Die grosse Freakshow
Wie treten Politikerinnen bei der Europawahl auf, einer Wahl, die gar nicht stattfinden sollte? Grossbritannien verwandelt die Demokratie in Realsatire.
Von Leandra Bias, 09.05.2019
Ladies and Gentlemen, willkommen beim absurdesten Schauspiel der diesjährigen Europawahlen: dem Wahlkampf in Grossbritannien.
Am 23. Mai wählt das Land seine künftigen Repräsentanten im Europäischen Parlament. Dies unter heftigem Widerwillen der politischen Hauptakteure: Eigentlich hätte eine Brexit-Umsetzung bis dann vorliegen, eigentlich hätte Grossbritannien bereits aus der EU draussen sein sollen. Doch weil weit und breit kein mehrheitsfähiger Plan da ist, bereitet das Land eben Wahlen vor.
Und tut dabei alles Mögliche – ausser sinnvoll über Europa zu diskutieren.
Entsprechend grotesk wirkt das Spektakel, das die Beteiligten von links bis rechts, von remain bis leave, vom Minister bis zum Hinterbänkler, bieten.
Die Rampensau im Rampenlicht
Die erbärmlichste Vorstellung legt der einstige Aussenminister der jetzigen Regierung hin, Boris Johnson. Sein Wahlprogramm lautet: Boris Johnson. «Bojo», wie er im Volksmund genannt wird, sieht im Wahlkampf nichts als eine weitere Chance, sich selbst als künftigen Premier zu verkaufen.
Seit seinem Amtsrücktritt letzten Juli ist er bemüht, Premierministerin Theresa May als Schwächling darzustellen, die des mächtigen Vereinigten Königreiches unwürdige Verhandlungen führt. Er gebärdet sich als der dringend notwendige starke Anführer, der der EU endlich zeigen würde, wo der Bartli den Most holt. Seit Monaten hofft er auf einen Führungswechsel.
Doch May hat trotz ihrer unübertroffenen Serie von Niederlagen (sie hat in ihrer knapp dreijährigen Amtszeit bereits elf Regierungsmitglieder verloren und ist dreimal in Folge mit ihrem Austrittsplan im Parlament aufgelaufen) bisher alle Misstrauensvoten überstanden und verbleibt somit am Steuer.
May hat allerdings in einem letzten verzweifelten Akt versprochen abzutreten, wenn ihr Abkommen endlich im Parlament angenommen würde.
Da dies nach wie vor unwahrscheinlich ist, muss sich «Bojo» vorerst gedulden. Und schauen, dass er derweil im Rampenlicht steht. Für seine Partei beim Wahlkampf zu werben? Kommt nicht infrage. Da nutzt der Herr lieber seine Kolumne im «Telegraph» – für die er 2291 Pfund pro Stunde kriegt –, um der Leserschaft einen perfekten Brexit um den Mund zu schmieren und sie zu bitten, sich noch etwas zu gedulden: Alles wird gut, sobald er der Chef ist.
Selbst das Intrigieren überlässt er anderen Konservativen, die überlegen, ob sie nicht die Regeln so ändern wollten, dass bereits nach sechs statt zwölf Monaten wieder ein Misstrauensvotum einberufen werden könnte. Dann könnten sie den nächsten Coup gegen May im Juni versuchen.
«Bojo» ist nicht der einzige selbstbezogene Politiker in diesem «Wahlkampf». Der neue Minister für internationale Entwicklung, Rory Stewart, gerade erst am 2. Mai in die Regierung befördert, liess innerhalb von 24 Stunden verlauten, dass auch er Drehbuchautor der Vorstellung sein möchte. Mittlerweile ist es einfacher, Regierungsmitglieder aufzuzählen, die keine Führungsansprüche erheben, als solche, die dies tun.
Boris Johnson hat die besten Aussichten auf den Chefposten. Doch auch er stösst nicht bei allen Parteimitgliedern auf Anklang. So haben einige schottische Konservative die «Operation Ars*» gestartet, um seinen Aufstieg zu verhindern. Auf die Frage, woher der Name kommt, antwortete ein Mitglied: «Wir haben die Operation so getauft, damit allen klar ist, um wen es geht.»
Theresa macht den Vogel Strauss
Und was macht die Premierministerin inmitten dieser Turbulenzen? Sie baut ihre eigene Traumfabrik. Anfangs bestand sie darauf, dass die Wahlen abgewendet werden könnten, wenn bloss die Parlamentarier endlich kuschen und ihren Deal durchwinken würden. Dazu erwog sie kurzzeitig, anstelle des eigentlichen Abkommens die entsprechend nötige Gesetzgebung für dessen Umsetzung vors Parlament zu bringen.
Klar, diese Abfolge ist merkwürdig. Aber so kurz vor den EU-Wahlen, die zur grössten Schlappe der Tories führen werden, wäre der Druck vielleicht genug gross, um doch noch genügend Brexit-Befürworterinnen hinter sich zu scharen.
Seit dieses Vorhaben gescheitert ist, setzt May auf Plan B: Gespräche mit der oppositionellen Arbeiterpartei, um doch noch Unterstützung für ihren Deal zu erlangen. Dabei geht es darum, welche Konzessionen die Opposition der Regierung abringen kann. Die Arbeiterpartei will, anders als die Regierung, dass Grossbritannien in der EU-Zollunion bleibt, um einen reibungslosen Handel zu garantieren und um eine harte Grenze zu Irland zu verhindern.
Theoretisch haben beide Parteien ein Interesse an einem Kompromiss, damit es mit dem Brexit endlich vorangeht – insbesondere nachdem beide bei den Lokalwahlen am 2. Mai abgestraft wurden. Klar ist aber auch, dass viele Abgeordnete einen gemeinsamen Pakt nicht akzeptabel fänden und ein solcher im zerstrittenen Parlament chancenlos ist.
Dennoch klammert sich die Premierministerin an dieses Szenario. Mit der monotonen Stimmlage, die ihr den Spitznamen «Maybot» eingebracht hat, wiederholt sie: Die Wahlen könnten zwar nicht mehr verhindert werden, aber sie werde ihren Deal noch bis Ende Juni durchbringen. Somit würden die gewählten britischen EU-Parlamentarier gar nie erst nach Brüssel reisen.
Diesen Luxus der Realitätsfremdheit kann sich aber die Partei nicht leisten. Es wäre die eindeutigste Ansage an die Basis, keinen Wahlkampf zu machen.
Logischerweise ist die Aussicht, unter diesen Umständen bei den Leuten an der Haustür zu klingeln, nicht gerade vielversprechend. Ein Tory-Kandidat brachte auf den Punkt, was ihm auf der Türschwelle bevorsteht: «Guten Tag, ich bin hier, damit Sie mich fünf Minuten lang runtermachen können».
Zwei Seelen, ach, in meiner Brust
Die Opposition ist derweil bemüht, der Regierung ja nicht die Show zu stehlen – damit die Aufmerksamkeit nicht auf die eigenen Fehler fällt. Die lokalen Wahlen haben aber gezeigt, dass diese Tour nicht dazu ausreicht, Wählerinnen über die eigene Unzulänglichkeit hinwegzutäuschen.
Diese besteht genau wie bei den Tories aus einer katastrophalen Brexit-Politik. Nur handelt es sich hier nicht um das Unvermögen, sie umzusetzen. Sondern die Unfähigkeit, überhaupt eine klare Strategie zu formulieren.
Die Labour-Partei ist in ständigem Kostümwechsel. Unmittelbar nach dem Referendum von 2016 deklarierte Oppositionsführer Jeremy Corbyn, dass seine Partei das Resultat akzeptiere. Dies, um die vielen traditionellen Labour-Wähler, die für einen Austritt gestimmt hatten, nicht zu vergraulen.
Doch mit der Zeit stieg der Druck von der Parteibasis, die zu einem Grossteil aus Brexit-Gegnerinnen besteht, für ein zweites Referendum zu kämpfen. Er erreichte seinen Höhepunkt auf dem Parteikongress im vergangenen Herbst, auf dem nach langem Ringen eine Motion angenommen wurde, wonach die Partei in erster Linie Neuwahlen anstreben – und, sofern das nicht klappt, eine erneute Volksabstimmung über den Brexit erzwingen soll.
Jeremy Corbyn, von Fans auch «JC» genannt, kann sich zu einem zweiten Referendum «unter allen Umständen» aber einfach nicht durchringen.
Pro-Europäer in der Partei wollen jedweden Brexit-Deal dem Volk für ein bestätigendes Votum vorsetzen. «JC» hingegen möchte nur eine zweite Abstimmung, falls ein konservativer Brexit droht – also nur dann, wenn die Gespräche mit dem «Maybot» sich als Flop herausstellen. Zu tief sitzen Corbyns Europaskepsis und die Befürchtung, einen Teil der Wählerschaft zu verjagen.
Das Resultat sind widersprüchliche Signale, die es beiden Lagern recht machen sollen. Anhänger von «JC» nennen das nett «konstruktive Ambiguität». Die Publikumsjury nennt es: fudge – nach dem Weichkaramell, bei dessen Zubereitung alle Zutaten in den Topf geworfen und miteinander verrührt werden und das deshalb auch für faule Kompromisse steht.
Und so druckt Labour Flyer für den Wahlkampf, auf denen ein zweites Referendum mit keiner Silbe erwähnt wird. Das treibt alle, die von Labour eine effektive Oppositionspolitik erwarten, zur Weissglut.
Keiner verkörpert dieses bizarre Rollenspiel besser als Labours neuster EU-Wahlkandidat Andrew Adonis. Noch im April rief er laut: Eine tragfähige Brexit-Version sei unmöglich. «Brexit kann und muss gestoppt werden!» Inzwischen hat er eine bemerkenswerte Charakterentwicklung vollzogen. Nun tritt Adonis vors Publikum und verkündet, Labour habe einen sinnvollen, wirtschaftsfreundlichen Brexit-Plan.
Der Joker ist zurück im Spiel
Die Einzigen, deren gute Miene zum bösen Spiel nicht aufgesetzt ist, sind die Mitglieder der neuen Brexit-Partei. Deren Gründervater: Nigel Farage, früher Vorsitzender der rechten United Kingdom Independence Party (Ukip).
Ukip wirbt seit den Neunzigern für einen EU-Austritt. Nach dem Referendum von 2016 zog sich Farage zurück – er erachtete den Job als erledigt. Aus der Ukip trat er ausserdem im vergangenen Herbst aus, als sich abzeichnete, dass die Partei mit ihrer antimuslimischen Haltung in die rechtsextreme Ecke abgedriftet war.
Diesen Frühling nun gab Farage sein Comeback – er habe nicht zwanzig Jahre für einen EU-Austritt gekämpft, um den erreichten Sieg im Zuge der ewigen Brexit-Verzögerungen doch wieder aus der Hand zu geben. Farages neuer Slogan: «Wir schlagen zurück und ändern die Politik ein für alle Mal.»
Seither tourt er wie gewohnt mit Tweedjacke und einem Bier vom Pub um die Ecke durchs Land. Mit einem Grinsen, das an Batmans Joker erinnert, zaubert er völlig unrealistische Brexit-Zukunftsszenarien hervor, sülzt von einer Vergangenheit, die es nie gab, und hypnotisiert seine Landsleute im Publikum: Sie seien «Löwen, die von Eseln angeführt werden», und müssten sich endlich von den Fesseln der EU wie auch der eigenen politischen Kaste befreien. Den magischen Spruch dafür kennt natürlich nur er: Nigel Farage.
Die EU-Wahlen seien daher bloss der erste von vielen Befreiungsschlägen. Die Widersprüche in seiner Haltung – Farage ist gegen Karrierepolitiker, auch wenn er seit zwanzig Jahren Monat für Monat 12’000 Pfund von der EU einsackt – werden dabei schön von der Bühne gekehrt. Zurück bleibt der Eindruck, dass Menschen wie er die Welt wohl einfach nur brennen sehen wollen.
Neben Farages Brexit-Partei gibt es weitere Hoffnungsträger beim Wettbewerb namens «Vereinigtes Königreich sucht neuen Super-Rechten».
Da wäre Nigel Farages Ex-Partei Ukip. Sie versucht Farages neue Partei als Ein-Mann-Diktatur zu diffamieren und sich als wahre Partei des Brexit zu inszenieren. Nur wer am 23. Mai für Ukip stimme, könne ein klares Signal nach Westminster schicken, den Brexit endlich zu verwirklichen.
Andererseits ist da der rechtsextreme Anti-Islam-Aktivist Stephen Yaxley-Lennon. Eigentlich wollte er für Ukip kandidieren, wurde aber wegen seiner früheren Mitgliedschaft bei der aus Hooligan-Kreisen hervorgegangenen English Defence League nicht zugelassen. Wobei das Ukip nicht davon abhielt, ihn als externen Berater anzuheuern und ihm das Zepter für eine der wichtigsten Kundgebungen am designierten Tag des Brexit zu überreichen.
Für seinen Wahlkampf griff Yaxley-Lennon tief in die Trickkiste und wollte mit Gratisburgern für sich werben. Doch die Polizei hielt ihn davon ab, da er damit gegen das Bestechungsgesetz verstossen hätte.
Ein neuer Stern am Himmel
Bleiben noch die Liberaldemokraten und die neue Partei Change UK, die auch im Scheinwerferlicht stehen wollen – in der politischen Bühnenmitte.
Change UK, die gerade erst im Februar von elf abtrünnigen Tory- und Labour-Politikern gegründet wurde, will vor allem die Arbeiterpartei in den Schatten stellen. Mit deren fudge tut sich tatsächlich eine Lücke auf – allerdings leistete sich Change UK nach anfänglicher Begeisterung einige Patzer.
Da war zum einen die Schwierigkeit mit der Namensfindung: Zu Beginn nannten sie sich «die unabhängige Gruppe», also The Independent Group, was zur belächelten Abkürzung TIGers führte. Dann entschieden sie sich für eine Umbenennung in #change, um zu signalisieren, dass sie eben nicht nur unabhängig, sondern auch anders sind. Damit konnte sich wiederum die Wahlkommission nicht abfinden, da ein Hashtag nicht zulässig sei. Am Ende starteten die aufkommenden Stars ihre Europawahlkampagne mit verschiedenfarbigen Logos, weil alles etwas hastig zugegangen war.
Wobei die Wendung «aufkommende Stars» etwas in die Irre führt: Weder die Leute – gestandene Politiker – noch das Programm sind neu. Offiziell möchte Change UK den Part der «Allianz der EU-Remainer» übernehmen. Der Parteivorsitzende, Chuka Umunna, der – ganz zu seinem Missfallen – immer wieder als Obama der britischen Politik bezeichnet wird, proklamiert: «Wir wollen, dass die Leute über den heutigen Austritt abstimmen können und nicht über irgendeine Fantasie, die vor drei Jahren versprochen wurde.»
Konkretes zur Europapolitik wird allerdings nicht nachgeliefert. Eine Vision, wie die EU in Zukunft gestaltet werden soll, ist weit und breit nicht auszumachen. Und somit bleibt bei Change UK das Bekenntnis zu einem Wandel bei einem, sagen wir mal, linguistisch-performativen Akt.
Die Ironie? Nicht mal diese ambitionslose EU-Politik, die nichts weiter als den Status quo ante Brexit-Referendum verspricht, ist neu. Genau so läuft bereits das Skript für ein erfolgreiches Casting bei den Liberaldemokraten.
Ein geeinter Block in der Mitte wäre daher naheliegend und würde zudem wirkungsvoller vermitteln, wo die Ode an die Freude (zumindest angeblich) spielt. Aber Change UK schlägt die von den Liberaldemokraten vorgeschlagene Anti-Brexit-Zusammenarbeit in den Wind. Und setzt in ihrer Geburtsstunde lieber auf die Zerreissprobe innerhalb der Arbeiterpartei.
Wobei auch verständlich ist, dass Change UK ihren Namen nicht mit jenem der Liberaldemokraten beflecken will. Diese entpuppten sich als nicht sehr liberal: Auf die Aufforderung der Parteileitung, die Auswahl der EU-Kandidatinnen so vielfältig wie möglich zu gestalten, drohten weisse, männliche Parteimitglieder prompt mit einer Diskriminierungsklage.
Fazit: Ein einziges Theater
Was wurde schon über die EU hergezogen: Undemokratisch sei sie, sie zwinge das Vereinigte Königreich mit ihren diktatorischen Institutionen in die Knie. Doch jetzt sorgen ausgerechnet die Briten dafür, dass die einzige demokratische Wahl einer EU-Institution zur reinen Inszenierung verkommt.
Die Konservativen sind entweder auf ihre Selbstinszenierung beschränkt oder verschliessen sich vor der Wirklichkeit. Die Brexit-Partei und Ukip kanalisieren sämtlichen angestauten Ärger in der Wahl. Die Arbeiterpartei ist paralysiert, will sich noch immer nicht konsequent zur EU bekennen. Und die beiden Parteien, die behaupten, sie verkörperten dieses Bekenntnis, schlagen anspruchslos nicht mehr als ein zweites Referendum vor.
Mit der EU und der europäischen Zukunft hat das alles nichts zu tun.
Opfer des Klamauks ist nicht zuletzt das restliche Europa. Erwartet wird ein Ansturm von Euroskeptikern aufs Europäische Parlament. Sollen diese Abgeordneten, denen absolut nichts an der EU liegt, wirklich mitreden, wenn es etwa um die nächste Kommission und ihre Präsidentin geht? Und sollen, wenn die britischen Parlamentarier nach vier Monaten wieder gehen, in den einzelnen EU-Ländern nochmals Nachwahlen abgehalten werden? Oder sollen die Ersatzkandidaten bereits jetzt auf Abruf gewählt werden?
Bei diesen düsteren Aussichten bleibt nur noch der britische Humor zur Aufheiterung: Die wahre Freakshow kommt erst noch, wenn das Vereinigte Königreich im Herbst am 31. Oktober definitiv aus der EU austritt – an Halloween, dem Tag der Untoten. Wenn dies hier die Generalprobe ist, dann kann es in der Zeit danach nur heiter werden.
Leandra Bias ist Politikwissenschaftlerin. Sie hat für den «Tages-Anzeiger» und die NZZ geschrieben und lebt seit sechs Jahren in Grossbritannien. An der Universität Oxford untersucht sie autoritäre Staaten, insbesondere ihre Anti-EU-Politik und den damit einhergehenden Rückschlag in Bezug auf Frauenrechte.