Die entblösste Nation

Nichts, so schien es, kann Österreichs rechtspopulistische Koalition zerstören. Hochprozentiges, ein Machogehabe und ein paar Kameras, die sieben Stunden draufhielten, haben es jetzt geschafft.

Von Solmaz Khorsand, 20.05.2019

«Niemand soll sich für Österreich schämen müssen. Ich möchte in aller Deutlichkeit sagen: So sind wir nicht. So ist Österreich einfach nicht.»

Diese Worte stehen ganz am Anfang der Rede, die Österreichs Bundes­präsident Alexander Van der Bellen am vergangenen Samstag­abend per TV an die Nation gehalten hat.

Es ist am Tag, nachdem die «Süddeutsche Zeitung» und der «Spiegel» einen Videozusammenschnitt veröffentlichten, in dem Österreichs Vizekanzler und FPÖ-Parteiobmann Heinz-Christian Strache und sein Parlamentsklub­chef Johann Gudenus zu sehen sind, wie sie im Juli 2017, ein paar Monate vor der Nationalratswahl, in einer Villa auf Ibiza einer vermeintlichen russischen Oligarchen-Nichte Staats­aufträge gegen Wahlkampf­hilfe in Aussicht stellen. Eine Falle, wie sich später herausstellt. Wer dahinter­steckt, können die deutschen Medien­häuser nicht sagen. Auch nicht, warum ihnen das Material erst zwei Jahre später und damit knapp einen Monat vor der EU-Wahl zugespielt wurde. Was sie sagen können: Es ist authentisch.

Und dafür schämt sich die Nation.

Ein Teil tut es für den Inhalt. Dafür, dass Strache von einer «Orbánisierung» der Medienlandschaft fantasiert, genau erklärt, wie Millionen an Partei­spenden über einen gemein­nützigen Verein am Rechnungs­hof vorbei­geschleust werden können, oder dafür, dass er Pläne schmiedet, Österreichs Wasser zu privatisieren – mit russischer Hilfe, versteht sich.

Doch für das Gros der Menschen in Österreich ist der Inhalt zweitrangig. Das schämt sich für die Bilder. Nun sieht die ganze Welt, von welchen Figuren dieses Land regiert wird. Und vor allem: für welche Figuren sie, die Österreicher und Österreicherinnen, sich freiwillig Wahl um Wahl entscheiden – zwei Typen in ausgeleierten T-Shirts und mit vorgereckter Wampe, die mit derber Sprache und Wodka Red Bull in der Blutbahn vor zwei Frauen einen auf dicke Hose machen.

Strache und Gudenus traten bereits am Samstag von ihren politischen Funktionen zurück, mittlerweile sind alle FPÖ-Minister gefolgt. «A bsoffene Gschicht» hat es Strache genannt und sich vor allem bei seiner Frau für sein Macho­gehabe gegenüber der «attraktiven» Russin entschuldigt.

Für eine «besoffene Geschichte» gibt es in Österreich Verständnis. Hier wird Nachsicht gross­geschrieben, umso mehr, wenn es sich um Politiker mit einem Faible für Weltverschwörungs­theorien handelt. Legen sie bei ihren Fehltritten ein Mindest­mass an Diskretion an den Tag, kann der Fehltritt als «Hoppala» und Einzelfall unter den Teppich gekehrt werden, egal wie sehr sich der schon ausbeult. Wird das Hoppala aber gefilmt, hört selbst beim nachsichtigsten Österreicher die Kulanz auf.

Antisemitische Chiffre

Zum Beispiel bei Bundeskanzler Sebastian Kurz. Der hat eigentlich keinen Platz mehr unter seinem Teppich. Seit Dezember 2017 koaliert der Chef der konservativen Volkspartei (ÖVP) mit den Freiheitlichen. 500 Tage, in denen er viel geschluckt hat, vieles «in Kauf nehmen» und «aushalten» musste, wie er am Samstag­abend unmittelbar vor der Ansprache des Präsidenten um 19.45 Uhr zur besten Sendezeit in die Kameras klagte. Immer hat er die Zähne zusammengebissen, egal, ob FPÖ-Politiker Migranten mit Ratten verglichen haben oder mit Vertretern der rechtsextremen Identitären verkehrten.

Kurz hat stillgehalten, für die Sache, um Österreich aus dem Stillstand zu führen. Es ist die dreiminütige Ouvertüre einer Wahlkampf­rede, in der Kurz fast zwei Jahre erfolgreiche Regierungs­arbeit mit Märtyrer­romantik Revue passieren lässt. Denn in der Sacharbeit hat man sich ja mit den Rechts­populisten hervorragend verstanden.

Dann kommt er auf das Video zu sprechen: «Auch wenn die Methoden, die an Silberstein erinnern, verachtenswert sind: Der Inhalt ist, wie er ist.»

Tal Silberstein, ein israelischer Politberater, wurde im Wahlkampf 2017 von der SPÖ angeheuert. Unter seiner Leitung wurden zwei Facebook-Seiten betrieben, um fremden­feindliche und antisemitische Inhalte im Zusammen­hang mit Kurz zu verbreiten. Das dirty campaigning flog auf. Die SPÖ war den Rest des Wahlkampfs mit Schaden­begrenzung beschäftigt. Von Silberstein, der in Israel wegen diverser Korruptions­vorwürfe inhaftiert wurde, trennte sich die Partei.

Zwei Jahre später ist Silberstein immer noch präsent in Österreich. Auf Wahlplakate sozial­demokratischer Politiker wird sein Name gekritzelt, darunter meist mit einem Davidstern oder der Beschimpfung «Saujud». Silberstein ist zur Chiffre geworden in der österreichischen Innenpolitik und wird bewusst auch so eingesetzt, wie die Politikwissenschafterin Natascha Strobl auf Twitter analysiert: «Der böse, intelligente, mächtige Jude aus dem Ausland, der im Hintergrund die Fäden zieht und die gute, wohlmeinende, ~unsrige~ Regierung gemein angreift und damit Österreich.»

Dass ein Bundeskanzler einer Österreichischen Volks­partei als erste Reaktion zu einem Video, in dem sein Koalitions­partner sein autokratisches und korruptes Verständnis von Demokratie und Rechts­staatlichkeit hemmungslos offenbart, eine antisemitische Chiffre bedient, sagt viel über den Zustand des Landes aus.

Die Rolle der vierten Macht

Beachtung wird dem kaum geschenkt. Die Scheinwerfer sind auf die FPÖ gerichtet. Wie schon immer. Das ist das Schmuddel­kind. Da können wir als Medien kritisch sein. Kurz hingegen bleibt schön im Schatten.

Seit acht Jahren ist er in Spitzen­funktionen. Und seit acht Jahren geniesst der heute 32-Jährige in den heimischen Medien Welpen­schutz. Zuerst als Integrations­staatssekretär, später als Aussen­minister, jetzt als Bundes­kanzler. Die Journalisten und Journalistinnen haben ihn gross gemacht vor der vergangenen Nationalrats­wahl, ihn auf seinen Reisen als Aussen­minister begleitet und zeitgleich mit Coverfotos als Macher inszeniert. Woche um Woche.

Er gab die Agenda vor, und die Presse hat ihn – bis auf wenige Ausnahmen – enthusiastisch unterstützt. Sein Wahlkampf, der sich ausschliesslich um das Thema «illegale Migration» drehte, wurde kaum als rechts­populistischer Wahlkampf in der Manier der FPÖ kritisiert – höchstens von der FPÖ selbst, die besorgt war, dass er ihnen das einzige Thema, das sie haben, abspenstig macht.

Seit einem halben Jahr wird Kurz nun etwas härter angefasst. Zwar meistens in Bezug auf seinen schmuddeligen Koalitions­partner und seine Taktik des eisernen Schweigens, aber immerhin richten mehr als ein paar einsame Kämpfer das Licht auf den perfekten Schwiegersohn – und zwar so, dass es blendet.

Seit Samstag ist die Koalition zwischen ÖVP und FPÖ Geschichte. Im September soll neu gewählt werden.

Wie in den kommenden vier Monaten weiterregiert werden soll, ist unklar. Eigentlich wollte Kurz die Koalition gar nicht platzen lassen. Er wäre bereit gewesen, noch mehr zu schlucken und in Kauf zu nehmen, hätte die FPÖ neben Straches Rücktritt auch auf das Innen­ministerium und ihren Minister Herbert Kickl verzichtet. Doch Kickl, auf dessen Konto zahlreiche Skandale der vergangenen 500 Tage gingen – etwa die Razzia im eigenen Geheimdienst –, wollte seinen Posten nicht räumen. Sollte das geschehen, würde die gesamte FPÖ-Regierungs­mannschaft den Hut nehmen. So die Drohung. Denn so könnte die FPÖ gemeinsam mit den Oppositions­parteien einen Misstrauens­antrag gegen Kurz und seine Minister stellen. Und so die ganze österreichische Regierung zum Rücktritt zwingen.

Kurz entliess Herbert Kickl am Montagabend trotzdem. Die FPÖ-Minister legten, wie angekündigt, ihre Ämter nieder. Nun – sollte der Bundespräsident zustimmen – sollen Spitzenbeamte und Expertinnen an ihrer Stelle in den bisherigen FPÖ-Ressorts interimistisch bis September die Agenden übernehmen.

Teile der Bevölkerung fiebern dem September bereits entgegen. Tausende haben am Samstag­abend, nachdem Kurz das Ende der Koalition verkündet hatte, am Ballhaus­platz, dem Sitz des Bundes­kanzlers, gefeiert. Für die meisten scheint es surreal. Kein Skandal um Ratten­gedichte, keine Verbindung ins rechtsextreme Milieu, keine Razzia im Geheimdienst konnte diese Koalition beenden. Aber ein bisschen Hochprozentiges und sieben Stunden abgefilmte Grossmanns­sucht haben es geschafft. Und zwei deutsche Medien, denen man offenbar zugetraut hat, das Material auch auszuwerten.

Präsident Van der Bellen zollte diesen Medien Respekt in seiner Ansprache. Während sich Strache und Kurz über die heimlich gemachten Aufnahmen echauffierten, lobte Van der Bellen die journalistische Arbeit. Die vierte Gewalt hat ihre Verantwortung wahrgenommen.

Es ist bezeichnend, dass es nicht jene in Österreich war.