In Führerpose: Italiens Innenminister Matteo Salvini schaut auf seine Anhänger (Rom, Dezember 2018). Lorenzo Moscia/Archivolatino/Laif

Hater an der Macht

Italiens Populisten nutzen die sozialen Netzwerke wie niemand sonst in Europa – und laden damit das gesellschaftliche Klima auf. Bei den EU-Wahlen am 26. Mai droht im Land ein drastischer Rechtsruck.

Von Birgit Schönau, 27.04.2019

Wir wollen ein Europa der Völker anstatt der Bürokraten, Bankiers, Gutmenschen und Bootsschlepper.

Migrant, vorbestraft, betrunken, bedroht Passanten in Mailand. Einzige Lösung: Kerker und AUSSCHAFFUNG für diesen Verbrecher!

Das Ziel: NULL Roma-Camps. Ich bin es LEID, das Geld der Italiener für Leute zu verschwenden, die sich nicht benehmen können.

Der Account, von dem solche Tweets im Zweistunden­takt abgeschickt werden, gehört Matteo Salvini, 46, seit dem 1. Juni 2018 Italiens Innen­minister und einer der beiden Stellvertreter von Minister­präsident Giuseppe Conte. Vor allem ist er «Leader» (Selbst­bezeichnung) der Lega, die sich unter seiner Führung zu einer offen rechtsnationalen und europa­feindlichen Partei entwickelt hat. Und zur derzeit stärksten politischen Kraft im Land. Salvini hat Regional­wahlen in den Abruzzen, auf Sardinien und in der Basilikata gewonnen, er wird, gemäss Umfragen, auch die Europa­wahlen gewinnen. Gerade liegt er bei 34 Prozent.

Nicht ganz so viel hatte bei den Parlaments­wahlen am 4. März 2018 die 5-Stern-Bewegung geholt, Salvinis Koalitions­partner in der Regierung. Luigi Di Maio, 32, ihr «politischer Kopf» (Selbstbezeichnung), ist Minister für Wirtschafts­entwicklung sowie Arbeits- und Sozialpolitik und der andere Stellvertreter des Premiers. Die beiden Vize­regierungschefs diktieren dem parteilosen, aber den Fünf Sternen zugeneigten Conte die Agenda, er hat nichts weiter zu sein als ihr ausführendes Organ. Der operative Arm zweier Populisten­führer, die die Macht zusammen­schweisst und ihr Hass auf alle, die diese Macht bedrohen könnten. Salvini und Di Maio haben ihre Leute längst überall untergebracht. Von der Renten­versicherungs­anstalt über den Staats­rundfunk RAI bis zur Weltraum­agentur: Ihre Parteigänger sind die Chefs.

Italiens Regierung ist aus dem Motto «Leckt uns am Arsch» entstanden.

Unter diesem Schlachtruf rekrutierte vor zwölf Jahren der Entertainer Beppe Grillo Wutbürger über seinen Blog und versammelte sie anschliessend auf den Plätzen zu einem «Vaffanculo-Day», dem Arschleck-Tag (die wörtliche Übersetzung wäre noch etwas deftiger). Der Slogan richtete sich gegen die herrschende Politiker-«Kaste» in Italien, die Menschen waren stocksauer, hielten ihre Wut aber halbwegs im Zaum. Grillo versprach damals seinem Publikum, das Parlament in Rom zu öffnen wie eine Thunfisch­dose und den grauen Bürokraten in Brüssel mal zu zeigen, wie bunt das echte Leben ist.

Wer rebelliert, muss gehen – und zahlen

Aus Blog und Happening entstand die 5-Stern-Bewegung, gegründet 2009 von Grillo und dem Mailänder Internet­unternehmer Gianroberto Casaleggio. De facto eine Firmen­partei, deren Marken­rechte Grillo hielt, bis er sie Anfang 2018 an die «Rousseau-Vereinigung» abgab. Vorsitzender ist Casaleggios Sohn und Erbe Davide. Er betreibt die Internet­plattform «Rousseau», über die Abstimmungen der Basis laufen, und diktiert nach Grillos Rückzug gemeinsam mit Di Maio die Richtlinien der Partei.

Wer sich ihnen widersetzt, muss gehen. Aufmüpfige Parlamentarier werden ausgeschlossen, vorher sollen sie aber noch 150’000 Euro zahlen. So steht es in einem Privatvertrag, den alle Abgeordneten mit Casaleggio abschliessen mussten, nachdem es in der letzten Legislatur­periode eine veritable Massen­flucht aus der immer autoritärer geführten Partei gegeben hatte.

Heute findet man nicht mehr viele Rebellen bei den Fünf Sternen. Im Europa­parlament haben sie sich mit rechten Populisten verbündet, in einer Gruppe mit dem Brexit-Motor Ukip und der deutschen AfD. Das «Vaffanculo» ist dennoch leiser geworden, und vom Ausstieg aus dem Euro wie in den Gründer­jahren redet mittlerweile niemand mehr. Die Fünf Sterne werden längst von ihrem Koalitions­partner an Radikalität übertroffen. Die Lega schreit lauter, und wer lauter schreit, wird besser gehört. Das verschobene Kräfteverhältnis deutet auf einen drastischen Rechtsruck, bei dem das vaffanculo der Marsch­ordnung prima gli italiani gewichen ist: zuerst die Italiener.

Matteo Salvini, Studien­abbrecher, ehemaliger Journalist beim parteieigenen Propaganda­sender Radio Padania Libera, ist der neue starke Mann Italiens. Täglich scheint er stärker zu werden. Und das, obwohl die Jugend­arbeitslosigkeit im Süden bei über 50 Prozent liegt; obwohl Italien einen beispiellosen brain drain mit der Massen­emigration von Akademikern erlebt; obwohl die Zurück­gebliebenen nicht mehr verdienen als schon vor zwanzig Jahren und das Land sich neuerdings wieder in der Rezession befindet.

Obwohl ... oder gerade deshalb.

Auf Twitter hat Salvini eine Million Follower, doppelt so viele wie Di Maio, die im Schnitt alle zwei Stunden mit einem neuen Tweet des Ministers bedient werden. Parallel laufen diese Posts auch auf Facebook. Eine ganze Fussball­mannschaft junger Männer, genau elf an der Zahl, betreut die Auftritte und Absonderungen des Führers im Netz. Die Mannschaft nennt sich la bestia, das Tier, entsprechend animalisch geriert sie sich. Es geht darum, die niederen Instinkte des Publikums anzusprechen, den Bauch der Leute aufzuwühlen. Als Garnitur gibt es dazu Katzen­videos oder Fotos von den Lieblings­gerichten des Ministers und von Gefühls­ausbrüchen bei Spielen seines Herzensklubs AC Milan.

«Italien zuerst»: Matteo Salvini beim Selfie mit Fans (August 2018 in Capriata d’Orba). Max Hirzel/Rea/Laif

Vor allem aber betreibt la bestia professionelle Hetze. Gegen Flüchtlinge und Ausländer, gegen alle Kritiker und gegen die Europäische Union. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron wird von Salvini als «sehr schlechter Präsident» abqualifiziert, «auserwählt von George Soros, Bankiers und Finanz­männern». Über EU-Kommissions­präsident Jean-Claude Juncker verbreitete er, dieser liebe den caffè corretto, einen Espresso mit einem Schuss Grappa. «Ich selbst rede nur mit nüchternen Gesprächspartnern.»

Und die Mafia?

Zu Hause in Italien nimmt der Innenminister hartnäckig den Schriftsteller Roberto Saviano aufs Korn, einen seiner schärfsten und einflussreichsten Kritiker. Für Salvini ist der weltberühmte Autor, der wegen Morddrohungen der neapolitanischen Mafia-Organisation Camorra seit Jahren in Polizei­kasernen untertauchen muss, nur ein «Schwätzer». Mehrfach hat der Minister dem Schriftsteller über das Internet damit gedroht, ihm den Polizeischutz zu entziehen. Ausserdem verklagte er ihn, diesmal in der realen Welt, wegen Verleumdung – Saviano hatte ihn ministro della malavita genannt, was beides bedeuten kann, «schlechtes Leben» und «Mafia».

Es ist absurd: In einem Gründungsstaat der Europäischen Union muss ein Literat im Untergrund leben, weil ihm sein Land anders keinen Schutz garantieren kann. Und ausgerechnet der Polizei­minister, zu dessen Aufgaben die Bekämpfung des organisierten Verbrechens gehört, will Saviano auch noch diesen Schutz entziehen – nur weil der Schriftsteller ihn kritisiert. Eklatanter lässt sich die Verachtung für die Demokratie kaum manifestieren.

Matteo Salvini ist nur auf den ersten Blick ein Epigone von Donald Trump. Der Italiener ist weitaus aggressiver und vulgärer als der US-Präsident, weil ihn ausserhalb von Italien kaum jemand für voll nimmt.

Dabei müsste der Vormarsch der Ultra­rechten in einem EU-Gründungs­land die europäischen Partner in höchste Alarmbereitschaft versetzen. Noch 2014 war der sozialdemokratische Partito Democratico mit knapp 41 Prozent stärkste politische Kraft bei der Europawahl gewesen. Jetzt werden, wie schon bei den Parlaments­wahlen im vergangenen Jahr, aller Voraussicht nach zwei Drittel der Italiener erneut europa­feindliche Populisten wählen, die meisten von ihnen diesmal die offen rechtsextreme Lega. Das sind Verhältnisse, wie es sie etwa in Frankreich nie gegeben hat, wo Salvinis Verbündete Marine Le Pen stets in der Opposition bleiben musste und wo sich zuletzt Emmanuel Macron mit einem klar europa­freundlichen Programm durchsetzen konnte – wenn auch knapp.

Europäische Allianz der Anti-Europäer

Nahezu unbeachtet von einer europäischen Öffentlichkeit, die mit der Brexit-Soap-Opera, den französischen Gelbwesten und dem Demokratie­abbau in Ungarn beschäftigt ist, entwickelt sich in Italien gerade ein Digital­faschismus, dessen Ansteckungs­potenzial eigentlich offensichtlich sein müsste.

Gerade arbeitet Salvini daran, die europäische Rechte zusammen­zuschmieden – unter seiner Führung. Im März präsentierte er sich als Gastgeber eines internationalen «Familien­kongresses» der Frauenfeinde und Abtreibungs­gegner in Verona. Anfang April scharte er in Mailand die Rechts­ausleger aus Deutschland (AfD), Finnland und Dänemark um sich. Marine Le Pen und Österreichs Vizekanzler Heinz-Christian Strache folgten der Einladung zwar nicht – offensichtlich ist ihnen Salvinis Ehrgeiz nicht ganz geheuer. In Strassburg wird man trotzdem gemeinsam eine Fraktion bilden. Und wer glaubt, die rechte Internationale sei ein Widerspruch in sich, weil man sich etwa über die Flüchtlings­politik alsbald zerstreiten würde, der dürfte eines Besseren belehrt werden. Es geht ja nicht um die Aufteilung der Flüchtlinge, sondern darum, niemanden mehr hereinzulassen.

Die «Festung Europa» schweisst die Rechten zusammen, wie die Diskussion darüber die Linke zersetzt. Am schwersten aber wiegt das gemeinsame Interesse, die Führung der EU und damit Macht und Pfründen zu erobern. Längst reden Salvini und die anderen nicht mehr davon, den Euro abzuschaffen. Warum auch. Sie wollen Europa nicht loswerden, sondern erobern. Noch wagt es in Frankreich und Deutschland niemand, den Rechtsstaat und das Parlament derart dreist zu verachten wie Salvini. In Italien jedenfalls fährt er damit glänzend. Und wer immer ihn kritisiert oder auch nur in die Schranken zu weisen sucht – wie zuletzt ein paar unerschrockene Staatsanwälte –, auf den lässt er la bestia los.

Wut, Hass, Neid, das sind die Ingredienzien, die der Lega-Führer zu einem Giftcocktail vermengt, den er einer wachsenden Anhänger­gemeinde verabreicht. Aus vaffanculo macht er me ne frego, «ist mir doch scheissegal». Gemeint sind Anstand, Respekt, Toleranz. Erfunden hat diesen Slogan einst der Analog­faschist Benito Mussolini.

Und genau zwischen diesen beiden Polen, zwischen Trump und Mussolini, ist Salvini anzusiedeln.

Zu seinen politischen Freunden zählen Brasiliens Jair Bolsonaro und Ungarns Viktor Orbán, seine Bewunderung gilt Wladimir Putin. Dreist hat der Innenminister, der keine einzige Fremd­sprache spricht, auch die Aussen­politik für sich besetzt. Di Maio tut es ihm gleich. Der «spontane» Unterstützungs­besuch des 5-Stern-Vizepremiers bei den Führern der Gelbwesten in Paris sorgte dafür, dass Frankreich erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg kurzzeitig seinen Botschafter aus Rom abberief. Von Aussen­minister Enzo Moavero Milanesi hat man seit seinem Amtsantritt nichts gehört, er dient nur als Feigenblatt. Minister­präsident Conte, der sich immerhin von altgedienten Diplomaten beraten lässt, obliegt es jeweils, die Krisen mit den Partner­ländern irgendwie zu lösen.

Matteo Salvini hat die Lega, die einst als Separatisten­verein für die Ablösung des reichen Nordens vom «räuberischen Rom» und vom armen Süden der «Erdfresser» gegründet wurde, in eine Nationalisten­partei verwandelt, die ganz auf ihn als einzigen Führer zugeschnitten ist. Den Zusatz «Nord» hat Salvini aus dem Parteinamen gestrichen, er lässt sich in Polizei­jacken fotografieren statt im grünen Hemd der Gründungsmannschaft.

Versöhnt mit dem «fascismo»

Das neue Blau des Matteo Salvini ist indes eine optische Täuschung. Sein politisches Herz ist so schwarz wie das seiner Verbündeten, der Neofaschisten von Casa Pound und Forza Nuova und der selbst ernannten Postfaschisten von Fratelli d’Italia (Brüder Italiens). Anstatt sich vom Faschismus zu distanzieren, lobt Salvini lieber die «guten Werke» des alten Duce wie die Einführung der Rentenkasse und die Trocken­legung der Pontinischen Sümpfe. Den Antifaschismus bezeichnet er derweil als «Instrument zur Ablenkung der Massen».

Damit stösst er auf erstaunlich breite Zustimmung. Viele Italiener scheinen nur darauf gewartet zu haben, dass ein Politiker lauthals behauptet, der Faschismus sei eigentlich ganz okay gewesen.

Gebanntes Lauschen: Während einer Rede von Salvini in Capriata d’Orba (August 2018). Max Hirzel/Rea/Laif

Die Tabuisierung der historischen Mitverantwortung hat Tradition in einem Land, das sich zu Recht auf seine antifaschistische resistenza berufen kann, aber hinter dem Mythos der Befreiung des Vaterlands gegen die deutschen Besatzer die riesige Unterstützung für den eigenen Duce allzu beflissen unter den Teppich kehrt. Anders ist es kaum zu erklären, dass man noch immer Mussolini-Kalender an den Zeitungs­kiosken kaufen kann und eine Enkelin des Diktators, die stramm rechte Europa­abgeordnete Alessandra Mussolini, sich im Staats­rundfunk empören darf, wenn es wieder einmal jemand gewagt hat, das Andenken ihres «Opas» zu beleidigen. Ganz so, als seien Faschismus, Weltkrieg und Juden­verfolgung eine Familienangelegenheit.

Als die sozialdemokratische Vorgänger­regierung 2017 ein Gesetz zur Strafverfolgung von faschistischer Propaganda (gemeint waren damit auch die Duce-Kalender) einbrachte, wurde es von einer grossen Koalition der Rechten mit den Fünf Sternen abgeschmettert – als Versuch der Beschränkung der Meinungsfreiheit. Jetzt kritisierte Di Maio immerhin seinen Kollegen Salvini, weil der sich mit Holocaust-Leugnern verbündet. «Luigi soll arbeiten, anstatt Streit zu suchen», gab der Lega-Führer zurück.

Salvini positioniert sich derart ungeniert in der neofaschistischen Ecke, weil er es sich leisten kann. Widerstand schlägt ihm nur aus dem sozial­demokratischen Partito Democratico und einigen Zeitungen entgegen. In Radio und Fernsehen sorgen regierungstreue Chef­redaktoren dafür, dass kaum ein Journalist noch kritisch nachhakt. Als in Italien am vergangenen Donnerstag der Tag der Befreiung von Faschismus und National­sozialismus zur Erinnerung an den 25. April 1945 begangen wurde, blieb Salvini den Gedenk­feiern demonstrativ fern.

Der Faschismus gehört in Italien noch immer dazu, weil ihn keiner endgültig auf den Abfall­haufen der Geschichte befördert hat. Gerade tanzt er in seinem neuen Kleid als Digital­faschismus in einen zweiten Frühling hinein. Was Benito Mussolini, der seine journalistische Karriere in der sozialistischen Emigranten­presse von Lugano begann, als faschistischem Diktator mit Zeitungen und dem Radio gelang und der Medienzar Silvio Berlusconi in den 1990er-Jahren mit seinen Fernseh­sendern betrieb, das schafft Salvini nun per Internet: Wähler­stimmen generieren, Konsens schaffen, Kritiker ausgrenzen.

Das Perfide daran: Die Möglichkeit, einen Kommentar abzusondern, gibt auch Salvinis politischen Gegnern das Gefühl, sich einmischen zu können. Tatsächlich sind nicht wenige Reaktionen auf den Account des Ministers sehr kritisch. Aber es handelt sich um eine bloss suggerierte Partizipation. Die Kritik geht unter in den entfesselten Statements seiner Anhänger, von denen sich viele mit ihrem Klarnamen äussern. Salvinis Staff kommentiert oder zensiert keine der sexistischen oder rassistischen Äusserungen zu den Minister-Tweets. So bietet der Social-Media-Auftritt des Polizei­ministers eine legitimierte Plattform für demokratie­feindliche Hasstiraden.

Im Netz und auf der Piazza

Nützlich für Salvini, der sich im permanenten Wahlkampf­modus befindet. Tagsüber twittern, abends auf die Piazza oder ins Fernsehen, das ist sein Konzept. Immer präsent sein in der virtuellen Welt und zwischendurch auch mal ganz analog, buchstäblich zum Anfassen. Dem Volk zeigen, dass er einer von ihnen ist, stets bereit zu einem Selfie, einem Autogramm, einem Schulterklopfen.

Salvini führt sich als Volkstribun auf, der die Interessen der Plebejer gegen die Patrizier vertritt, das Anliegen der kleinen Leute gegen eine gefrässige «Kaste» von linken Intellektuellen, die jede Boden­haftung verloren haben und nur deshalb Toleranz für Ausländer und die Idee eines vereinten Europa predigen, weil sie selbst davon profitieren. Wer Flüchtlinge ins Land lassen will, der ist nur scharf auf die Millionen, die der Staat für deren Unterbringung zahlt. Wer die Europäische Union stärken will, der arbeitet im Dienst von Italiens Unterdrückern.

Seit Salvini Innenminister ist, hat er immer wieder Schiffen von Flüchtlings­hilfe-Organisationen, die Menschen aus Seenot gerettet hatten, das Andocken in italienischen Häfen verwehrt, obwohl dies gar nicht in seinen Zuständigkeits­bereich fiel.

Weil die Passagiere, unter ihnen auch Kranke und Minderjährige, tagelang unter unzumutbaren hygienischen Verhältnissen auf den Schiffen ausharren mussten, leiteten mehrere Staats­anwaltschaften gegen den Innen­minister Verfahren wegen Freiheits­beraubung ein. Ein Antrag zur Prozess­eröffnung wurde vom Parlament mit Hinweis auf Salvinis Immunität abgelehnt. Der Lega-Führer selbst hatte seine Koalitions­partner aufgefordert, ihn vor der Justiz zu schützen. Schliesslich habe er nur «Landes­verteidigung» betrieben und damit im Interesse der Italiener gehandelt. Zu den Programmen «geschlossene Häfen» und «zuerst die Italiener» gehören die Schliessung von Notaufnahme­lagern und die Streichung der humanitären Duldung von Asylsuchenden. Die Folge dieser Politik ist, dass Tausende von Migranten in den Zustand von Illegalität und Obdachlosigkeit befördert wurden.

«Schluss mit der Gemütlichkeit»

Salvinis Botschaft: Wer aus armen Ländern nach Italien fliehen will, besitzt überhaupt keine Rechte, auch nicht das auf Menschen­würde. Fliehenden, die oft der Verfolgung in ihren Heimat­ländern entkommen sind, um dann in libyschen Lagern Folter und Vergewaltigung zu erleiden, hält er den Slogan entgegen: «Schluss mit der Gemütlichkeit».

Er rühmt sich, dass die Zahl der Boots­flüchtlinge gegenüber dem Vorjahr um 94 Prozent gesunken sei – allerdings hatte die sozial­demokratische Vorgänger­regierung durch ein Abkommen mit Libyen dafür gesorgt, dass bereits 2018 kaum noch Schiffe über die Strasse von Sizilien kommen konnten. Statt Flüchtlings­politik betreibt Salvini pure Abschottungs­propaganda, begleitet von systematischer Hetze gegen Ausländer. Jeder Gesetzes­verstoss afrikanischer Migranten wird über seinen Twitter-Account zum Skandal aufgeblasen. Jedes Flüchtlingsboot ist ein «Piratenschiff». Jeder Kriminelle soll «im Gefängnis verrotten». Salvini benutzt sogar das italienische Wort für Galeere, jenes Ruderschiff, das in der Vergangenheit von Sklaven betrieben wurde. Strafverdächtige Ausländer sind für ihn keine Menschen, sondern vermi, «Würmer».

Die politische Bilanz des Lega-Führers steht im harten Kontrast zu seinen Ankündigungen. Aus dem Wahlversprechen, das Renten­antrittsalter zu senken, wurde ein Gesetz zur Erleichterung der vorgezogenen Rente in Ausnahme­fällen. Die sogenannte Flat Tax von 20 Prozent für alle Einkommen wurde noch nicht einmal angegangen. Salvinis markiger Schwur, 600’000 illegale Einwanderer ausser Landes zu bringen, wurde bis dato nicht ansatzweise erfüllt. Sein Vorschlag, die vor einem halben Jahrhundert geschlossenen Bordelle wieder zu legalisieren, wird vom Koalitions­partner abgelehnt. Nur das verschärfte Notwehr­gesetz brachte die Lega durch. Italiener, die einen Einbrecher erschiessen, sollen jetzt nicht mal mehr vor Gericht gestellt werden dürfen. Experten kritisieren diese neue Norm als verfassungswidrig.

Woraus nährt sich angesichts derartig dürftiger Resultate der Erfolg des Matteo Salvini? Ganz einfach: aus der Realitäts­unlust seiner Anhänger und der Schwäche seiner Konkurrenz. Der Partito Democratico erholt sich nach dem Wahldebakel vor einem Jahr nur langsam und krabbelt in den Umfragen bei knapp über 20 Prozent. Und die Fünf Sterne befinden sich im freien Fall.

Mit Bedacht hat der Lega-Mann seinen Koalitions­partnern von der 5-Stern-Bewegung jene Problem­felder überlassen, die das Alltagsleben der Italiener erschweren, die aber erwiesener­massen für Politiker nur schwer zu lösen sind. Allen voran Arbeit und Soziales. Die Fünf Sterne bestritten ihren Wahlkampf mit einem zentralen Versprechen: dem sogenannten Bürger­einkommen. Im Süden, wo die Arbeits­losigkeit traditionell hoch und die Einkommen niedrig sind, wurden sie damit bei den Parlaments­wahlen am 4. März 2018 stärkste politische Kraft.

Doch das Bürger­einkommen entpuppte sich bald als Arbeitslosen­geld, das die Empfänger nur über Ämter beziehen können, die erst noch eingerichtet werden müssen. Aus dem erwarteten Wahlgeschenk wurde eine zähe bürokratische Angelegenheit, überdies soll die Unterstützung nur mit sehr vielen Einschränkungen gewährt werden. Die vollmundige Ankündigung «Wir haben die Armut abgeschafft» hat sich schon als Bumerang für die Fünf Sterne erwiesen.

Nicht nur in der Sozialpolitik, auch in den neuralgischen Punkten Wirtschaft und Finanzen sowie Infrastruktur stehen die Fünf Sterne als inkompetente Aufschneider da. Investitionen werden abgeblockt, Steuergelder gleichzeitig zum Fenster hinausgeworfen. Die Folge: Während die Staats­verschuldung rasant weiterwächst, schrumpft die Wirtschaft. Italiens Regierung ignoriert die Hiobs­botschaften. Ihre Botschaft zur Europawahl lautet: Schluss mit der Gängelei aus Brüssel, Schluss mit dem Sparkurs. Wir wollen unser Geld endlich für uns ausgeben.

Als die OECD Anfang April darauf hinwies, dass die Populisten ihrem Volk allmonatlich 6 Milliarden Euro neue Staats­schulden bescherten und mit ihren Massnahmen jedes Wachstum bremsten, da sagte Matteo Salvini: «Wie viele richtige Prognosen haben diese Super­experten eigentlich jemals erstellt?»

Dafür gab es auf Twitter 4500 und auf Facebook 11’337 Likes.

Zur Autorin

Birgit Schönau hat ihr Geschichts­studium mit einer Arbeit über «Mussolini als sozialistischer Journalist» abgeschlossen. Sie war langjährige Italien-Korrespondentin der «Zeit» und schreibt seit 1998 auch für die «Süddeutsche Zeitung». Mehrere Buch­veröffentlichungen über Italiens Geschichte, Politik und Fussball, zuletzt eine «Gebrauchsanweisung für Rom» und «La Fidanzata», ein Buch über Juventus, Turin und Italien. Sie lebt in Rom und Umbrien.