Die Mehrwertsteuer-Masche

Kriminelle betrügen die EU jährlich um rund 50 Milliarden Euro. Auch aus der Schweiz heraus. Ihre Methode: Mehrwertsteuer­karusselle. Wir erklären das System.

Von Marguerite Meyer (Text) und Thomas Preusse (Grafik), 07.05.2019

Teilen0 Beiträge

Ein Karussell? Das klingt relativ harmlos. Doch im Fall des Mehrwertsteuer­karussells ist es ein Verbrechen. Es handelt sich dabei um organisierte banden­mässige Kriminalität und Geldwäscherei. Betrugssumme: rund 50 Milliarden Euro.

So viel Geld geht schätzungsweise den Ländern der Europäischen Union durch Mehrwertsteuer­karusselle jedes Jahr verloren. Dies entspricht rund einem Drittel des jährlichen EU-Budgets; im Jahr 2017 betrug dieses 157,9 Milliarden Euro.

Es geht um Schein­firmen, Schein­geschäfte, undurchsichtige Handelskreise – und um viel Geld. Dieses fliesst unter anderem in den luxuriösen Lebensstil von Draht­ziehern und Investoren des Betrugs – und mutmasslich auch in die Finanzierung von Terror.

Und die Schweiz ist involviert. Doch dazu kommen wir später. Erst lautet die Frage:

Was ist eigentlich ein Mehrwertsteuerkarussell?

Um diese Frage zu klären, schauen wir uns zuerst die Grundlagen an.

Was ist die Mehrwertsteuer?

Die Mehrwertsteuer wird in Deutschland auch Umsatz­steuer genannt. Sie ist eine Konsumsteuer – das heisst, sie wird letztlich nur von der privaten Endabnehmerin eines Produktes bezahlt, also der Konsumentin.

Es handelt sich um einen Beitrag an das Gemeinwohl: Für Staaten ist die Mehrwert­steuer eine erhebliche Einnahme­quelle. In der Schweiz beträgt der Normalsatz 7,7 Prozent, in der EU variiert er je nach Land zwischen 17 und 27 Prozent.

Wichtig sind die folgenden zwei Punkte:

1. Beim Verkauf einer Ware über eine EU-Binnen­grenze hinweg fällt gemäss EU-Richtlinie keine Mehrwertsteuer an.

2. Allfällige Zwischen­händler innerhalb eines EU-Landes können die bezahlte Mehrwert­steuer vom Staat zurückfordern.

Wie funktioniert das Karussell?

Nehmen wir ein konkretes Beispiel: 2005 flog ein europaweites Karussell mit BMWs auf. Eine Firma in Luxemburg (Firma A) kaufte Luxusautos und verkaufte sie über die Grenze an eine Strohfirma in Deutschland (Firma B), diese verkaufte die Wagen ebenso weiter (an Händler C). Die deutsche Strohfirma musste gemäss Gesetz dem Verkäufer keine Mehrwert­steuer zahlen.

Nun geschah der Kern des Betrugs: Auf der Rechnung an den Käufer wies die Strohfirma (Firma B) die Steuer zwar aus, zahlte sie aber nie ans Finanzamt ein, wie sie das hätte machen müssen. So sackte sie pro Karosse rund 7500 Euro ein – bei 800 gehandelten Autos.

Die BMWs wurden weitergeschickt (an Händler D) und irgendwann wieder steuerfrei über die EU-Binnen­grenze verkauft (Firma A). Händler D konnte sich abermals die Steuer vom Finanzamt zurückholen. Nun begann das Karussell von vorne. Den satten Gewinn aus dem betrügerischen Geschäft teilte sich die Bande auf.

Wenn wir ein solches Karussell der Einfachheit halber einmal mit einer fiktiven Mehrwert­steuer von 100 Euro durchspielen, sieht das Ganze so aus:

Die Grösse, die Güter und die Komplexität verschiedener solcher betrügerischer Karusselle mögen sich ändern. Gemeinsam ist ihnen: Es braucht auf der einen Seite ein grosses Startkapital, eine Handvoll verschworener Personen – und auf der anderen Seite von den Behörden zu viel Vertrauen, wenig Kontrollen und eine mangel­hafte Koordination. Die Betrugs­schemas und die Rolle der Protagonisten ähneln sich stets.

Die Protagonisten

Der Investor: Er hat Geld und will noch mehr. Dafür sucht er sich Investitions­möglichkeiten, die eine hohe Rendite versprechen. Und wendet sich an den Drahtzieher oder wird von ihm mit einem unfassbar guten Angebot kontaktiert.

Der Drahtzieher: Er organisiert ein Firmennetz, das sich über ganz Europa sowie Offshore-Orte und Steueroasen wie Dubai oder die Karibik zieht. Über diese Kreisläufe werden Waren, Dienst­leistungen und Finanz­produkte in Umlauf geschickt.

Der verschwundene Händler: Auch missing trader genannt (in unserem Beispiel Firma B). Das ist die faulste Firma von allen beteiligten. Sie gibt sich als Importeur oder Ersthändler – und jetzt wirds illegal: Diese Strohfirma weist Mehrwert­steuern auf ihren Rechnungen aus. Die erforderlichen Zahlungen ans Finanzamt tätigt sie aber nie. So kassiert sie einige Monate lang ein und löst sich dann auf. Nun ist sie der verschwundene Händler. Dieser hat oft sowieso nur auf dem Papier existiert.

Das Finanzamt: Die Behörde arbeitet – entgegen allen bürokratischen Klischees – rasch und zuverlässig. Schliesslich hat das Amt ganze Stapel von Anträgen auf dem Tisch, in denen Firmen Mehrwert­steuern zurück­fordern. Aufgrund der schieren Menge und der kurzen Bearbeitungs­frist werden die meisten eingegangenen Rechnungen nicht kontrolliert.

Die Pufferfirma: Auch buffer genannt. Das ist der erste Zwischen­händler (Firma C), der wissentlich oder unwissentlich mithilft, den Betrug des verschwundenen Händlers zu vertuschen. Er kauft diesem das Produkt ab, verkauft es mit Umsatz­steuer weiter an den zweiten Zwischen­händler und fordert die Vorsteuer zurück. Der zweite Zwischen­händler macht dasselbe. Der dritte Zwischen­händler ebenso. Manchmal sind auch diese Firmen reine Schein­firmen, manchmal werden bestehende Firmen «rekrutiert».

Der Verteiler: Auch distributor genannt. Diese Firma ist die letzte Station im Karussell (Händler D). Sie verkauft nun das Produkt entweder auf dem normalen Markt, wo sich die Spur endgültig verläuft. Oder sie schickt es wieder zum Ausgangs­punkt, was der Idealfall für das faule Netzwerk ist. Von dort aus wird das Produkt wieder in den Kreislauf gesendet, diesmal mit zig neu gegründeten missing traders. Das betrügerisch vom Finanzamt abgezapfte Geld fliesst in die Taschen der beteiligten Firmen und des Drahtziehers – und mehrheitlich natürlich in diejenige des Investors.

Die Steuerfahndung: Bis diese dem Ganzen auf die Schliche kommt, ist das Produkt schon lange wieder auf der Reise, die Spur verwischt, und die Handels­beziehungen sind vernebelt. Da auch die Puffer­firmen in diesem Dickicht auftauchen und wieder verschwinden, merken die Fahnderinnen erst viel zu spät, was abgeht.

So dreht sich das betrügerische Karussell.

Es ist ein Netzwerk aus Strohfirmen und Schein­firmen, die immer wieder aneinander verkaufen. Die Güter wechseln so oft die Hand, dass einem schwindelig werden kann. Sie amortisieren sich mehrmals von selbst – und der Staat zahlt jedes Mal unwissend in die Kasse einer Bande von Kriminellen ein.

Die Drahtzieher sind gut organisiert und clever: Sie wissen genau, wie das Steuer­system in Europa funktioniert. Zudem haben sie meist ein grosses Fachwissen im Bankenbereich.

Das Verbrechen

Europol, die Polizei­behörde der EU, bezeichnet Mehrwertsteuerkarusselle als eine «der grössten Gefahren von organisierter und internationaler Kriminalität für die EU».

Expertinnen sprechen auch von MTIC- und MTEC-Betrug:

MTIC steht für Missing Trader Intra-Community. Intra-Community bezieht sich auf den Betrug, der innerhalb der EU geschieht.

MTEC steht für Missing Trader Extra-Community. Extra-Community bezieht sich auf den Betrug über die EU-Grenzen hinaus. Also zum Beispiel, wenn die Schweiz involviert ist.

Ein Beispiel für Letzteres ist der grosse Karussell­betrug mit Mobil­telefonen, der 2006 aufgedeckt wurde. 30’000 Handys wurden am Flughafen in Frankfurt beschlagnahmt – und an der Grenze zwischen Deutschland und der Schweiz.

Die Geschichte

Was lange währt, geht lange gut. Diese Art von Wirtschafts­kriminalität gab es schon vor Jahr­zehnten: Die Anfänge liegen mutmasslich in den 1950er-Jahren; die ersten sauber dokumentierten Fälle tauchen in den 1970ern auf.

1993 war ein entscheidendes Jahr für das betrügerische System. Mit der Gründung der EU traten die vier Freiheiten des europäischen Binnenmarktes in Kraft: der freie Verkehr von Personen, Dienst­leistungen, Geld und Waren.

Das Problem

Die sogenannte Waren­verkehrsfreiheit gilt für alle Staaten. Doch die einzelnen Mitglieds­länder sind dafür verantwortlich, die Steuern einzutreiben und zu kontrollieren. Auch sind sie es, die für ihre eigenen Länder Mass­nahmen im Steuer­system einsetzen können.

Immer wieder gab es auf EU-Ebene Vorstösse, um das Problem mit einer kompletten Überarbeitung des Mehrwertsteuer­systems ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen. Doch es mangelt an Koordination. Während­dessen hinken die Fahnder in den verschiedenen Ländern den Betrügern stets hinterher.

Die Waren

Die Methoden der Karussell­betreiber bleiben seit Jahrzehnten im Grundsatz die gleichen, nur die Güter ändern sich.

Das Geschäft begann mit Goldmünzen und fokussierte unter anderem auch auf Nahrungs­mittel wie Zwiebeln und Kartoffeln, die bekanntlich lange haltbar sind und deswegen auch endlos in Europa herum­gekarrt werden konnten. Später wandten sich die Karusselle auch wertvollen Metallen, Edelsteinen, Kleidern und teuren Autos zu.

Je höher der Wert der Ware und je einfacher sie zu transportieren ist, desto lohnens­werter ist das Ganze. Als ideal gilt high value, low volume: hoher Wert, tiefes Volumen.

In den Nullerjahren verlagerte sich der Betrug zu Computer­zubehör, Mobil­telefonen und Handychips.

Mit der Digitalisierung des Handels wurde alles noch einfacher. Nun musste gar kein physisches Gut mehr vorhanden sein: Dienst­leistungen und Finanz­produkte kamen ins Spiel. Das Ziel high value, no volume war erreicht. So machten beispielsweise fiktive VoIP-Services, also Dienst­leistungen mit Internet­telefonie, die Runde durch Europa.

Die Schweiz

Der letzte richtig grosse Coup, der aufgedeckt wurde, betraf den Emissions­handel: Falsche CO2-Zertifikate, sogenannte Carbon Credits, wurden zwischen 2008 und 2010 über ein weit verzweigtes Netz in ganz Europa verstreut. Delikt­summe: geschätzte 7 Milliarden Euro.

Und Schweizer Firmen beteiligten sich fleissig daran: Uns liegen Dokumente vor, die dies belegen. Die Schweiz taucht in dem Zertifikate-Dickicht immer wieder auf.

Unsere Recherchen ergeben, dass die Schweiz im internationalen Karussell­betrug eine zentrale Rolle spielt: Als Drehscheibe für das Geld, das schrot­flintenartig via Schweizer Konten wieder in alle Richtungen verstreut wird. Oder als Ort, wo der paper trail für die EU-Behörden gestoppt wird.

Als Ort, wo das Geld durchläuft und gewaschen wird, wo die Handels­ketten zusammen­kommen und wieder auseinandergehen – und dadurch für die ausländischen Ermittler nicht mehr sichtbar sind.

Als Ort, wo Briefkasten- und Puffer­firmen installiert werden, die als Durchlauf­station die betrügerischen Karusselle unterstützen. Wie im Fall vom Schweizer «Kaufmann», der dafür auch ins Gefängnis ging.

Und als Ort, wo die verbrecherischen Banden Experten finden, die ihnen mit Kenntnissen und Kontakten zur Seite stehen. Wie der Schweizer «Banker», ein ehemaliger Mitarbeiter von Credit Suisse und anderer Finanz­institute, der bei unzähligen solcher Firmen involviert war – und einer der mutmasslichen Drahtzieher riesiger Karusselle.

Die Kooperation

Für das internationale Recherche­projekt ​#GrandTheftEurope hat sich die Republik mit 35 vom Recherche­zentrum Correctiv koordinierten Medien­partnern aus ganz Europa vernetzt. Gemeinsam hat das Netzwerk Mehrwertsteuer­karusselle durchleuchtet, einen in der Europäischen Union weit verbreiteten Steuer­betrug. Die Recherche hat zu zahlreichen Artikeln, einem Podcast und mehreren TV-Dokumentationen geführt.