«Das macht mir Angst»
Zwietracht säen, Debatten polarisieren, Wahlen beeinflussen: Die bekannteste russische Trollfabrik nutzt dafür mutmasslich spanische Software, die eigentlich Desinformation bekämpfen sollte. Jetzt redet erstmals ihr Erfinder.
Von Sylke Gruhnwald, 15.05.2019
Den Gegner verwirren. Sein Land destabilisieren. Eine Gesellschaft spalten.
Seit Menschen Kriege führen, spielt Propaganda eine Rolle darin. Bereits vor bald einem halben Jahrtausend, im niederländischen Unabhängigkeitskampf, wurden Medien mit Falschmeldungen im grossen Stil gedruckt und vertrieben: Pamphlete, die beiderseits von echten, aber auch von übertriebenen und erfundenen Gräueltaten des Gegners berichteten.
Die Taktik blieb über Jahrhunderte erfolgreich. «Fakten haben uns bei der Desinformationsarbeit nie gestört», schreiben Günter Bohnsack und Herbert Brehmer, zwei ehemalige Mitarbeiter der Stasi, in ihrem Buch «Auftrag: Irreführung. Wie die Stasi Politik im Westen machte». «Jede Konstruktion war gerechtfertigt, wenn sie nur die DDR entlastete.» (Hinweise zu den erwähnten Büchern finden Sie am Ende des Beitrags.)
Doch etwas hat sich verändert. Früher, im Kalten Krieg, mussten Journalisten bestochen, Diplomaten gelinkt, Parteifunktionäre umgedreht, Aktivisten in Gang gesetzt werden. Nun sind es Twitter und Facebook, Youtube und Instagram, über die Falschmeldungen verbreitet und Desinformationskampagnen lanciert werden. Günstig und ohne grossen Aufwand.
Die Masche hat sich nicht verändert, wohl aber die Mittel. Technologie macht es möglich, mit einigen hundert Twitter-Accounts einen Shitstorm zu produzieren, der Millionen Menschen erreicht. Die Pamphlete des 21. Jahrhunderts verbreiten sich epidemisch – und verschleiern dabei ihre Herkunft und die wahren Absichten ihrer Kreateure.
Javier Pérez Dolset hat eine solche Software entwickelt. Snap hat er sie getauft. Und Snap, so Pérez Dolsets Verdacht, fiel in die Hände einer Organisation, die sich Internet Research Agency nennt – eine russische Desinformationsfabrik, abgekürzt IRA. Ihr Geschäft, das sie seit Jahren von Sankt Petersburg aus betreibt: Wut und Zwietracht in den westlichen Demokratien säen, Wahlen beeinflussen und die Europäische Union spalten.
Wie begründet der Entwickler seinen Verdacht? Wir haben mit ihm gesprochen.
The Signals Network und die Recherche
Javier Pérez Dolset hat sich an die Recherchekooperation The Signals Network gewandt. Zum Netzwerk gehören neben der Republik die deutsche Wochenzeitung «Die Zeit», «El Mundo» in Spanien, «Mediapart» in Frankreich, die britische Tageszeitung «The Daily Telegraph» und «The Intercept» in den USA.
Dieser Beitrag ist das Ergebnis der ersten Recherche der Kooperation von The Signals Network. Die Recherche ist zudem in Zusammenarbeit mit der Investigativplattform «Bellingcat» entstanden.
Weshalb sucht Javier Pérez Dolset nun die Öffentlichkeit? Er sagt, er wolle aufklären. Darüber, wie die russische Organisation IRA Propaganda betreibe, was sie damit anrichte. Der Entwickler arbeitet derzeit am Ausbau seiner Software – mit dem Ziel, Desinformation zu stoppen. Ihm schwebt eine Liste mit Empfehlungen vor, mit deren Hilfe Regierungen Gesetze erlassen können, um Desinformation zu bekämpfen.
Karrierestart am Fernseher
Javier Pérez Dolset ist sechs Jahre alt, als ihm sein Vater Pong schenkt. Das Gerät besteht aus einer Konsole und zwei Drehreglern, mit denen die Spieler ein Rechteck auf und ab bewegen können, um sich gegenseitig einen Ball zuzuspielen. Eine Art Steinzeittennis. Mit Pong an der Flimmerkiste beginnt der Einzug der digitalen Welt in die Wohnzimmer – und die Karriere von Javier Pérez Dolset.
«Ich war der grösste Nerd in der Schule», sagt Pérez Dolset. In einem fort hängt er vor dem Computer. Erst spielt er. Dann programmiert er selber.
Das wird sich auszahlen. Später gründet er eine Firma namens Studio Pyros, deren Produkte viele in Spanien kennen. Das Strategiespiel Commandos zum Beispiel, 1998 erschienen, ist ein Klassiker. Sein Unternehmen wächst: Ein Trickfilmstudio kommt hinzu, eine private Universität am Stadtrand von Madrid, die Programmierer ausbildet. Mit Klingeltönen und Handyspielen verdient Pérez Dolset Geld, zu seinen Kunden gehören grosse Mobilfunkanbieter weltweit.
Rund fünf Jahre ist es her, dass die Unternehmerkarriere von Pérez Dolset einen Knacks bekommt: Er überwirft sich mit seinen Geschäftspartnern, seine wichtigste Firma muss 2016 Insolvenz anmelden, 21 Tage sitzt er in Untersuchungshaft, weil ihm vorgeworfen wird, er habe Dokumente gefälscht. Das Gerichtsverfahren ist noch anhängig. Pérez Dolset bestreitet die Vorwürfe.
In den Nullerjahren entstehen Facebook und Twitter. In den digitalen Spassnetzwerken entstehen weltumspannende Giftmülldeponien, randvoll mit Beleidigungen, Angriffen und Schmähbotschaften. Einzelne Stimmen vermögen sich im schier endlosen Echoraum zu Wellen der Kritik aufzutürmen, die mit voller Wucht ihre Ziele überrollen. Pérez Dolset sieht zu, wie die Wut der Nutzerinnen und Nutzer sich auch an seinen Kunden entlädt.
Da hat er eine Idee: Könnte man nicht ein Programm entwickeln, das früh erkennt, wenn sich in den sozialen Netzwerken Kritik zu einer Welle auftürmt?
Auf Twitter vor allem, dem Kurznachrichtendienst. Dort, wo Millionen Nutzer für gewöhnlich Belanglosigkeiten austauschen, sich manchmal allerdings auch zu einem virtuellen Sprechchor zusammenrotten. Einem, der immer lauter einen Slogan skandiert. Dessen zentrales Stichwort, der Hashtag, mutiert zum trending topic, zum Thema, über das halb Twitter zu sprechen scheint. Journalistinnen berichten über den Hashtag, der damit die Grenze des Virtuellen passiert und sich in Nachrichtensendungen und an Stammtischen niederlässt.
Pérez Dolsets Programmierer machen sich an die Arbeit. Rund 20 Millionen Euro fliessen in das Projekt, darunter Geld von der spanischen Regierung und der EU. Später wird man Pérez Dolset vorwerfen, er habe diese Gelder nicht sachgerecht verwendet. Er bestreitet das.
2013 ist Snap fertig – die Social Networks Analysis Platform. Um dieses Programm geht es hier. Geschaffen als Frühwarnsystem, um Schmähkritik von wütenden Kunden zu mildern. Doch Snap wird später über Umwege nach Russland gelangen und, so der begründete Verdacht, die Twitter-Attacken von russischen Trollen koordinieren.
Der Bauplan von Snap
Snap besteht aus drei Teilen:
einer Art Daten-Staubsauger, der so viel wie möglich einsammelt von dem, was in einem sozialen Netzwerk geschrieben wird.
einem Analyseinstrument, genannt Ingraph, das die aufgesaugten Daten visuell aufbereitet. Es macht zentrale Schlagwörter sichtbar, benennt Nutzer mit besonders viel Einfluss, zeigt auf, wer mit wem vernetzt ist. Und welche Hashtags sich überlappen. Ingraph macht sichtbar, was sonst in der Flut untergeht.
einem Angriffswerkzeug. Es heisst Social Baton, also Taktstock, für soziale Netzwerke. Die Idee dahinter: Reale Nutzerinnen steuern ihre Twitter-Konten so, dass sie eine Debatte anfachen. Der Algorithmus von Snap rechnet aus, wie sich bestimmte Nutzer verhalten müssen, damit ein Stichwort viral wird. Damit wird der Shitstorm steuerbar.
Es dauert nicht lange, da wird Snap nicht mehr nur eingesetzt, um Schmähkritik von wütenden Kunden zu mildern, so, wie es eigentlich vorgesehen war. Der Wellenbrecher wird zur Sturmmaschine umgebaut. Eine, die Wahlen beeinflussen wird.
#Pedro-ich-glaub-dir-nicht
Als wir Javier Pérez Dolset anrufen, ist er daheim in seinem Haus in Madrid. Während er am Telefon redet, läuft im Hintergrund der Soundtrack des Disney-Klassikers «König der Löwen». Einmal klingelt es an der Tür, Pérez Dolset bittet seine Frau zu öffnen, dann spricht er weiter.
Javier Pérez Dolset, wo kam Snap zum ersten Mal zum Einsatz?
2015, vor der Parlamentswahl in Spanien, hat es der konservative Partido Popular eingesetzt. Einer von dessen externen Beratern sass bei uns im Verwaltungsrat und erfuhr so von dem Programm. In der Politik zählen die fünf, sechs Wahlkampfmonate. In dieser Zeit wird besonders viel debattiert, werden Politiker besonders heftig angegriffen. Snap identifiziert die Attacken und die Angreifer – und erlaubt es, zum Gegenschlag auszuholen.
Wie genau sind Sie vorgegangen?
Wir programmierten eine App, die Hunderte Parteianhänger auf ihren Smartphones installierten. Dann gab die Parteiführung ein bestimmtes Thema und die dazugehörigen Hashtags vor, und der Snap-Algorithmus errechnete die perfekte Erregungskurve.
Und dann?
Dann sandten die Anhänger koordiniert Tweets oder Retweets aus. So verbreiteten sich eigene Themen wie ein Lauffeuer, oder Angriffe der Gegenseite wurden überschrien.
Eine Premiere?
Ja. In diesen Wahlen haben wir eine Trollfabrik geleitet. Und ich bin nicht stolz darauf.
Hatte die Kampagne Erfolg?
Die Wirkung zu messen, ist einfach. Man lanciert eine Attacke und misst, wie viele Personen die Nachricht sehen. In besagter Kampagne des Partido Popular war die zentrale Botschaft: «Pedro, ich glaub dir nicht». Der Hashtag dazu: #sancheznotecreo. Gemeint war Pedro Sánchez, damals Oppositionsführer und heute Ministerpräsident. Dieser eine Tweet, der von 500 Hardcore-Unterstützern verbreitet wurde, wurde Millionen Male auf Twitter gesehen.
Was war die reale, messbare politische Wirkung? Nur ein Teil der Spanierinnen und Spanier nutzt Twitter.
Darauf kommt es nicht an. Wichtig ist, dass dort die Meinungsmacher miteinander sprechen, allen voran Politikerinnen und Journalisten. Und Letztere schreiben dann am nächsten Tag in der Zeitung, was auf Twitter passiert ist. So sickert das, was in den sozialen Netzwerken passiert, in die Realität ein.
Und es wirkt?
Absolut! Das Zusammenspiel von vermeintlichen Vertrauenspersonen und Technologie kann jedes Wahlergebnis um mehrere Prozentpunkte beeinflussen. Und ja, das macht mir Angst. Jedes Mal, wenn ich darüber rede.
Wie effizient war Snap wirklich? Hatten die Erregungskurven eine politische Wirkung? Bei der Parlamentswahl 2015 wurde die konservative Partei zwar stärkste Kraft mit 28,7 Prozent der Stimmen – verlor aber rund 15 Prozentpunkte. Danach gefragt, wiegelt der Sprecher des Partido Popular heute ab. Snap, sagt er, sei weniger effektiv gewesen als erhofft. Bei der Parlamentswahl 2019 im April habe man auf den Einsatz von Snap verzichtet.
Das mag so sein oder auch nicht. Fest steht: Die Manipulation einer Wahlkampfdebatte in einem sozialen Netzwerk fand zum ersten Mal in Spanien statt – in der Europäischen Union.
IRA: Die Desinformationsfabrik
2013 wird in einem Vorort von Sankt Petersburg die Internet Research Agency (IRA) gegründet. Zu Beginn ist sie in der Öffentlichkeit kaum bekannt. Erst nach und nach kommt ans Licht, was sich hinter dem nichtssagenden Firmennamen verbirgt: Hunderte zumeist junge Angestellte sitzen dort im Schichtdienst vor ihren Computern und schreiben Tweets und Posts und Kommentare, zunächst auf Russisch, später auch auf Englisch.
Ihre Aufgabe: die Ukraine schlechtreden als Kriegstreiber, die EU schlechtreden als russophob, aggressiv, von Migranten überschwemmt, all jene schlechtreden, die Russland kritisieren. Andersrum Putin schönreden, die russische Wirtschaft schönreden, die russische Politik schönreden.
2016 mischt sich die IRA in den US-amerikanischen Wahlkampf ein. Sie tut alles, um die Gesellschaft in ein rechtes und in ein linkes Lager zu spalten. Hetze gegen Hillary Clinton. Jubel für Donald Trump. Die Anklageschrift einer Grand Jury des Bezirksgerichts Washington D.C. bezeichnet das später als «Informationskrieg».
Ist die IRA ein Werkzeug des Kreml? Einen stichhaltigen Beweis dafür gibt es bis heute nicht, doch die Indizien wiegen schwer. Der «Zeit» liegt ein vertraulicher Bericht von deutschen Geheimdiensten von 2016 vor. Darin heisst es, die Internet Research Agency sei «durch Jewgeni Prigoschin, einen Vertrauten Putins» finanziert worden. Prigoschin sei ein Oligarch, der vom Kreml «für die offene und verdeckte Finanzierung von Einflussaktivitäten eingesetzt» werde.
Prigoschin trägt in der Presse den Beinamen «Chefkoch», er betreibt ein Restaurant im Moskauer Parlamentsgebäude und erhält regelmässig Staatsaufträge.
Der Kreml bestreitet jegliche Verbindung zur Internet Research Agency. Auch Prigoschin behauptet, nichts mit der Firma zu tun haben. Schnippisch antwortet er auf die Anfrage unserer Signals-Network-Recherchekooperation: Natürlich habe er die Irish Republican Army gegründet (deren Abkürzung ebenfalls IRA lautet), er habe zudem mit Javier Pérez Dolset fünf Jahre in einem kleinen Haus auf der thailändischen Insel Koh Chang gelebt, sie hätten zusammen Kinder haben wollen, doch das ginge nur in den USA.
Javier Pérez Dolset verfolgt in diesen Jahren die Nachrichten mit wachsendem Entsetzen.
Er wird einen Verdacht nicht los.
Von Spanien nach Russland?
Ist es womöglich «sein» Snap, mit dessen Hilfe die Programmierer der IRA ihrem Werk nachgehen? Es gibt eine dichte Indizienkette, die das nahelegt. Um das Jahr 2007 herum, die Geschäfte laufen wie geschmiert, expandiert Javier Pérez Dolset nach Russland. 2009 kauft seine Firma ZED Anteile an einem Unternehmen namens Temafon. Im Aktionärsvertrag steht: «ZED wird sicherstellen, dass alle Mitglieder der ZED-Gruppe alle neuen Produkte und alle neuen Versionen und Updates etc. eines jeden bestehenden oder neuen Produkts den Unternehmen der Gruppe anbieten werden.»
Später erleidet Pérez Dolset Schiffbruch mit seinen russischen Geschäftspartnern. Aber das ist eine andere Geschichte. Für Pérez Dolset ist klar: «Snap war da, auf unseren Servern in Madrid, als Quellcode, nutzbar und lesbar. Die Russen hatten Zugriff auf den Server.» Die Temafon-Leute hätten die Software herunterladen und frei verwenden können.
Und auch zum Kreml-«Chefkoch» gibt es eine Verbindung. Am 16. Dezember 2013 sollen sich Jewgeni Prigoschin und Javier Pérez Dolset in einem Restaurant in Moskau getroffen haben. Pérez Dolset will Prigoschin Snap vorstellen. Und hat womöglich damit, ohne es zu ahnen, dem mutmasslichen Financier der Desinformationsfabrik IRA sein mächtiges Werkzeug auf dem Silbertablett serviert.
Pérez Dolset kann Belege für seine Moskau-Reise vorlegen. Dass er sich dort mit Prigoschin getroffen hat, dafür kann er keinen Beweis vorlegen. Er kann nur beteuern, den glatzköpfigen Mann mit der faltigen Stirn und dem skeptischen Blick kennengelernt zu haben. «Ich weiss, dass ich Prigoschin getroffen habe», sagt Pérez Dolset. «Er hat ein Gesicht wie ein Türsteher. Das vergisst man nicht.»
Es ist eine Indizienkette. Kein Beweis.
Dass die IRA sich für Snap interessiert hätte, ist zumindest wahrscheinlich. Selbst falls die Software weniger mächtig ist, als Pérez Dolset geltend macht, hätte sie für die Trolle in Sankt Petersburg einen technologischen Sprung bedeutet. «Ich habe immer vermutet, dass die IRA Software genutzt hat, die von ausserhalb Russlands stammte», sagt Clint Watts, Senior Fellow am Foreign Policy Research Institute und ehemaliger FBI-Ermittler gegenüber der «Zeit». «Zu jener Zeit erweiterte die IRA ihre Kapazitäten signifikant, und es würde Sinn ergeben, dass sie nach fortgeschrittener Software suchten.»
Watts, der im März 2017 auch als Experte vor dem US-amerikanischen Senat zur russischen Einmischung aussagte, berichtet, wie er mit Kollegen das Verhalten von IRA-kontrollierten Twitter-Accounts untersuchte – und eine interessante Beobachtung machte: Die Accounts wurden zwar von realen Personen betrieben, doch sie verhielten sich fast so koordiniert wie computergenerierte User, also Bots. Watts und seine Kollegen nannten sie Cyborgs, der Science-Fiction-Terminus für Wesen, die teils Maschine, teils Mensch sind. Pérez Dolset bestätigt, dass der Snap-Algorithmus ebenfalls solche Muster erzeugt. Clint Watts sagt: «Das erscheint mir konsistent.»
Im Informationskrieg
Trolle und Technologie werden zur gezielten Desinformation eingesetzt. Was können demokratische Staaten tun, um sich gegen Falschinformation und Propaganda, gegen die von Algorithmen gesteuerte Desinformation zu schützen?
Eine Übersicht:
Die EU hat 2015 eine Meldestelle für Desinformation eingerichtet, die East Stratcom Task Force. Sie soll russische Propaganda entlarven und vor ihr warnen. Allerdings ist die Meldestelle winzig und kaum bekannt. Das will Brüssel ändern. Dieses Jahr wurde das Budget aufgestockt, auf 3 Millionen Euro pro Jahr.
In Grossbritannien, wo es als sicher gilt, dass Russland in den Brexit-Abstimmungskampf eingegriffen hat, prüfte ein parlamentarischer Ausschuss Massnahmen gegen Desinformation und Fake News. 18 Monate später liegt ihr Bericht vor. Das Fazit: Heute akzeptieren die Menschen Informationen, die sie in ihrer Meinung bestärken, egal wie verzerrt oder ungenau solche sind. Und Inhalte, mit denen sie nicht einverstanden sind, tun sie als Fake News ab; «an dieser Situation wird sich wahrscheinlich nichts ändern», heisst es im Report.
In Frankreich verabschiedete das Parlament im Herbst 2018 ein Gesetz gegen die «Manipulation von Information»: Falschmeldungen, die Wahlergebnisse beeinflussen könnten, sollen damit schnell identifiziert und unterdrückt werden.
Und die Schweiz?
Die Schweiz, so scheint es, war bislang nicht im Visier der IRA oder ähnlich operierender Gruppen. Man wolle «aufmerksam beobachten», heisst es auf Anfrage der Republik bei der Bundeskanzlei. Und weiter: «Bisher haben wir keine Hinweise auf nennenswerte Desinformationskampagnen in der Schweiz respektive mit Fokus auf die Schweiz ausgemacht.» Ein Grund dafür: Das Wahlsystem der Schweiz sei ganz anders als das der meisten anderen westlichen Demokratien, das mache es schwerer, von aussen in Wahlkämpfe einzugreifen – Stichworte: Konkordanzsystem, föderalistische Kompetenzordnung, dezentrale Organisation der Wahlen mit zahlreichen, kantonal unterschiedlichen Listen von Parteien und Kandidierenden.
Geheimwaffe Desinformation
Wie gesagt: Die Taktik ist alt. Damals, in der DDR, hiessen die Trolle «Tschekisten». Ihr Job: «aktive Massnahmen». Sie haben ihre Gegner in der Bundesrepublik mit gefälschten Dokumenten in die Irre geführt. Sie haben kommunistische Splittergruppen finanziert. Sie haben Spione entsandt, bis hinauf ins deutsche Bundeskanzleramt.
Ladislav Bittman, ehemaliger Spion der Tschechoslowakei, hat in seinem Buch «Geheimwaffe D» Einblick gegeben in seine Arbeit: «Ein gewöhnlicher Arbeitstag in der Desinformations-Fabrik bestand aus Studien, Analysen, Verhandlungen, Versammlungen und dem unvermeidlichen bürokratischen Papierkrieg. Unser Ziel war es, alle Schwächen und verwundbaren Stellen des Feindes herauszufinden, seine Fehler und Niederlagen zu analysieren, um sie auf unsere Weise auszubeuten. Die Ausarbeitung von Sonderoperationen könnte mit der ‹Kurbehandlung› eines Arztes verglichen werden, der wohl die richtige Diagnose stellt, den Patienten jedoch so behandelt, dass die Krankheit fortschreitet und ihn möglichst bald ins Grab befördert.»
Daran hat sich nichts geändert. Und doch hat die Propaganda eine andere Dimension und eine andere Qualität erhalten. Weil heute russische Trolle mutmasslich von spanischen Programmen gesteuert werden, um gegen deutsche, amerikanische und britische Politiker zu Felde zu ziehen.
Gemeinsam mit The Signals Network sucht die Republik Whistleblower aus der Technologieindustrie. Unsere Gebrauchsanleitung gibt Ihnen Tipps für sichere Kommunikation, sodass Sie sich sicher bei uns melden können.
Ladislav Bittman (1973): «Geheimwaffe D», erschienen bei SOI Bern.
Günter Bohnsack und Herbert Brehmer (1992): «Auftrag: Irreführung. Wie die Stasi Politik im Westen machte», erschienen bei Carlsen.
Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, bearbeitet von Marko Pollack und Doreen Bombitzki (2005): «Vorläufiges Findbuch zur Abteilung X: ‹Internationale Verbindungen› des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR».
Hannes Grassegger und Till Krause (2019): «Viren für den Geist», zeitgleich erschienen in den Magazinen des «Tages-Anzeigers» und der «Süddeutschen Zeitung».
Die Beiträge unserer Kolleginnen und Kollegen zum Thema
– «Zeit online»: Die Scharfmacher.
– «El Mundo»: La historia secreta del programa que usó el PP para manipular las redes en las elecciones de 2015.
– «Mediapart»: Aux origines de l’usine à «fake news» du Kremlin.
– «Daily Telegraph»: UK-taught developer «devised software Russia used to try to sway Brexit vote».