Am Gericht

Die Arbeitgeberin und ihre Hilfssheriffs

Eine Kassiererin gerät in den Verdacht, Geld zu veruntreuen. Die Arbeitgeberin hetzt ihr zwei Sicherheits­leute auf den Hals, die sie zum «Geständnis» drängen. Ist das erlaubt?

Von Brigitte Hürlimann, 08.05.2019

Ort: Bezirksgericht Zürich
Zeit: 6. Mai 2019, 14 Uhr
Fall-Nr.: GG180154 und UE160149
Thema: Mehrfache Nötigung und fahrlässige Körperverletzung

«Die Beschuldigten hatten im Vorfeld des 12. Juli 2014 als Mitarbeiter des Sicherheits­dienstes den Auftrag erhalten, eine Mitarbeiterin zu mehreren Vorfällen betr. Kassen­manipulation und Veruntreuungen im Umfang von max. CHF 500.00 zu befragen.»

So harmlos beginnt die Anklage­schrift von Staats­anwalt Josef Neff, sie datiert vom 12. Juli 2018. Man merke: vier Jahre später.

Den Einstiegs­satz haben wir für diesen Republik-Artikel leicht modifiziert, damit die beiden beschuldigten Sicherheits­leute (eine Frau und ein Mann), die unter Verdacht geratene Kassiererin und die Arbeit­geberin (ein Grossverteiler) anonym bleiben. Thema des Straf­prozesses ist beileibe keine schwere Wirtschafts­kriminalität. Doch die Ereignisse als Bagatelle abzutun, wäre grundfalsch.

Hinter den vermuteten, kleinen Gaunereien steckt die grundsätzliche Frage, was eine Arbeit­geberin tun darf und muss, wenn sie Mitarbeiter einer unkorrekten Handlung verdächtigt. Es geht um ihre Fürsorge­pflicht und – als Korrelat dazu – um die Treue­pflicht der Arbeit­nehmer. Wenn das Ganze dann noch mit den Spiel­regeln des Straf­rechts in Verbindung kommt, wirds ziemlich komplex. Und, das sei bereits vorweggenommen: Die Auffassungen darüber gehen in der Rechts­lehre auseinander.

Im konkreten Fall hatte der Grossverteiler Sicherheits­leute eingesetzt, um den Verdächtigungen nachzugehen – kein unübliches Vorgehen. Und es sind diese Hilfs­sheriffs, die sich nun im Straf­verfahren verantworten müssen. Der Staats­anwalt wirft dem Mann und der Frau mehrfache Nötigung und fahrlässige Körper­verletzung vor und verlangt zweimal bedingte Geld­strafen von je 120 Tagessätzen à 140 Franken plus je eine Busse von 4200 Franken.

Dazu braucht es zwei Vorbemerkungen:

  1. Der Staatsanwalt wollte gar nicht Anklage erheben, darum diese Verzögerung. Er stellte das Straf­verfahren gegen die Sicherheits­leute im Mai 2016 ein – und wurde im Februar 2017 vom Zürcher Obergericht eines anderen belehrt. Die III. Straf­kammer weist Josef Neff an, Anklage zu erheben. Und nicht nur das. Das Gericht setzt sich in seinem Beschluss mit den zur Diskussion stehenden Fragen eingehend auseinander; es schildert die Rechts­lage, die Kontroverse, die fehlende höchstgerichtliche Recht­sprechung, all die Unklarheiten, die zwingend zu einer gerichtlichen Beurteilung führen müssten.

  2. Diese gerichtliche Beurteilung hätte eigentlich vergangenen Montag erstinstanzlich am Bezirks­gericht Zürich stattfinden sollen. Der Prozess hat auch pünktlich um 14 Uhr begonnen, und fast alle waren da: die zwei Beschuldigten mit ihren Verteidigern, der Rechts­vertreter der (dispensierten) Privat­klägerin/Kassiererin, drei Journalisten, drei Zuschauerinnen. Der Staats­anwalt musste nicht erscheinen und zog es auch vor, fernzubleiben. Er hat nicht viel verpasst. Nach gut zehn Minuten wurde die Verhandlung unterbrochen und auf später vertagt. Der Grund für die Verzögerung: Einzel­richter Urs Gloor hat dem Antrag von Rechtsanwalt Matthias Brunner stattgegeben, es sei die Tochter seiner Mandantin – der betroffenen Kassiererin – als Zeugin zu befragen. Das wird nun geschehen, vermutlich im Herbst.

Aber was ist denn überhaupt passiert, im Grossverteiler, an der Kasse?

Das Obergericht schildert die Ereignisse detailliert, ebenso Staats­anwalt Neff in seiner Anklage­schrift. Beide stützen sich dabei in erster Linie auf ein Gedächtnis­protokoll der Kassiererin. Diese hatte wenige Tage nach dem Vorfall ihrer Tochter diktiert, was sie an jenem Samstag, 12. Juli 2014, erlebt hat. Weil das Protokoll eine wesentliche Rolle spielt im Straf­verfahren, soll nun also die Tochter dazu befragt werden. Denn schon am zehnminütigen Prozess von Montag war klar, dass die zwei angeklagten Sicherheits­leute die Schilderungen nicht anerkennen.

Die Kassiererin berichtet, wie sie an diesem frühen Samstag­morgen in einem Zürcher Aussen­quartier die Arbeit hat aufnehmen wollen, als sie zum Gespräch ins Büro gebeten wird. Sie kennt weder die Frau noch den Mann, die ihr sofort viele Fragen stellen: zum Privat­leben, zur Arbeit, zu ihren finanziellen Verhältnissen. Die Unbekannten durchsuchen ihre Hand­tasche, ihre Jacke und ihr Garderoben­fach. Die Mitarbeiterin fragt, worum es eigentlich gehe, und erhält keine Antwort.

Sie schildert die weiteren Ereignisse folgendermassen:

Der Mann und die Frau fordern sie auf, in ein Auto zu steigen und in die Zentrale der Arbeit­geberin nach Dietikon zu fahren. Wie eine Gefangene wird sie ins Auto verfrachtet, muss hinten sitzen, neben der Sicherheits­frau, bekommt ihre Hand­tasche nicht zurück und erfährt auch während der rund zwanzigminütigen Fahrt nicht, worum es geht.

Die Zentrale ist am Samstag menschenleer. Die Kassiererin wird in einen Befragungs­raum geführt; sie empfindet die Situation wie ein geheimdienstliches Verhör: beklemmend und verstörend. Die Sicherheits­leute diktieren die Regeln. Rauch­pausen sind verboten, Toiletten­pausen erlaubt. Die Mitarbeiterin fühlt sich den beiden ausgeliefert. Irgendwann erfährt sie, was man ihr vorwirft. Sie könne jetzt ein Geständnis ablegen, sonst werde man die Polizei informieren. Die Kassiererin beginnt zu weinen, sie will nur noch, dass sie von hier fortkann, sie will die Sache beenden, hat Angst vor der Polizei und befürchtet Probleme mit der Aufenthalts­bewilligung.

Die Kassiererin erzählt ihrer Tochter, sie habe einfach aufgeschrieben, was die Sicherheits­leute von ihr verlangt hätten, habe drei Produkte und deren Preise notiert, die sie angeblich nicht einkassiert hat. Sie hat alles unterschrieben, jede Seite, sie will die Sache nur noch beenden. Als sie das getan hat, wird sie zurück ins Zürcher Aussen­quartier chauffiert. Sie müsse nicht mehr an die Arbeit, heisst es. Wenige Tage später trifft die fristlose Kündigung ein.

Für den Staatsanwalt besteht «kein anklagegenügender Verdacht der Nötigung», begangen durch die zwei Sicherheits­leute, selbst wenn man auf das Gedächtnis­protokoll der Kassiererin abstellen würde. Die Frau habe den Aufforderungen der Sicherheits­leute freiwillig Folge geleistet.

Das Obergericht ist anderer Meinung. Es sei nicht auszuschliessen, schreibt es in seinem Beschluss, dass das zuständige Gericht befinde, die Kassiererin sei eingeschüchtert worden, um ein «Geständnis» abzulegen. Das Ober­gericht hat nicht über die Sache selbst zu befinden, darum die vorsichtigen, verschwurbelten Formulierungen, sondern nur über die Einstellungs­verfügung der Staats­anwaltschaft. Die aufgehoben wird.

Das Obergericht erwähnt den autoritären Auftritt der beiden Sicherheits­leute, die nur vagen Andeutungen zu den Vorwürfen, die Befragung in der entlegenen Zentrale anstatt am Arbeits­platz, den Aufbau einer Droh­kulisse, die Einschüchterungen und generell das Gebaren der Befrager, die wie Polizisten aufgetreten seien. Offensichtlich sei die Kassiererin zuerst ausführlich befragt worden, bevor man ihr den Grund für die Untersuchung bekannt gegeben habe. Ein solches Vorgehen ist im Strafverfahren klar unzulässig.

Dürfen die privaten Hilfs­sheriffs zu Methoden greifen, die den staatlichen Straf­verfolgern verwehrt sind?

Nicht zuletzt spricht das Ober­gericht das Thema der Verhältnis­mässigkeit an: Ist eine solche interne Untersuchung zulässig, wenn es um eine vermutete Delikt­summe von maximal 500 Franken geht? Spannend auch, was das Gericht zum Thema betriebsinterne Untersuchungen des Arbeit­gebers bei Verdacht auf eine strafbare Handlung schreibt. Es erwähnt in diesem Zusammenhang die Fürsorge­pflicht des Arbeit­gebers, die ihn dazu verpflichtet, die Interessen der Arbeit­nehmer zu wahren; also deren Gesundheit, die körperliche und geistige Integrität, die persönliche und berufliche Ehre, die Stellung und das Ansehen im Betrieb oder das wirtschaftliche Fortkommen. Der Arbeit­geber hat die Pflicht, seine Rechte gegenüber den Arbeit­nehmern schonend auszuüben.

Das bedeutet: Vermutet die Arbeit­geberin eine strafbare Handlung im Betrieb, so muss sie zuerst Abklärungen treffen, bevor sie eine Kündigung ausspricht und/oder eine Straf­anzeige einreicht. Bei solch innerbetrieblichen Abklärungen muss sie der Verdächtigten die Gelegenheit geben, sich zu äussern und sich gegen die Vorwürfe wirksam zu verteidigen. Dazu braucht es die Möglichkeit, sich vorzubereiten und allenfalls einen Anwalt beizuziehen.

Die Crux ist: Die Arbeit­nehmerin ist im Rahmen ihrer Treue­pflicht dem Arbeit­geber gegenüber verpflichtet, über alle wesentlichen Aspekte der Arbeits­tätigkeit wahrheitsgetreu, vollständig, rechtzeitig und von sich aus zu berichten. Steht allerdings eine vermutete Straftat im Raum, könnte sie sich damit selbst belasten; der Zwang zur Selbst­belastung ist menschenrechtswidrig. Ein Teil der Rechts­wissenschaftler schlägt deshalb vor, dass die Arbeit­nehmerin bei einer betriebsinternen Untersuchung schweigen darf, wenn die Gefahr einer strafrechtlichen Selbst­belastung besteht. Andere Rechts­gelehrte finden, selbstbelastende Aussagen im Straf­prozess seien mit einem Verwertungs­verbot zu belegen.

In der höchstrichterlichen Recht­sprechung, so das Ober­gericht, seien diese Fragen noch nicht geklärt worden.

Der aufgeschobene Prozess am Bezirks­gericht Zürich birgt also einige Brisanz. Der Rechts­vertreter der Kassiererin, Matthias Brunner, verlangt nicht nur die Zeugen­einvernahme der Tochter, sondern auch, dass eine schwere Körper­verletzung geprüft wird. Staatsanwalt Josef Neff hat eine fahrlässige einfache Körper­verletzung angeklagt. Er hält in der Anklage­schrift fest, dass die Kassiererin seit dem Vorfall zu hundert Prozent arbeitsunfähig ist, an Depressionen, Panik­störungen und posttraumatischen Belastungs­störungen leidet. Der Rechts­anwalt stuft den Schwere­grad dieser bis heute andauernden Krankheiten offensichtlich als gravierender ein als der Staatsanwalt.

Und nur so nebenbei: Das Straf­verfahren gegen die Kassiererin ist eingestellt worden.

Illustration Friederike Hantel