese Positionierung einfach mal so schnell in ihr Gegenteil zu verkehren, dürfte ein Ding der Unmöglichkeit sein, erstens, weil parteiintern die Widerstände zu gross sind, und zweitens, weil das plötzliche Damaskus-Erlebnis des Freisinns in der Öffentlichkeit bisher mehr Erheiterung als sonst irgendetwas auslöst.
Wer wird die kommenden «Klimawahlen» gewinnen? Einen massiven Vorteil werden diejenigen Parteien haben, die ihre grüne Botschaft an den Mann und die Frau bringen und denen diese Botschaft auch abgenommen wird. Die Grünen dürften diesen Bonus auf sicher haben. Bei allen anderen Parteien (ausser der SVP) dürfte es spannend bleiben bis zuletzt.
Illustration: Alex Solman