Neuer linker Pragmatismus
Die Abstimmung über das neue Steuer- und Rentengesetz spaltet die politischen Lager. Besonders die Linke gerät ins Dilemma.
Von Daniel Binswanger, 27.04.2019
Die Steuerreform und die AHV-Finanzierung, über welche die Schweiz am 19. Mai abstimmen wird, ist eine komplexe Vorlage mit unzähligen Finessen, deren exakte Einschätzung ein paar hoch bezahlten Experten vorbehalten bleiben dürfte. Durch die Verknüpfung zweier an sich unverbundener Dossiers wird die Gesamtbeurteilung zusätzlich erschwert. Der «Kuhhandel», der die Legislatur retten soll, ist das Paradebeispiel einer Vorlage, die von den Institutionen der direkten Demokratie nur mit Mühe adäquat – was hiesse: mit einem Minimum an Sachkundigkeit – bewältigt werden kann.
Dass Abstimmungsvorlagen nicht ganz einfach zu vermitteln sind, kann allerdings nicht als ungewöhnlich bezeichnet werden (die Republik wird nächste Woche sowohl zum AHV- als auch zum Steuerteil der Vorlage Erklärstücke veröffentlichen, die Ihnen die Wahrnehmung Ihrer staatsbürgerlichen Pflichten trotz allem erlauben sollten). Bemerkenswert erscheint jedoch die Spaltung, die sich angesichts der Abstimmung durch alle politischen Lager zieht.
Auf der Linken lehnen die Grünen das «Bundesgesetz über die Steuerreform und die AHV-Finanzierung» ab, während die SP es befürwortet. Auf der Rechten ist die SVP zutiefst gespalten und hat Stimmfreigabe beschlossen, während die FDP dafür ist, aber einen Teil der Jungfreisinnigen gegen sich hat. In der Mitte stellt sich nicht nur die GLP mit einem Nein gegen die CVP, die zu den Trägerinnen des Kompromisses zählt. Auch das «Generationenkomitee», das nicht nur die Junge GLP, sondern auch zahlreiche Vertreter der Jungen BDP umfasst, macht gegen die Vorlage mobil. Es ist eine ungewöhnliche Situation, die primär widerspiegeln dürfte, dass sich sowohl im Steuer- als auch im AHV-Teil die verschiedenartigsten Motive finden lassen, um den grossen Kompromiss in den Wind zu schlagen.
Verantwortungs- oder Gesinnungsethik
Besonders artikuliert ist die Spannung auf der linken Seite, wo die Sozialdemokraten die Pro-, die Grünen die Kontra-Position eingenommen haben. Es ist ein klassischer Konflikt zwischen Verantwortungs- und Gesinnungsethik. Die gesamte Linke ist sich einig, dass es verwerflich ist, wenn die realen Unternehmenssteuersätze zu tief sinken und wenn internationalen Konzernen die Möglichkeit geboten wird, ihre Gewinne dorthin zu verschieben, wo sie nur sehr wenig oder gar nicht besteuert werden.
Die SP weist nun aber – durchaus berechtigterweise – darauf hin, dass die Abschaffung des Sonderstatus von ausländischen Firmen dazu führen wird, dass sie unter dem Strich etwas mehr bezahlen werden und dass die durch die Unternehmenssteuerreform II geschaffenen Schlupflöcher wenigstens in gewissem Mass verkleinert werden. Eine Gesetzesänderung, die laut SP zwar nicht sehr weit, aber in die richtige Richtung geht.
Die Grünen hingegen geben sich damit nicht zufrieden. Sie betonen erstens, dass es unter dem Strich gegenüber der heutigen Situation zu Steuerausfällen kommen wird (deren genaue Höhe von den kantonalen Umsetzungen abhängt und sich noch nicht genau abschätzen lässt, im Abstimmungsbüchlein jedoch auf 2 Milliarden beziffert wird).
Zweitens streichen sie heraus, dass mit den Patentboxen, den Abzügen für Forschung und Entwicklung, dem zwar eingeschränkten, aber weiterhin geltenden Kapitaleinlageprinzip und den ebenfalls reduzierten, aber fortgeführten Möglichkeiten zur Abschreibung von stillen Reserven zahlreiche Sonderregelungen bestehen bleiben, die von internationalen Konzernen zur Steuervermeidung genutzt werden. Alter Wein in neuen Schläuchen halt.
Ein simples moralisches Dilemma
Was hier aufbricht, ist jedoch nicht nur der Konflikt zwischen Pragmatikern und Überzeugungstätern. Es ist im Grunde der Gegensatz zwischen Internationalisten und Nationalisten.
Letztlich wirft die Steuervorlage ein simples moralisches Dilemma auf: Wenn die Schweiz weiterhin im grossen Stil das Steuersubstrat internationaler Konzerne (zum Beispiel im Rohstoffhandel) anziehen will, dann muss sie ein besonderes Dispositiv für Steuerschlupflöcher beibehalten. Die SP ist dazu bereit. Sie fürchtet, dass eine Abschaffung des steuerlichen Sonderstatus ohne Kompensationsmassnahmen den kantonalen Steuerwettbewerb noch stärker anheizen würde.
Im Grunde heisst das: Die SP möchte die internationalen Konzerne im Land behalten. Sie will nicht, dass sie nach Holland, Irland oder Luxemburg verschwinden. Sie will nicht, dass Steuersubstrat verloren geht, der Schweizer Steuerwettbewerb noch mehr angeheizt wird, die Kantone noch mehr ausgeblutet werden. Sie gibt den Steuereinnahmen im Inland den Vorrang vor dem Einsatz für internationale Steuergerechtigkeit. So weit, so realpolitisch. Allerdings ist es für die SP ein bemerkenswerter Wandel.
Gerade in Fragen der internationalen Steuergerechtigkeit haben die Sozialdemokraten bisher stets gesinnungsethisch und nicht pragmatisch argumentiert, insbesondere im Fall des Bankgeheimnisses. In den jahrzehntelangen Disputen um das Schweizer Bankgeheimnis, die innenpolitisch 1984 in der Initiative «Gegen den Missbrauch des Bankgeheimnisses und der Bankenmacht» kulminierten und schliesslich nur beigelegt werden konnten, weil äussere Mächte den internationalen Informationsaustausch durchgesetzt hatten, räumte die SP ohne Abstriche dem Prinzip der internationalen Steuergerechtigkeit die oberste Priorität ein.
Verschobene Prioritäten
Auch hier konnte man – jedenfalls bevor der automatische Informationsaustausch 2014 zum verbindlichen Standard erhoben wurde – immer geltend machen, dass es nichts bringt, wenn die Schweiz das steuerliche Bankgeheimnis abschafft, weil das entsprechende Schwarzgeld dann einfach in andere Steuerparadiese wie Luxemburg oder die Kanalinseln abfliessen würde – die bürgerliche Seite machte von diesem Argument sehr reichlichen Gebrauch. Auch hier wurde von den Befürwortern des Bankgeheimnisses ins Feld geführt, dass ein Alleingang der Schweiz sinnlos wäre und dass nur internationale Koordination, die überall dieselben Bedingungen schafft, zu einer echten Verbesserung führen kann. Heute jedoch ist es die SP, die darauf insistiert, dass eine einseitige Abschaffung aller Steuerprivilegien von internationalen Konzernen keinen Sinn ergibt und dass die Schweiz deshalb nicht über die OECD-Standards hinausgehen soll. Die Prioritäten haben sich verschoben.
Nicht nur unversteuertes Privatvermögen, auch die immer effizienteren Steuervermeidungsstrategien von internationalen Konzernen bilden anerkanntermassen ein gigantisches Problem. Eine letztes Jahr von Gabriel Zucman publizierte Studie beziffert die weltweit in Niedrigsteuerparadiese verschobenen Konzerngewinne auf 600 Milliarden Dollar. Die Schweiz ist nicht das einzige Land, das sich auf parasitäre Gewinnsteuerabschöpfung verlegt hat – aber wir mischen mit in der vordersten Reihe.
Man mag den neuen Steuerpragmatismus der SP begrüssen oder nicht – und ja, es gibt mit der AHV-Finanzierung ein Gegengeschäft. Es ist auch nicht auszuschliessen, dass sich der internationale Kontext ohnehin verändern wird und dass etwa im Rahmen der OECD die Steuerprivilegien der internationalen Konzerne in den nächsten Jahren weiter abgebaut werden – auch wenn die Schweiz nicht mit gutem Beispiel vorangeht. Aber darüber, dass mit den Grünen eine starke linke Kraft die Gegenposition einnimmt, sollte man sich wirklich nicht wundern.
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