Wer sind diese Grünen?
Junge Campaigner statt Ökofritzen: Der Erfolg der europäischen Grünen reicht über den Klimahype hinaus. Auf Spurensuche in Berlin, Paris, Amsterdam und Brüssel.
Von Simon Schmid, Daniel Graf, Daniel Binswanger und Ronja Beck, 30.05.2019
Noch im November wurden die europäischen Grünen heruntergeschrieben. Sie habe grosse Ambitionen, aber keinen Wählersupport, schrieb «Politico» über die Ökopartei. Sitzverluste bei den Europawahlen würden drohen.
Ein halbes Jahr später sieht alles anders aus. Die grüne Fraktion hat übers Wochenende deutlich zugelegt. Ihre Vertretung im EU-Parlament steigt von 52 auf 69 Sitze an, je nach Zählweise und absehbaren Anschlüssen weiterer Mitglieder sogar auf 73 Sitze. Das entspricht einem Anteil von beinahe 10 Prozent.
Die Grünen sind damit nicht nur praktisch gleichauf mit der Rechtsaussen-Fraktion. Sondern sie zählen zu den grössten Siegern dieser Wahl überhaupt. Doch was verbirgt sich hinter der Farbe? Wie kohärent ist die grüne Bewegung in den europäischen Ländern? Steckt hinter ihrem Stimmenzuwachs mehr als ein punktueller, kurzlebiger Klimahype?
Ein Blick in verschiedene europäische Länder legt nahe: Bei den Grünen hat sich in den letzten Jahren einiges getan. Zugleich sollte man sich nach der Europawahl aber vor allzu weitreichenden Deutungen hüten.
Deutschland
Das zeigt sich exemplarisch an jenem Land, das mit 21 die meisten grünen Abgeordneten ins europäische Parlament entsenden wird: Deutschland. Mit über 20 Prozent haben die Grünen dort das beste Ergebnis ihrer Geschichte eingefahren. CDU und SPD wurden Millionen von Wählern abspenstig gemacht. Die Grünen, nicht die AfD, sind die mit Abstand stärkste Alternative zur GroKo.
Dies mit der Klimafrage zu erklären, trifft ins Zentrum – und reicht dennoch nicht aus. Dringlichste Forderung im Wahlprogramm ist die Besteuerung von CO2. Doch die Grünen feiern nicht erst seit den «Fridays for Future» Erfolge, und ihre Spitzenkandidaten Ska Keller und Sven Giegold haben nicht in erster Linie ein klimapolitisches Profil. Vielmehr stehen sie für eine antinationalistische, proeuropäische EU-Kritik in Wirtschafts-, Sozial- und Flüchtlingsfragen. Entsprechend breit können sich die Grünen als Zukunftspartei inszenieren.
Und noch ein Erfolgsgeheimnis lässt sich beispielhaft am Spitzenkandidatenduo ablesen. Ska Keller und Sven Giegold, beide bereits seit zehn Jahren im Europäischen Parlament, stehen innerhalb der Partei zwar deutlich links. Keller hat sich in der Flüchtlingspolitik engagiert; Giegold, einst Gründungsmitglied von Attac, hat sich Steuergerechtigkeit und die Regulierung der grossen Unternehmen auf die Fahnen geschrieben – der politische Abstand zum mächtigen Kretschmann-Flügel der Partei rund um den Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg ist beträchtlich.
Nur: Von Dissens ist nichts zu spüren. Der alte Richtungsstreit zwischen Realos und Fundis, er hat sich in stiller Hegemonie der Realos verflüchtigt. Die Grünen haben längst die Chance erkannt, die SPD als linke Volkspartei abzulösen, und selbst die Parteilinken tragen die dafür nötige Konsensorientierung mit. So bietet die Partei heute unterschiedlichsten Wählern jeweils die Identifikationsfigur, die sie gerade brauchen.
Frankreich
Obwohl bis vor kurzem nichts darauf hingewiesen hat, zeichnet sich in Frankreich eine ähnliche Entwicklung ab wie in Deutschland: die Verdrängung der klassischen Linksparteien durch eine Ökopartei.
Der Erfolg von Europe Ecologie – Les Verts (EELV) war die grosse Überraschung dieses Wahlgangs. Mit fast 14 Prozent Stimmenanteil konnten sich die französischen Grünen gegenüber 2014 deutlich steigern. Noch beeindruckender ist das Resultat, wenn man es mit dem katastrophalen Abschneiden bei den letzten Parlamentswahlen vergleicht, bei denen die EELV, auch aufgrund des Majorzsystems, alle Mandate verlor.
Nach ihrem Durchmarsch rangieren die Grünen nun auf dem dritten Platz, weit vor der eingebrochenen France insoumise von Jean-Luc Mélenchon und damit als deutlich stärkste Oppositionskraft links der Mitte.
Dass die Grünen im linken Lager grasen, hat mit der prägenden Figur in Frankreichs Politik zu tun: Präsident Emmanuel Macron. Er hat einerseits selbst offensiv die Ökologie zu einem zentralen Kampagnenthema gemacht und die europäische CO2-Abgabe ins Zentrum gerückt. Und er hat andererseits versucht, das Spitzenpersonal der französischen Grünen in seine eigene Partei einzugliedern. Mit Pascal Canfin setzte er einen Überläufer, den Ex-Direktor des französischen WWF und langjähriges Mitglied der Grünen Partei, auf den zweiten Platz seiner Europa-Liste.
Von diesem Agendasetting profitierten letztlich aber nicht Macron und seine Partei La République en Marche – sondern EELV. 12 grüne Abgeordnete aus Frankreich reden künftig in der Grünen-Fraktion im EU-Parlament mit.
Grossbritannien
Aus Grossbritannien werden 11 weitere grüne Politiker ins EU-Parlament einziehen – was eine kleine Sensation ist, da die Green Party in der britischen Politik sonst null Bedeutung hat. Selbst wer die dortigen Geschehnisse im Zuge des Brexit eng verfolgt, hat die Namen ihrer Co-Chefs noch nie gehört: Jonathan Bartley und Siân Berry führen die Partei seit 2018 im Duo.
Die Ausrichtung der Green Party: proeuropäisch. Und das genügte bereits, um obenaus zu schwingen. Mit einer klaren Remain-Kampagne und dank der Klimademos haben die Grünen vor allem bei Labour Stimmen gefischt. Analog punktete die Scottish National Party: stark in Umweltthemen und EU-freundlich, hart in der Kritik an Labour, den Tories und dem gesamten Politikbetrieb. Im EU-Parlament zählt die SNP zur Grünen-Fraktion.
Die britische Erfahrung zeigt: Wo etablierte Parteien schwächeln, punkten vielfach die Grünen. Selbst wenn sie, bedingt durch die Historie und das Politsystem, noch so unbedeutend sind. Die Green Party of England and Wales hat jedenfalls das beste Ergebnis der letzten zwanzig Jahre erzielt.
Besser war sie nur 1989, bei der Europawahl nach Tschernobyl. Damals holte die Green Party satte 15 Prozent und war plötzlich die erfolgreichste grüne Partei in Europa. Bald darauf folgte jedoch der Absturz. Die Partei dümpelte lange vor sich hin, fast ohne Vertretung im britischen Unterhaus, das per Majorzrecht bestellt wird.
Niederlande
Dass grüne Parteien nicht nur von den Schwächen anderer leben, zeigt sich in den Niederlanden. Dort lässt ein «Jessias» die Grünen derzeit aufblühen. Jesse Klaver, 33, seit 2015 Parteichef von GroenLinks, gerne «Justin Trudeau der Niederlande» oder eben «Jessias» genannt, ist der momentane Star am holländischen Polithimmel. Unter ihm gingen die Grünen in den nationalen Parlamentswahlen 2017 als grösste Gewinnerin hervor. Bei der Europawahl errangen sie 11 Prozent der Stimmen und damit 3 Sitze, einen mehr als bisher.
Klaver macht die Grünen attraktiv. Kein Öko-Vibe, dafür USA-Touch. Er glänzt im Anzug und mit polierten Wahlsprüchen. Klaver lässt auch mal Koalitionsgespräche platzen, verzichtet aufs Mitregieren. Das wirkt integer, Kritiker würden sagen: kompromisslos. Klar ist auch die Positionierung als Gegenspieler von Populisten wie Geert Wilders, dessen Partei für die Freiheit gerade aus dem Europaparlament geflogen ist, und Thierry Baudet, dessen Forum für Demokratie im Gegenzug 3 Sitze gewonnen hat.
Litauen
In Osteuropa sind die Grünen praktisch inexistent. Ökologische Werte als Wohlstandsphänomen, das kennen postsowjetische Länder noch nicht.
Eine Ausnahme ist Litauen. Dort gewann der Bund der Bauern und Grünen 2016 plötzlich 54 der 141 Sitze im litauischen Parlament. Davor hatte die Partei nie auch nur einen gehabt. Politologen waren baff. Doch was in Grossbritannien der Brexit und in Holland die Jugendlichkeit ist, ist in Litauen die Seriosität.
Während links und rechts Politiker in Korruptionsfälle verwickelt waren, betonte der Parteichef der Grünen seine weisse Weste. Ramūnas Karbauskis, Agrarunternehmer, Milliardär und Philanthrop, wurde genau deshalb beliebt. Zudem warb er für höhere Gehälter und weniger Emigration. Das traf einen Nerv – und trifft ihn bis heute: Bei der Europawahl verdoppelte die Partei ihren Stimmenanteil von 6 auf 12 Prozent. Der baltische Kleinstaat schickt deshalb neu 2 grüne Abgeordnete ins Parlament nach Brüssel.
Brüssel
Dort muss sich Ska Keller nun überlegen, wie es weitergeht. Die Deutsche führt mit dem Belgier Philippe Lamberts das Co-Präsidium der europäischen Grünen. Die Ausgangslage hat sich verändert: Erstmals interessieren sich die grossen TV-Sender für die Grünen, erstmals wird die Frau mit dem Kurzhaarschnitt und dem tätowierten Oberarm zur Primetime interviewt.
Mit ihren 37 Jahren ist Keller bereits eine politische Veteranin. Schon 2014 führte sie den europäischen Wahlkampf an – zusammen mit José Bové, einem schnauzbärtigen Biobauern und Globalisierungskritiker aus Südfrankreich. Damals setzte es für die Grünen einen Dämpfer ab: Die Eurokrise stand im Zentrum, ökonomische Sorgen überwogen gegenüber der Ökologie.
In der Zwischenzeit hat sich nicht nur die Wirtschaft erholt, sondern auch die Grüne Partei. Neue Gesichter kamen hinzu, neue Akzente wurden gesetzt. Zum Beispiel beim Datenschutz, wo das EU-Parlament auf grüne Initiative hin eine Führungsrolle übernahm, und bei der Lobbying-Transparenz.
Positionen wurden gefasst, etwa zur Flüchtlings- und Steuerpolitik, und in europäischen Netzwerken verbreitet. Sie dienen sogar den Schweizer Grünen, die Mitglied in der europäischen Partei sind, als Referenz, wie der Zürcher Nationalrat Balthasar Glättli sagt. Die neuen Grünen sitzen nicht mehr im Parlament und stricken – sondern betreiben europaweites Campaigning.
Ein Erfolgsrezept dabei sei, über das Warum zu reden statt nur über das Wie. «Wenn man in einer Regierung sitzt, redet man nur noch über Umsetzungen und Massnahmen, aber nicht mehr über Werte», sagt Balthasar Glättli. «Über technische Details zu CO2-Abgaben, über den Inland- und Auslandanteil und so weiter. Aber nicht mehr über Grundsätzliches: ob Weekendtrips nach London in Ordnung sind und ob das Fliegen teurer sein sollte als Bahnreisen.»
Primäres Ziel der grünen Fraktion ist es, mit ihrem neu gewonnenen Gewicht politische Sachentscheide zu beeinflussen. In den nächsten Tagen und Wochen steht in Brüssel eine Art von Koalitionsverhandlungen an: Welche Parteien machen gemeinsame Sache bei der Besetzung der Kommission, wer unterstützt in den nächsten fünf Jahren wessen politische Vorstösse?
Klar ist: Einen eigenen EU-Kommissar werden die Grünen weiterhin nicht stellen. Die Posten im aktuell 28-köpfigen Gremium werden traditionell aus den Reihen der nationalen Regierungsparteien rekrutiert. Einen grünen Regierungschef gibt es allerdings noch in keinem EU-Mitgliedsland. Personell werden die Grünen im EU-Apparat weiter eine untergeordnete Rolle spielen.
Umso teurer dürften die Grünen ihre Kooperation im Parlament verkaufen. «Forderungen in der Klima- und in der Agrarpolitik werden zuoberst auf der Liste stehen», sagt Johannes Hillje, ein Politikberater, der 2014 den Wahlkampf der europäischen Grünen organisierte. Wer auch immer die Kommission bestücken wird – Konservative, Sozialdemokraten, Liberale –, braucht die Stimmen der Grünen, um im Parlament etwas durchzubringen.
Die neue Position – halb involviert, halb aussen vor – dürfte den Grünen gar nicht so ungelegen kommen. Ihre Exponenten können so Einfluss nehmen, ohne ihr Image als Underdog aufzugeben. Die Grünen bleiben die Alternative, als die sie sich im jüngsten Wahlkampf verkauft haben. Und sind damit auch in fünf Jahren wieder wählbar, wenn es erneut Protestvoten zu holen und das Feld abzugrasen gilt, das strauchelnde Establishmentparteien hinterlassen.
Alles im grünen Bereich?
Eine junge, grüne Welle ist über Europa geschwappt. Zwei Lehren aber sollten die Grünen trotz ihrer Festlaune aus den letzten Tagen ziehen. Erstens hat diese Europawahl je nach Land extrem unterschiedliche Ergebnisse hervorgebracht. Ausgerechnet in Schweden zum Beispiel, dem Heimatland von Klimaaktivistin Greta Thunberg, haben die Grünen Stimmenanteile verloren. Auch innerhalb der Landesgrenzen ist das Bild teilweise komplizierter, als es zunächst den Anschein macht. In Deutschland haben sich beispielsweise einmal mehr gewaltige Spaltungen gezeigt. Der Osten der Republik wählt deutlich anders, in Brandenburg und in Sachsen, wo dieses Jahr noch Landtagswahlen sind, ist die AfD sogar stärkste Partei geworden. Nicht nur die Grünen werden sich dringend fragen müssen, wie sie hier die Trendwende schaffen wollen, auch in puncto Europa-Affinität.
Zweitens zeigt sich, ebenfalls am Beispiel Schweden, der unweigerliche Preis von Wahlerfolgen: die Verwässerung der Marke. In Schweden sind die Grünen bereits länger in der Regierungsverantwortung und müssen in der Koalition auch unbeliebte Kompromisse mittragen. Je mehr Realpolitik die Grünen machen müssen, desto verletzlicher werden sie – auch in Europa.