Binswanger

Der Deal für den Fortschritt

Die Europawahlen sind die grosse Schlacht zwischen progressiven und konservativen Kräften. Unklar ist allerdings die Agenda – und zwar auf beiden Seiten.

Von Daniel Binswanger, 25.05.2019

Korruptheit ist ein Erkennungsmerkmal des europäischen Rechts­populismus – das wurde nicht erst dadurch aktenkundig, dass Heinz-Christian Strache angetrunken und on camera einer feschen Russin unsittliche Angebote machte. Ist nicht der ungarische Staatsapparat sowohl zu einer formidablen Propaganda- und Machtmaschine als auch zu einem grossen Bereicherungsorgan für Orbáns Freundes- und Familienclan geworden? Hat nicht Marine Le Pen ihr Rassemblement National mit obskuren russischen Krediten finanziert, von ihren Demuts­gesten gegenüber Putin ganz zu schweigen? Ist nicht die AfD mittlerweile in mehrere Parteispenden-Affären verwickelt (mitunter mit Verbindungen in die Schweiz)?

Von Fragen der Ethik soll man sich bloss nicht aufhalten lassen: Das gehört offensichtlich zum Selbstverständnis der vermeintlichen Antiestablishment-Kräfte. Per definitionem sind schliesslich nach ihrem Selbst­verständnis nur die Eliten, die Medien, das «System» korrupt. Die anderen Parteien eben.

Aber was – abgesehen von diesem penetranten Geschmäckle – verbindet die nationalistischen, rechtspopulistischen Parteien eigentlich? Es ist eine der grossen Fragen, die sich nun, da Europa an die Urnen geht, mit aller Dringlichkeit stellt. Schliesslich wollen sich unter der Führung von Matteo Salvini mehrere neurechte Formationen im EU-Parlament zu einer nationalistischen Fraktion zusammen­schliessen. Man hofft auf einen Drittel der Mandate, auf eine fundamentale Modifikation des Kräfte­verhältnisses.

Was jedoch jenseits des Hasses auf die EU die europäischen Nationalisten miteinander verbinden soll, ist nicht ohne weiteres einsichtig. Bereits die Freundschaft mit Putin ist zwar für eine ganze Reihe der neurechten Führer­figuren – Le Pen, Salvini, Orbán, Strache – ein ganz zentraler Glaubens­artikel, für andere aber – die polnische PiS, die Schweden­demokraten – ein Hindernis, sich dem Nationalisten­bündnis anzuschliessen.

Auch bei der Wirtschaftspolitik herrscht keine Einigkeit. Was hat die hemmungslos interventionistische Marine Le Pen mit der wirtschafts­liberalen Agenda einer Alice Weidel am Hut? Muss Freihandel eingegrenzt werden oder muss im Gegenteil die EU ihre primäre Bestimmung in einem möglichst starken Warenaustausch innerhalb des Binnenmarktes finden? Muss die EU mit Unterstützungs­krediten die Wirtschaft in den Krisen­ländern ankurbeln oder im Gegenteil dafür sorgen, dass die Schulden­wirtschaft ein Ende findet und der Norden auf keinen Fall für die Liederlich­keit des Südens geradestehen muss?

In groben Zügen einig ist man sich vermutlich nur bei der drakonischen Asyl- und Migrations­politik, vermutlich auch beim Kampf gegen die Gleich­berechtigung, wo die neue Rechte mit Angriffen gegen den Schwangerschafts­abbruch wieder vermehrt von sich reden macht. Aber das Grunddilemma wird durch den gesellschafts­politischen Erzkonservatismus nicht entschärft. Warum sollen die Rechts­populisten sich zusammen­schliessen?

Bis vor kurzem war es einfach: Man wollte die EU zerstören, im Stil des mit dieser Wahl über alle triumphierenden Nigel Farage. Dieses Ziel konnte man sowohl gemeinsam als auch jeder in seiner Ecke verfolgen. Nun jedoch soll nach offiziell geteilter Doktrin die EU erhalten bleiben, aber in einem nationalistischen Sinn reformiert werden. Le Pen, Salvini, Orbán: Sie denken gar nicht mehr daran, ihr Land aus der EU zu führen – und müssen nun nolens volens etwas teilen. Aber was? Dass man die EU nur halb zerstören will? Dass die Union am besten funktionieren wird als chaotisches Amalgam der nationalen Interessen? Das ist offensichtlich eine absurde Vorstellung. Vielleicht hat ja Steve Bannon ein paar Tipps gegeben, wie man aus einer Reihe nackter programmatischer Wider­sprüche so etwas wie eine volksnahe Botschaft bastelt.

Doch wie auch immer der Ausgang der Wahlen dieses Wochenende sein wird: Letztlich werden die ideologischen Widersprüche der europäischen Alt-Right ein sekundäres Problem bleiben. Der parlamentarische Einfluss der nationalistischen Fraktion wird ohnehin begrenzt sein, und wenn sich die Populisten auch noch gegenseitig paralysieren, dürfte das mehr Nutzen als Schaden bringen.

Sehr viel ernster ist die Frage, welches Profil die «‹Progressiven›» haben.

Hinter dem Banner «Progressiv» will insbesondere Emmanuel Macron die proeuropäischen Kräfte scharen, die dem Populismus entschlossen entgegen­treten. Er plädiert für institutionelle Reformen, die Aufstockung des EU-Budgets, eine minimale Koordinierung der Sozial­politik, eine Stärkung der Schengen-Aussengrenzen bei besserer Vergemeinschaftung der Asylpolitik, eine massive EU-weite Anstrengung zur Erreichung der Klimaziele, einen Ausbau der gemeinsamen europäischen Streitkräfte. In seinen Grundzügen ist es ein viel­versprechendes und durchaus zukunfts­weisendes Programm. Aber es leidet an entscheidenden Schwächen.

Da ist zunächst einmal das Problem, dass die «Progressiven» sich mit aller Kraft als Antithese zu den «Populisten» positionieren. Natürlich entspricht das der Logik der aktuellen Auseinandersetzung. Aber Macron verdankt schon sein Präsidentenamt der alleinigen Tatsache, dass er Le Pen verhindert hat. Eine echte Mehrheit stand niemals hinter seinem Programm. Das ist der Hauptgrund, weshalb er heute umstritten, von den Gelbwesten-Protesten geschwächt und nur in begrenztem Masse handlungsfähig ist. Wenn dieselbe politische Logik – progressiv gegen populistisch – die Europa­politik dominieren sollte, könnte dies auch den europa­politischen Fortschritt zum Stillstand bringen.

Bisher wurde das Europa-Parlament von einer Art grossen Koalition der Allianz der Sozial­demokraten (S & D) auf der linken und der Europäischen Volkspartei (EVP) auf der Rechten dominiert. Nun soll die bisherige Liberale Fraktion (Alde) Verstärkung erhalten durch die Abgeordneten von Macrons Renaissance-Liste, die beiden grossen Volksparteien sollen entthront werden und ein neuer Mitte-Block zum Königs­macher aufsteigen. Die Revolution der Mitte, die in Frankreich das gesamte Parteien­gefüge auf den Kopf gestellt hat, soll auch auf EU-Ebene neue Realitäten schaffen.

Für eine parteipolitische Neuorganisation würde in der Tat sprechen, dass die beiden grossen europäischen Volksparteien bisher eine Reformagenda für die EU blockiert haben. Die stark von der CDU/CSU dominierte EVP hat die deutsche Kanzlerin nicht unter Druck gesetzt – und war im Übrigen viel zu sehr damit beschäftigt, den offiziell immer noch zur EVP gehörenden Orbán irgendwie in Schach zu halten. Das Problem ist allerdings, dass der neue Mitte-Block sehr heterogen und ideologisch diffus zu werden droht. Wäre es denkbar, wie Macron es erhofft, dass sich die Grünen dieser Formation anschliessen? Wäre die Ausrichtung konsequent wirtschafts- oder auch sozialliberal? Würde die Alde einstehen für mehr wirtschafts- und fiskalpolitische Koordination unter den Mitgliedsstaaten? Alle diese Fragen sind offen.

Und sie führen auf das Grundproblem der progressiven Agenda. Die alten grossen Europa-Parteien hatten eine linke oder eine rechte Orientierung. Die neue Mitte hingegen versucht den Links-Rechts-Gegensatz für überholt zu erklären und als Gegner nur noch die Populisten gelten zu lassen. Aber diese Strategie wird scheitern.

Denn Europa ist konfrontiert mit entscheidenden Verteilungs­fragen: den massiven und nicht mehr konvergierenden Prosperitäts­unterschieden zwischen Ost und West, den immer noch radikal divergierenden Folgen der Eurokrise im Norden und im Süden, den starken, disruptiven Gegensätzen in der Lohn-, Steuer- und Sozialpolitik der einzelnen Länder, den extrem hohen Divergenzen bei der Arbeits­losigkeit.

Diese Themen werden über die Zukunft Europas entscheiden – und sie wurden weitgehend aus dem Wahlkampf herausgehalten. Europa hat die Eurokrise noch immer nicht verdaut und muss endlich zu einer Antwort finden durch eine gemein­schaftlichere Wirtschafts- und Sozial­politik. Als solcher wird der progressive Anti­populismus da nicht weiterhelfen. Echter Fortschritt wird sich auch morgen nur vollziehen können als vernünftiger Deal zwischen Links und Rechts.

Illustration: Alex Solman