Das SBB-Trickli
Mit einer zweifelhaften Methode haben die Bundesbahnen die Preise für ihren treuesten Bahnhofsmieter verdoppelt. Die Hintergründe eines unbemerkten Deals.
Von Philipp Albrecht, 14.05.2019
Einkaufen hat viel mit Lust zu tun. Händler stecken grosse Beträge in das Kauferlebnis. Wer Besorgungen macht, soll inspiriert werden: der Laden als Ort des Glücks.
Der Kiosk ist kein solcher Ort. Hier muss alles schnell gehen. Gerade am Bahnhof, wo der Zug nicht auf seine Passagiere wartet. Darum sind die Flächen klein und das Angebot auf das Nötigste reduziert: Zeitungen, Zuckerwaren, Zigaretten.
Das wird sich jetzt ändern. Viele Bahnhofskioske mutieren in den nächsten beiden Jahren zu Convenience-Stores. Die Flächen werden heller, freundlicher, und die Preise steigen dank Sandwiches, Smoothies und Salat.
Angestossen haben das die SBB. Vor zwei Wochen wurde bekannt, dass Valora – Betreiberin der Formate K Kiosk, Avec, Caffè Spettacolo, Brezelkönig, Backwerk und Press & Books – diesen Umbau an den Bahnhöfen vornehmen wird. Am Ende dieses Prozesses wird Valora einen doppelt so hohen Mietzins bezahlen. So viel ist aus der Berichterstattung bekannt. Ein Blick hinter die Kulissen zeigt nun, wie die SBB ihren treuesten Bahnhofsmieter (seit über 100 Jahren!) dazu brachte, den Wucher zu schlucken.
Der Anschein von Wettbewerb
Ob Privatperson oder Ladenmieter: Wem die Miete plötzlich verdoppelt wird, dem geschieht Unrecht. Fälle solcher Art landen bei der Schlichtungsbehörde oder vor Gericht. Die Rechtsprechung ist klar mieterfreundlich.
Doch Valora schluckt die horrende Erhöhung. Und weil das Unternehmen an der Börse kotiert ist, erstaunt diese Passivität umso mehr. Denn eigentlich müssten die Aktionäre über einen solchen Mietanstieg verärgert sein und die Wertpapiere verkaufen. Doch das ist nicht passiert. Im Gegenteil: Der Valora-Kurs ist zuletzt gestiegen.
Die SBB haben das Problem nämlich sehr geschickt umschifft. Mit einer Ausschreibung.
Ausschreibungen sind ein hervorragendes Mittel, um Wettbewerb in einem monopolistischen Raum zu fördern. In vielen Bereichen sind sie gesetzlich vorgeschrieben. Bei den Kioskflächen der SBB-Bahnhöfe sind sie es nicht. Aber die Ausschreibung eignet sich hier sehr gut, um zumindest den Anschein von Wettbewerb zu vermitteln. Die Botschaft: Das beste Angebot kriegt den Zuschlag.
Am 15. Juni 2018 schrieben die SBB die «265 Kiosk- und Convenience-Flächen in der ganzen Schweiz» im Handelsamtsblatt* neu aus. Die Valora-Aktie verlor an diesem Tag fünf Prozent an Wert. Viele Beobachterinnen gingen davon aus, dass Valora zumindest ein paar Dutzend ihrer rund 200 Bahnhofskioske verlieren würde. Denn die Ausschreibung umfasste fünf regionale Lose. Zwei davon enthalten reine Kioskflächen, die anderen drei sind für Convenience vorgesehen.
Bis am 14. Dezember, 16 Uhr, konnten Interessierte ihre Angebote einreichen. Davon gab es mehrere. Aus der Schweiz machten neben Valora die Grossverteiler Migros und Coop mit. Beide mit viel Erfahrung im Verkauf von Kiosk- und Convenience-Ware. Bisher nicht bekannt war, dass auch Rewe aus Deutschland, Lagardère aus Frankreich und Reitan aus Norwegen Konzepte einreichten. Alle drei sind etablierte Profis im kleinräumigen Schnellverkauf.
Am 25. April 2019 freute sich Valora über den Zuschlag für sämtliche Lose. Das Muttenzer Unternehmen hat offenbar nicht nur die besten Konzepte vorgestellt, sondern war am Ende auch bereit, die höchsten Mietzinse zu schlucken. Damit gewinnt es sogar noch 31 Filialen dazu. Zehn davon muss die Migros abgeben, die mit ihrer Convenience-Kette Migrolino an 44 Bahnhöfen eingemietet ist.
Ein abgekartetes Spiel?
Die Mitbewerber trauten ihren Augen nicht. Erst recht, als sie in der Medienmitteilung der SBB lasen, dass die Kundschaft nun von «Produktinnovationen» profitiert wie «Gratiskaffee in ‹Kaffee-Wägeli› auf dem Perron bei grösseren Verspätungen oder von Gutscheinen für besondere Überraschungen». Dies sei mit ein Grund gewesen, dass Valora den Zuschlag erhalten habe. Es klang wie ein verspäteter Aprilscherz. Die Investoren frohlockten dafür: Die Valora-Aktie sprang zwischenzeitlich 10 Prozent in die Höhe.
Es verwundert nicht, dass ein Involvierter da von einem abgekarteten Spiel spricht. «Es muss den SBB einzig um Mietoptimierungen gegangen sein», sagt er. Andere vermuten, dass Valora vor Beginn der Ausschreibung sogar zugesichert worden sei, dass sie keine Filialen verlieren werde.
Beweise dafür gibt es nicht. Nur einige unschöne Nebenerscheinungen. So haben die SBB die Einzelheiten zur Ausschreibung «nur potenziellen Anbietern zur Verfügung gestellt», wie ein Sprecher auf Anfrage bestätigt. Die interessierte Öffentlichkeit erhält keine Einsicht. Beobachtern ist zudem aufgefallen, dass sich Valora-Vertreter seit Beginn der Ausschreibung in der Presse stets verdächtig optimistisch zeigten.
Ein Konkurrent geht davon aus, dass es für die SBB nie einen Grund gab, die seit einem Jahrhundert bestehende Zusammenarbeit mit Valora zu beenden. Auch nicht teilweise. Ausserdem lassen sich Kosten sparen, wenn keine Mieterwechsel vorgenommen werden müssen. Solange Valora die Verdoppelung der Miete schlucke, müsse man ja auch nichts ändern.
Teures Los
Und was Valora zu schlucken bereit ist, ist erstaunlich. Das Unternehmen rechnet damit, dass sein EBIT, also sein Gewinn vor Steuern und Zinsen, wegen der Ausschreibung und ihrer Folgen für das Jahr 2021 um 15 Millionen kleiner ausfallen wird als 2018. Ein Rückgang von 17 Prozent. Gleichzeitig investiert Valora 70 Millionen Franken in den Umbau der Läden. Das Ganze soll aber nicht umsonst sein: Valora-CEO Michael Mueller stellte seinen Aktionären in Aussicht, dass sich die Investition dank höherer Umsätze und besserer Margen nach drei Jahren auszahlen werde.
Der Aufwand zeigt, wie wichtig die Bahnhofsflächen für Detailhändler geworden sind. Dort, wo die Frequenzen nie nachlassen und die Konsumenten in der Eile ohnehin keine Preise vergleichen, spürt die vom Einkaufstourismus und von ausländischen Onlinehändlern gebeutelte Branche einen Hauch von Aufbruchsstimmung. Eine Branche, die in der Schweiz schon seit einiger Zeit schrumpft. «Der Bahnhof ist ein klarer Hotspot im Gesamtkontext des Detailhandels, der in den letzten Jahren unter Druck war», sagte Coop-Chef Joos Sutter Anfang April im Gespräch mit der SRF-Sendung Eco.
Genau hier setzten die SBB an. Der Konzern, der 32’000 Menschen beschäftigt, komplett in staatlicher Hand ist und dessen CEO Andreas Meyer von der Politik regelmässig vorgeworfen wird, «Unternehmerlis» zu spielen, ist nach Swiss Life der zweitgrösste Immobilienkonzern der Schweiz. Seine Mieteinnahmen betragen eine halbe Milliarde Franken. Mehr als ein Drittel davon kommt von den Ladenflächen an den 793 Bahnhöfen. Der SBB-Konsumtempel schlechthin ist das Shopville im Zürcher Hauptbahnhof. Der HB ist mit fast 500’000 Personen pro Tag das meistfrequentierte Gebäude der Schweiz.
Ihre Mietforderungen hängen die SBB an die Umsätze der Läden, gestützt durch einen Mindestbetrag. Wie hoch der prozentuale Umsatzanteil ist, bleibt geheim. Vor ein paar Jahren sei er noch im einstelligen Prozentbereich gewesen, sagt ein Kenner. Gerüchteweise sei er nun während der Ausschreibung für die Kioskflächen auf über 20 Prozent gestiegen.
Eine halbe Innovation
Anfang April stellte Valora im HB Zürich zwei neue Convenience-Läden vor, die ohne Verkaufspersonal auskommen. Die Container-Variante Avec Box kann frei stehend vor Gebäuden platziert werden, die fixe Version Avec X soll bestehende Kleinstflächen in Bahnhöfen nutzen. Die Vorstellung war ein medialer Grossanlass mit fast 50 anwesenden Journalistinnen. Von sehr vielen wurde Valora-Chef Mueller gefragt, ob das denn nun Valoras Antwort auf die SBB-Ausschreibung sei. Nein, antwortete Mueller geduldig, an dem Konzept arbeite man schon seit zwei Jahren.
Man könnte Valora vorwerfen, die medienwirksame Präsentation der neuen Avec-Konzepte hätte einzig den Zweck gehabt, zu zeigen, dass der spätere Sieg in der Ausschreibung durchaus seine Berechtigung habe. Schliesslich komme Valora hier mit einer echten Innovation: Läden ohne Personal.
Dass das Avec-Konzept in Wahrheit wenig mit Innovation zu tun hat, machte E-Commerce-Experte Thomas Lang von der Beratungsfirma Carpathia in einem Blogeintrag deutlich: «Nüchtern betrachtet, ist die Avec-Box weder eine digitale noch eine technische Innovation, höchstens eine arbeitsrechtliche», schreibt er und spricht von einem «begehbaren Selecta-Automaten».
Alles nur ein mediales Theater für ein übertriebenes Profitstreben der Staatsbahn?
Das Ziel dieser Ausschreibung, so erklärt es ein SBB-Sprecher, sei gewesen, «neue, spannende und innovative Kiosk- und Convenience-Konzepte zu eruieren, die auch in Zukunft auf die Bedürfnisse der Kundinnen ausgerichtet sind und bei Erfolg automatisch eine Ertragssteigerung generieren.» Die eingereichten Vorschläge habe man sorgfältig geprüft. Die qualitativen und die wirtschaftlichen Kriterien seien zu je 50 Prozent gewichtet worden: «Jeder Anbieter hatte somit die gleichen Chancen, den Zuschlag zu erhalten.»
Valora hat inzwischen angekündigt, 83 Kioske zu beerdigen. Daraus werden bald lukrativere Avec-Filialen. Bis auf Weiteres noch mit Personal aus Fleisch und Blut.
Konkrete und offizielle Äusserungen zur Ausschreibung will keiner der Valora-Konkurrenten machen. Auch ein Rekurs ist kein Thema. Man will es sich mit den SBB nicht verscherzen – schliesslich gibt es an den begehrten grossen Bahnhöfen neben den Kiosk- und Convenience-Flächen noch viele andere Ladenlokale.
* In einer früheren Version sprachen wir hier irrtümlicherweise vom Handelsregister.