«Ich habe an diesem Abend alles falsch gemacht, was man falsch machen kann»
Carolin Emcke wird Zeugin, wie ein Mann seiner Partnerin Gewalt antut. Was tun? Die deutsche Autorin stellt in ihrem neuen Buch schwierige Fragen, auch an sich selbst. Ein Gespräch über Gewalt und Konvention, Lust und Zweifel – und die Suche nach Worten.
Ein Interview von Daniel Graf, 20.05.2019
Als Treffpunkt für unser Gespräch in Zürich hat Carolin Emcke eine Hotelbar vorgeschlagen. Die Kaffeemaschine mahlt, Koffer rollen, hin und wieder toben Kinder über den Flur. Doch Carolin Emcke spricht so klar und artikuliert, dass trotz Hintergrundrauschen jede Nuance hörbar bleibt. Die winzige Pause etwa, wenn sie «Expert innen» sagt, das Verschleifen der Silben unterbricht, um das Gendern aus der Schriftsprache ins Mündliche zu übersetzen. Sodass, obwohl da gesprochen, nicht geschrieben wird, das Gendersternchen vors innere Auge tritt: «Expert*innen». Entsprechend haben wir das im Folgenden wiedergegeben. Überhaupt kann man im Gespräch mit ihr meinen, die Satzzeichen mitzuhören: Gedankenstriche, Frage- und Ausrufezeichen. Und manchmal auch die drei Punkte, wie sie auf dem Cover ihres neuen Buches stehen.
Frau Emcke, der Titel Ihres neuen Buchs und der vorausgegangenen Lecture Performance lautet «Ja heisst ja und …». Ist das eine Korrektur des Slogans «Nein heisst Nein»?
Es ist keine Korrektur, aber es stimmt natürlich: Der Slogan für die Reform des Sexualstrafrechts in Deutschland ist «Nein heisst Nein». Und ich wollte dem nicht widersprechen, aber ihm etwas hinzufügen.
Etwas Positives?
Ja. Und zwar nicht als Gegenentwurf, sondern weil ich glaube, dass wir über beides sprechen müssen: über Abwehr von dem, was Missbrauch sein kann, was Gewalt, was Nötigung sein kann. Aber es geht auch darum, zu formulieren, was Lust, was Begehren bedeutet. Und da reicht eben ein einmaliges Ja nicht aus. Sondern in der lustvollen Begegnung mit anderen müssen wir immer wieder zustimmen, immer wieder mehr wollen können.
Lust ist ein zentraler Begriff in Ihrem Buch. Der erste und ebenso wichtige Begriff aber ist ein anderer, nämlich Zweifel. Wem oder was gelten die Zweifel?
Zunächst einmal gelten sie mir als Autorin. Ich gehöre leider zu der Sorte Autorin, die immer begleitet wird von Selbstzweifeln. Das hat sicher auch mit einer philosophischen Tradition und Schulung zu tun. Selbstzweifel meint zunächst ein inneres Korrektiv, ein Sich-Befragen: Stimmt das eigentlich, was du da gerade sagst? Ist es wirklich so? Und es ist dann auch der Zweifel als Skepsis gegenüber einem öffentlichen Diskurs, in dem es vielfach die Neigung gibt, rechtsstaatliche Prinzipien, moralische oder soziale Standards, aber auch Regeln der höflichen Auseinandersetzung mit Gründen zu negieren. Das ist verwirrend – und dagegen fühlt sich der ewige Selbstzweifel einigermassen hilflos und auch falsch an.
Sie selbst haben dieses Gefühl?
Auch mir geht es so, dass ich bei bestimmten Fragestellungen so eine Klarheit und Eindeutigkeit in der Position verlange. Von mir selber oder auch von anderen. Aber ich glaube, dass es immer wieder die Bereitschaft braucht, das, was einem gerade als eine liberale oder emanzipative Position erscheint, infrage zu stellen, damit diese Position nicht wiederum selbst orthodox wird. Das ist, wenn Sie so wollen, die politische Sehnsucht dieses Textes.
Das führt automatisch auch zu Fragen nach der Sprache – ein Grundthema Ihres Schreibens. Gelten Ihre Zweifel auch Fragen der Sagbarkeit?
Nein. Ich habe in der Tat einmal über das Sagbare geschrieben. Damals ging es um einen spezifischen Diskurs, der suggerierte, besonders traumatische Gewalterfahrungen wie die von Auschwitz seien «unbeschreibbar». Und das bezweifle ich. Imre Kertész, Primo Levi, Charlotte Delbo, Jorge Semprún haben mit ihrem Überleben und ihrem Werk das Gegenteil bezeugt: Diese Erfahrungen sind beschreibbar. In meiner Zeit als Auslandsreporterin in Krisengebieten bin ich immer wieder Menschen begegnet, die gequält, gefoltert, misshandelt worden waren, die Furchtbares erlebt hatten – aber es war sagbar. Möglicherweise mit etwas zeitlichem Abstand, und möglicherweise klingen diese Beschreibungen weniger linear oder rational, als wir es sonst gewohnt sind. Wir müssen ihnen nur zuhören. Und wir müssen anerkennen, dass sie vielleicht gebrochen sind, diese Erzählungen, dass sie in Kreisbewegungen daherkommen, stockend, aber das sind absolut adäquate Beschreibungen von dem, was diesen Menschen widerfahren ist. Nun gibt es in der gegenwärtigen Diskussion auch noch eine andere Vorstellung von «sagbar». Wenn zurzeit von Schwellen des Sagbaren gesprochen wird, meinen wir meistens, dass rechtsradikale Parteien oder rassistische oder antisemitische Bewegungen Dinge aussprechen, die wir für eben rassistisch oder antisemitisch oder für mit guten Gründen tabuisiert halten.
In Ihrem neuen Buch aber geht es um die Sagbarkeit von traumatischen Erfahrungen im Bereich sexualisierter Gewalt.
Ja. Und da muss man sicherlich unterscheiden zwischen Menschen, die während der Kindheit missbraucht worden sind, und solchen, die als Erwachsene sexualisierte Gewalt erfahren haben. Ich habe, auch jetzt als Resonanz auf die Performances auf den Theaterbühnen, so viele Reaktionen von Menschen bekommen, die gerne sprechen wollen. Die aber eben eine eigene Form dafür brauchen und einen eigenen Raum, in dem sie sich geschützt fühlen. Und da stellt sich die Frage: Was hiesse es eigentlich, wenn wir bezweifeln würden, dass sie sprechen können? Wenn wir sagen, das ist nicht erzählbar? Damit würden wir Möglichkeiten verschliessen, dass sie es versuchen.
Es gibt in dem Buch eine sehr eindrückliche autobiografische Szene. Sie sind zum Abendessen bei einer Freundin und ihrem Partner eingeladen. Und werden dann Zeugin einer ganz konkreten Gewalterfahrung.
Ich war eingeladen bei einer gleichaltrigen Freundin und ihrem Mann. Und während dieses Abendessens, in einem Moment, in dem dieses Paar unbeobachtet ist, in dem ich also nicht anwesend bin und nicht sehen kann, was geschieht, wird die Frau offensichtlich von ihrem Mann geschlagen. Was ich – oder wir, es waren noch zwei andere Gäste dabei –, was wir nur erkennen können, als sie zurückkehrt an den Tisch. Wir konnten es in ihrem Gesicht sehen, dass sie geschlagen worden war, wir konnten es an ihrer Haut sehen, an der Verstörung, an der Pein.
Sie kehrt aber zurück in dem Anliegen, möglichst wenig davon merken zu lassen.
Ja, sie wollte gerne weitermachen. Sie wollte, dass das harmonische Abendessen weitergeht, sie wollte nicht sprechen über das, was offensichtlich geschehen war. Es war gespenstisch. Der Mann tauchte nicht mehr auf. Es gab gar keine Konfrontation mit ihm, sondern wir drei Gäste, die sich vorher auch nicht kannten, sassen da mit dieser Freundin – und sollten so tun, als wäre nichts geschehen.
Und jetzt ist das Schmerzhafte an dieser Szene, dass sie mehrere Stufen des Nicht-Protestes durchläuft. Im Grunde beginnt das schon vor dem Schlag. Denn zunächst geht verbale Aggression von dem Mann aus – und die Gäste, Sie eingeschlossen, reagieren so, wie es wahrscheinlich jeder schon einmal erlebt hat: nämlich mit höflichem Lächeln auf Witze, die eigentlich alles andere als lustig sind.
«Mehrere Stufen des Nicht-Protestes» trifft es sehr genau. Es war in der Tat eine Aneinanderreihung von Situationen, in denen man eigentlich hätte sagen müssen: «Wie redet ihr denn miteinander?» oder «Das ist nicht lustig». Am Anfang waren das so kleine Gemeinheiten, heute würde man wahrscheinlich sagen «Mikroaggressionen». Nachträglich sage ich: Ich habe an diesem Abend alles falsch gemacht, was man falsch machen kann. Mich beschämt es immer noch, dass ich da nicht früher eingegriffen habe, warum ich mich von diesen jahrhundertealten Konventionen so habe prägen lassen, dass ich denke: Es gehörte sich nicht, es wäre unfreundlich, ungezogen, sich einzumischen.
Man prägt eine Harmoniesucht aus?
Genau. Es ist eine Harmoniesucht, und man redet sich ein, vielleicht ist für sie das völlig in Ordnung und nur man selber ... sei so empfindlich. Das sind ja dann alles solche Selbstregularien, die auch mit der Vorstellung zu tun haben, wie eine Frau angepasst zu sein hat. Oder auch mit der bürgerlichen Vorstellung zu tun haben, Gast bei anderen zu sein bei einem Abendessen. Es kommen, glaube ich, ganz viele Konventionen zusammen, die dazu führen, dass man etwas duldet oder mit etwas komplizitär ist, das niemand sollte dulden müssen. Und das steigerte sich bis zu dem Moment, an dem wir merkten: Er hat jetzt keinen dummen Spruch gemacht, sondern hat sie geschlagen. Und da hätten wir sofort aufstehen und sie mitnehmen müssen. Stattdessen haben wir uns gefügt – wie sie es wollte – und sind geblieben in dieser schrecklichen Situation.
Sie sagen, wir merken das. Also haben wir eigentlich schon vor jedem intensiveren Nachdenken ein Sensorium dafür, dass da etwas Ungutes passiert. Etwas, wogegen man eigentlich etwas tun sollte.
Ja, ich glaub schon. Ein «Wir» wäre jetzt vielleicht fragwürdig, aber ich fange mal mit mir selbst an: Ich empfinde ja in allen möglichen Situationen etwas als unhöflich, als kränkend, als übergriffig. Es gibt Skalen von Empfindsamkeit. Das wird gern unterschlagen, aber das muss ich doch auch zugeben: Natürlich sind sprachliche Verletzungen oder Entgrenzungen auch graduell! Natürlich macht mal jemand einen Witz, den ich nicht lustig finde, oder jemand sagt was, und ich bin dann vielleicht doch verletzter, als ich es sein müsste. Das geht uns – da ist es wieder, das Wir (lacht) – vermutlich allen so. Bei der Kommunikation im Alltag, in Familien oder in Beziehungen finden dauernd solch kleine Transgressionen statt, die einen irgendwie ein bisschen irritieren, aber auf die man nicht dauernd reagiert und auch nicht reagieren könnte. Sonst wäre gar kein Gespräch möglich. Wir lachen darüber, wischen es weg oder bergen es in uns – aber wir unterbrechen nicht die Situation.
Weil man sonst in jenen Dogmatismus verfiele, vor dem Sie eingangs gewarnt haben?
Genau.
Heisst das, wir müssen uns angreifbar machen? Wir müssen uns immer irgendwie aussetzen?
Wir sind alle sprachliche Wesen und dadurch verwundbar. Emmanuel Levinas würde sagen: Als Menschen mit einem Angesicht sind wir für andere Objekte, die sie angreifen oder verletzen können. Und wir sind als individuelle Wesen, aber auch als Gemeinschaften abhängig von Anerkennung oder Missachtung der anderen. Wir bilden uns durch intersubjektive Verständigungen aus. In jedem Gespräch, im Privaten oder im Öffentlichen, in unseren Beziehungen und Begegnungen, sind wir verwundbar. Das ist die condition humaine. Wir lernen immer wieder neu, als Person, aber auch als Gesellschaft, welche Begriffe, welche Gesten, welche Akte noch als harmlos, als unwichtig und welche als inakzeptabel, als abstossend zu werten sind. Ich bin sicherlich in meiner Kindheit sehr viel mehr konfrontiert gewesen mit Sätzen und Gesten voller Missachtung oder Demütigung – die junge Frauen heutzutage komplett inakzeptabel fänden. Ich habe sicherlich sehr viel mehr ertragen müssen, als man – aus heutiger Perspektive – hätte ertragen sollen. Aber die Situation bei diesem Abendessen, schon vor dem Schlag, das war ganz sicherlich etwas, das so eindeutig schon nicht in Ordnung war. Was man dann aber so schluckt, weil man nicht weiss, ob man sich einmischen soll. Bis hin zu dem Punkt, wo man miterlebt, wie sie selbst es wieder ertragen können will ...
... und auch Sie bittet, und zwar in klaren Worten, das Spiel mitzuspielen.
Sie wollte, dass wir sitzen bleiben. Sie wollte, dass wir dieses Abendessen durchführen, als wäre nichts gewesen. Sie wollte sozusagen gerne wieder nach davor, wollte zurückspulen in der Zeit. Und gleichzeitig liefen die Tränen übers Gesicht, und es war klar, es geht einfach nicht.
Sie haben es aber irgendwie durchgezogen.
Wir haben es irgendwie durchgezogen. Und ihr dann Angebote gemacht, die sie abgelehnt hat.
Angebote, das Haus mit Ihnen zu verlassen?
Wir haben ihr angeboten, sie mitzunehmen, oder auch, ihr eine Anwältin zu besorgen. Und das wollte sie alles nicht. Sie wollte, dass wir sitzen bleiben, und das haben wir dann irgendwie so durchgestanden. Mich hat dieser Abend jahrelang gepeinigt. Und ich wollte davon erzählen. Nicht im denunziatorischen Sinn. Nicht nur, um zu zeigen, wie häusliche Gewalt funktioniert, sondern vor allem, um das eigene Versagen zu beschreiben.
Sie sprechen von Versagen. Andererseits haben Sie ausschliesslich den Willen Ihrer Freundin respektiert, wie sie ihn mehrmals bestätigt hat. Was wäre im Nachhinein der Moment gewesen, gegen den ausgesprochenen Willen der Freundin zu handeln?
(Überlegt lange) Ich glaube, in einer bestimmten Hinsicht kann man da nichts richtig machen. In einer bestimmten Hinsicht ist auch mein eigenes Hadern mit meiner Reaktion insofern falsch, als man überhaupt gar nicht akzeptieren sollte, dass man eine Verantwortung hat für eine Situation, die jemand anderes hergestellt hat.
Hätte man ihn zur Verantwortung ziehen können in dem Moment?
Nachträglich würde ich sagen, ich hätte in das Zimmer von dem Mann gehen und sagen sollen: «Bist du eigentlich ganz bei ...» Ihn eben irgendwie konfrontieren. Aber das ist mir noch nicht mal eingefallen!
Gab es im Nachhinein irgendeine Form der Konfrontation mit dem Mann, durch Sie, die anderen Gäste, durch Ihre Freundin?
Durch die Freundin, ja. Es gab lange Auseinandersetzungen, und sie haben sich irgendwann getrennt. Aber es gab keine Konfrontation durch mich, ich habe die beiden gemieden. Richtig war auch das nicht. Und auch das muss man eben beschreiben, wenn über Missbrauch und Gewalt gesprochen wird. Wie sie uns selbst entstellen. Wie schwer es ist, eine richtige Form zu finden, darauf zu reagieren. Diese Gewalt geschieht überall, in allen sozialen oder religiösen Kontexten – und sie fordert uns alle heraus. Und auch jemand wie ich, die eher als artikuliert und selbstbewusst gilt, versagt dann in so einer Situation.
Ist man für das nächste Mal besser vorbereitet?
Wenn ich das nur von mir glauben könnte! Das weiss ich nicht. Mir ist einmal etwas passiert, was ich nachträglich furchtbar bereut habe. Ich habe im Nahen Osten Kinder gesehen, die einen kleinen Hund, einen Welpen, an einem Seil hielten und ihn nach Lust und Laune quälten. Ich bin losgestürmt und habe meine Dolmetscherin genötigt, meine wütenden Tiraden zu übersetzen. Und es gab dann eine riesige Auseinandersetzung, den Kindern war völlig egal, was so eine aufgebrachte Ausländerin ihnen sagt. Sie wollten mit dem Hund tun, was immer sie wollten. Es war ja ihrer und nicht meiner. Und es war klar, sie würden den jetzt zu Tode quälen, ertränken oder erwürgen oder was auch immer. Ich war verzweifelt und habe mich geärgert über mich selbst, warum ich das nicht besser gelöst habe. Monate später habe ich die Übersetzerin gefragt, was ich denn hätte machen sollen.
Was war ihre Antwort?
Wir hätten den Hund den Kindern abkaufen sollen. Tja: Und dann ist mir ein Jahr später tatsächlich exakt dieselbe Situation noch einmal passiert. Ich war wieder in derselben Region, und wieder wurde ich Zeugin, wie eine Gruppe von Jugendlichen einen kleinen Hund an einer Kette malträtiert hat. Ich bin hingerannt – und habe ihnen Geld geboten. Die konnten ihr Glück gar nicht fassen. Dass eine Fremde so irre sein kann, Geld für so ein dreckiges, kleines Viech auszugeben. War mir egal. Ich hatte den Hund im Arm. Also wenigstens einmal habe ich etwas gelernt. Einmal etwas besser gemacht. Aber wüsste ich, dass ich beim nächsten Mal, wenn ich bei einem Abendessen so Stufen der Eskalation erlebe, wirklich rechtzeitig einschreite? Ich weiss es nicht. Ich hoffe es. Ich finde nur wichtig beim Sprechen über Missbrauch, über häusliche und sexualisierte Gewalt, dass man auch miterzählt, wie schwierig es ist. Weil man auch in Situationen hineingezogen wird, aus denen man vielleicht spontan keinen Ausweg weiss. Und manchmal klingt das Sprechen über diese Fragen so selbstbewusst, dass ich dem mindestens aus meiner Erfahrung doch auch Zweifel und ambivalente Unsicherheit hinzufügen wollte.
Sprechen wir über die Form des Textes. Es ist ja ursprünglich ein Bühnentext, der jetzt in Buchform erscheint. Die Texte sind Miniaturen und Fragmente, Sie selbst sprechen von einem «Angebot zum gemeinsamen Nachdenken». Wie passt das zum Monolog?
Ist natürlich ein totaler Widerspruch. Ich musste schon auch lachen, als dann «Monolog» draufstand. Also erst mal: touché. Aber auf ein Buch «Dialog» draufschreiben, geht ja jetzt auch nicht!
Ist das nicht ein Grunddilemma des Autorseins? Bei allem dialogischen Willen ist zunächst das, was man gibt, immer etwas Monologisches.
Also das stimmt schon. Natürlich ist das Schreiben ein einsamer Prozess. Trotzdem: Wenn du über eine Fragestellung schreibst, fängst du an, im Freundeskreis Gespräche zu führen, du fängst an zu recherchieren und Gesprächspartner*innen und Expert*innen zu suchen, Sozialarbeiter*innen, Anwält*innen. Also bevor der Text entsteht, haben sehr viele Gespräche stattgefunden, habe ich sehr vielen Menschen zugehört. Beim Schreiben merkte ich dann, dass etwas entsteht, was nicht geplant war. Das Schreiben suchte sich einen anderen Klang, eine andere Form. Ich hatte gar nicht vor, für das Theater zu schreiben. Und als mir dann klar wurde, dass es etwas Gesprochenes sein könnte, da war noch nicht die Idee, dass ich es selber sprechen würde.
Wie hat sich die Vorstellung, es könnte gesprochen sein, aufs Schreiben ausgewirkt?
Ich habe sehr schnell gemerkt, dass ich dadurch viel freier bin. Ich fühlte mich weniger gebunden an die Erwartung, das muss jetzt ein perfekt durchargumentierter philosophischer Essay sein. Und hatte weniger Angst, missverstanden zu werden. Bei ironischen oder witzigen oder zornigen Passagen – da wäre ich viel gehemmter gewesen oder hätte mich selbst kontrolliert. Bei einem klassischen Essay hätte ich aus Sorge, dass etwas zu grob oder zu albern klingt, sehr viel einkassiert. Nachdem dann klar war, es könnte etwas Gesprochenes sein, habe ich zuerst an eine Schauspielerin gedacht. Die hat aber sofort abgelehnt und gesagt: Nee, ich solle das mal selber machen.
Sie hatten eine ganz bestimmte Schauspielerin im Kopf?
Ja, und dann habe ich es ihr geschickt, und sie hat bestätigt, das sei etwas zum Sprechen, etwas für das Theater. Aber sie wollte es nicht und meinte, das müsse ich selber machen.
Jetzt interessiert uns natürlich: Wer war das?
Die wunderbare Nina Kunzendorf. Und wenn ich sage, der Text ist etwas Hybrides, eine Einladung zum Gespräch: Es ist schon sehr, sehr anders, etwas im Theater zu machen. Ich habe das selber vorher ja noch nie gemacht. Ich wusste nur, ich möchte nicht, dass mein Text mit dieser unangreifbaren Gewissheit daherkommt. Die ganzen Fragen von #MeToo sind ja Fragen, die mit Körperlichkeit zu tun haben, mit Intimität und Verwundbarkeit. Und ich hatte schon das Gefühl, dieser Text hat was mit Sich-mir-Ausliefern zu tun – das ist das, was ich dann anbiete, wenn ich mich auf eine Bühne setze, ganz allein, und eben spreche. Das ist auch angsteinflössend. Aber es lohnt sich: Denn ich erlebe so auch mit, wie die Sprache, wie der Text, wie die Geschichten wirken. Es ist ein kollektives Erleben in so einem Theaterraum, das hat auch etwas sehr Körperliches.
Gab es eine Situation, wo diese Rückkopplung so stark war, dass sich spontan Ihr Text geändert hat? Oder Sie ihn im Nachhinein veränderten?
Also das Buch ist definitiv auch im Wissen um die Reaktionen entstanden. Ich bin nach den Veranstaltungen immer da geblieben im Café des Theaters, sodass ich ansprechbar war für mir bekannte und unbekannte Menschen, die dann reagieren konnten auf den Text. Und das war schon sehr eindrücklich. Klar bekommt man als Autorin auch Leserbriefe, aber dies war wirklich anders. Auch in der Vorstellung zu hören und zu spüren, worauf reagiert wird. Ob die Menschen angespannt und still sind oder ob gelacht wird. Man hat ein viel unmittelbareres Gefühl für die Fragen dieses Themas und des Textes. Insofern ist das Buch jetzt eine vertiefte und erweiterte Version des Textes von dem Soloabend am Theater. Der Text hat sich eindeutig verändert durch diesen Werkstattcharakter.
Sie sagten, es sei Ihnen auch darum gegangen, den Eindruck eines sich zu selbstgewissen Sprechens zu vermeiden. Nun hat der Text aber auch rhetorische Mittel, die in anderen Zusammenhängen häufig die Selbstvergewisserung gerade steigern: Das Buch hat eine Art Kreisstruktur, Anfang und Ende sind Varianten voneinander. Es gibt litaneiartig wiederholte Satzanfänge. Und prompt fiel auch nach der Premiere das Stichwort «Predigt». Hatten Sie Sorge, dass Menschen diese Art des Sprechens als pädagogisch empfinden und negativ darauf reagieren?
Guter Punkt. Aber ich versuche, möglichst wenig darüber nachzudenken, worauf alles negativ reagiert werden könnte! Sonst kriege ich ja keinen Satz zustande. (lacht) Sie haben recht, in diesem Ensemble aus Miniaturen gibt es auch welche, die überhaupt nicht zweifelnd sind. Es sollte unterschiedliche Klangfarben geben, unterschiedliche Strukturen. Manche Abschnitte sind sehr offen und gebrochen, manche arbeiten mit Rhythmus und Wiederholung und erzeugen so auch ein Pathos. Wer genau liest, erkennt, dass es immer wieder Brechungen durch Skepsis gibt. Aber alle diese Momente des Sicheren und des Unsicheren gehören dazu. Man darf auch nicht vergessen, wie viele Menschen es gibt, die sexualisierte Gewalt erfahren haben und die keine Unterstützung und auch keine Form hätten, einen solchen Text selber zu schreiben oder zu sprechen. Und wir leben in einer politischen Zeit, in der es international eine Vielzahl von Bewegungen und Parteien gibt, die Chauvinismus und Frauenfeindlichkeit nicht nur dulden, sondern zu ihrer Agenda gemacht haben. Da wäre es völlig unangebracht, im Angesicht dieser Bedrohungen, im Angesicht dieser Gewalt ambivalent zu sein. Es gibt also in dem Text auch starke Überzeugungen, und die kommen dann eben in anderen rhetorischen Gewändern.
Macht das Aufschreiben angreifbarer als das Sprechen?
Ja, klar. Als Person fühlt man sich natürlich auch einigermassen angreifbar da auf der Bühne! (lacht) Aber wenn man den schriftlichen Text anschaut und fragt: Ist das ein klassischer Essay?, dann fällt er natürlich durch. Für mich war das jetzt die Erfahrung: Was erfährt, was lernt man, wenn ein Text zuerst gesprochen wird, durch die Reaktion des Publikums unmittelbar oder danach? Ohne das wäre das Buch nicht so geworden, wie es geworden ist.
Darf ich etwas Persönliches fragen?
Natürlich.
Sie waren in den letzten Jahren vielen Anfeindungen ausgesetzt, auch aus dem intellektuellen linksliberalen Milieu. Können Sie sich das erklären?
Das ist eine schwierige Frage – das müssen Sie die fragen. Dazu kann man selbst kein richtiges Verhältnis entwickeln.
Schmerzt das mehr als die Angriffe der ideologischen Gegner?
Ich glaube, wenn man ehrlich ist, schmerzt Kritik immer. Und man muss abwägen: Welche Kritik bezieht sich auf Argumente, welche nicht, welche nötigt einen umzudenken, welche nötigt einen nur, bessere Gründe zu liefern? Aber es ist auch gar nichts so Besonderes, Objekt von öffentlichen Hetzkampagnen oder Angriffen zu sein. Das ist leider einfach ein Zeichen der Zeit. Das kriegen nun sehr viele Menschen ab: Rettungssanitäter so wie Politikerinnen, Fussballspieler so wie Akademikerinnen. Manche werden angegriffen für die Art, wie sie aussehen, manche für die Art, wie sie lieben, manche für das, was sie schreiben, manche für das, woran sie glauben. Ich versuche eher demütig zu bleiben: Ich erhalte so viel Respekt und auch Dankbarkeit von Menschen für das, was ich schreibe. Ich kann mit meinen Büchern in anderen Sprachen auf Reisen gehen. Das ist schon ein ungeheures Glück, mit dem ich nie gerechnet hätte.
Das Thema sexualisierte Gewalt wird häufig noch immer so diskutiert, als gehe es dabei um Frau versus Mann, und zwar Hetero-Frau versus Hetero-Mann. Wie kommen wir da raus?
Ganz, ganz wichtig war mir, dass der Text auch Erzählungen enthält, in denen es um sexualisierte Gewalt an Jungen und Männern geht. Es gibt eine seltsame Asymmetrie der Wahrnehmung: Bestimmte Opfergruppen, aber auch bestimmte Tätergruppen werden eher wahrgenommen als andere. In bestimmten Kontexten und in bestimmten sozialen Netzwerken wird sexualisierte Gewalt vor allem dann diskutiert, wenn es sich bei dem Täter um einen Muslim oder einen Geflüchteten handelt. Solche Taten sind absolut verwerflich und gehören auch thematisiert. Aber es gehört auch diskutiert, dass die überwiegende Mehrheit der sexualisierten Gewalt in den eigenen Wohnungen durch die eigenen Partner stattfindet. Und das andere ist, dass Jungen oder Männer als Opfergruppen tatsächlich unterrepräsentiert sind. Zwar gab es, zumindest in Deutschland, Debatten über den Missbrauch von Schülern an der Odenwaldschule oder den Missbrauch in der katholischen Kirche. Da kommen Jungen als Opfer kurz in den Blick – aber verschwinden dann wieder. Das ist fatal.
Vielleicht noch einmal zum Titel: «Ja heisst ja und ...» In diesem «Punkt, Punkt, Punkt» liegt ein Raum des Unbestimmten. Aber die Grundvoraussetzung, so verstehe ich das, ist ein eindeutiges Ja. Das übliche Gegenargument in diesem Zusammenhang heisst: Lust und Sex seien doch per se der Bereich der Grauzone. Was antworten Sie darauf?
Ich weiss jetzt nicht genau, was die meinen, die das sagen. Aber wenn das suggerieren soll, es könne hier gar nicht um Selbstbestimmung gehen, weil doch immer alles Erotische ambivalent sei: Das ist natürlich Quatsch! Natürlich würde ich auch sagen: Ja, in dem Moment, wo sich zwei Menschen begegnen, ganz egal, wie lange sie sich schon kennen, ist bei jeder Berührung und bei jeder erotischen Begegnung immer etwas unbestimmt. Trotzdem kann der eine oder die andere in dieser Situation gerade eben keine Lust haben. Oder zu etwas Bestimmtem, Spezifischem keine Lust haben. Deswegen ist die Grundvoraussetzung, dass überhaupt erst mal zugestimmt wird, dass jemand sagt: «Ja, das möchte ich.» Aber das heisst dann für den Rest der nächsten Stunde oder der nächsten fünf Minuten nichts. Und ehrlich gesagt, man kennt das doch auch von sich selbst: Ich weiss doch auch nicht, was im nächsten Moment geschieht, ob ich das will, ob ich dazu Lust habe. Das Wichtige ist doch: Es geht um wechselseitige Lust. Um das Wollen miteinander. In der erotischen Begegnung, die eben offen und unsicher und dynamisch ist, kann ich mich doch auch versichern, kann ich nachspüren: Ist das noch gewünscht, ist das noch gewollt? Aber eben dieses Unbestimmte, eben dieses gemeinsame Suchen und Entdecken, eben das Nicht-Wissen, ob etwas gelingt – das ist doch das Aufregende, oder?
Ist das, was Sie eben beschrieben haben, das Noch-mal-Nachhorchen, Sich-Versichern, die erotische Variante von Zweifel? Gehören für Sie deswegen Zweifel und Lust so eng zusammen?
Ich finde ja, beides gehört zusammen. Also klar: Der permanente, erotische Zweifel, der sich an gar nichts erfreuen kann, wäre jetzt auch keine gute Variante! (lacht) Aber es gibt ja jetzt häufig den Einwand «Woher soll ich das denn wissen?» oder «Das wird ja jetzt alles unsicher». Und da würde ich eben sagen: «Welcome to the club!» Ja, genau – ist total unsicher! Für mich auch. Wir erleben gerade eine historische Phase, in der sich Wahrnehmungen zum Teil verschieben, zum Teil präziser werden und in der Bedürfnisse – Gott sei Dank! – klarer formuliert oder weniger unterdrückt werden.
Was würden Sie den viel zitierten «verunsicherten Männern» denn raten?
Ich würde zunächst mal sagen: Ich finde das ja auch verunsichernd. Und vielleicht muss man nur sagen: Ihr müsst nicht dauernd schon vorher wissen, was geht und was nicht geht. Woher auch? Es gibt da eben keine Gewissheit, sondern man kann sich nur gemeinsam vortasten. Birgt das die Möglichkeit, dass einem jemand sagt: «Das mag ich jetzt nicht»? Ja! Die ganze Zeit. Und dann muss man sich was Neues ausdenken. Oder eben auf etwas verzichten.
Die Debatten sind ungeheuer aufgeladen, und immer wieder verhindern ritualisierte Reaktionsmuster ein echtes Gespräch. Was wäre denn Ihr Rat an die Feministinnen und Feministen: Was muss man grundsätzlich beachten, damit nicht immer dieselben Abwehrargumente oder Ablenkungsdebatten kommen?
Der Text ist genau diese Frage an mich selbst: Wie müsste ich sprechen oder erzählen, von mir und anderen, um beides zu schaffen – ein eindeutiges Gerüst in Bezug auf die Dinge, die eindeutig und unverhandelbar sind? Und gleichzeitig etwas zu öffnen, Räume zu schaffen, in denen sich gemeinsam denken und sprechen lässt? Aber um den ersten Teil Ihrer Frage zu beantworten: Ich bin jetzt die völlig Falsche, um Feministinnen oder Feministen Ratschläge zu geben ...
... das würden Ihre Fans anders sehen.
Dass ich diejenige ...? Nee, wirklich nicht. Ich bewundere einfach alle, die irgendeine Form finden.
Kommt es darauf an, dass ein und dieselbe Person mehrere Formen, mehrere Sprechhaltungen findet?
Für mich ist ein Text auch eine Möglichkeit, etwas zu durchdenken, durch unterschiedliche emotionale Situationen hindurch. Aber die Suche nach einer Sprache darf eben auch nicht nur den Feministinnen aufgebürdet werden.
Jeder darf mitmachen? Soll mitmachen?
Ja! Jede und jeder darf mitmachen, jede und jeder soll mitmachen. Und es braucht ganz unterschiedliche Instrumente, unterschiedliche Formen von Aufklärung, von Partizipation und von Schutz. Es braucht auch verschiedene Genres des Sprechens: Es braucht ironische, poetische, literarische Formen. Es sind die rechtlichen Institutionen gefordert, aber natürlich auch ästhetische Praktiken. Wenn nicht nur konkrete Straftatbestände, sondern auch Wahrnehmungen verändert werden sollen, also die Art und Weise, in der über weibliche Körper, über weibliche Lust, über unterschiedliche Körperlichkeiten und Sexualitäten gedacht und gesprochen wird – dann wird es auch darauf ankommen, wer wie repräsentiert wird und wer nicht. Was für Figuren gibt es in den Serien im Fernsehen, in den Schulbüchern, welche Familienbilder, welche Rollenmuster werden da vorgegeben. Da kann es gar nicht genug Formen und Sprachen geben, in denen wir reflektieren. Vor zehn Jahren hätte ich wahrscheinlich etwas anderes probiert und in zehn Jahren wieder.
Letzte Frage: Was probieren Sie als Nächstes?
(Lacht) Also Sie sind lustig! Ich bin schon froh, dass ich das jetzt gerade probiere.
Carolin Emcke: «Ja heisst ja und ... Ein Monolog». S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019. 112 Seiten, ca. 18 Franken. Der Verlag bietet auch eine Leseprobe.