Binswanger

Abgefackelt

Der Brand von Notre-Dame trifft Frankreich an den Wurzeln seiner Identität – auch wenn man das seltsam finden mag.

Von Daniel Binswanger, 20.04.2019

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Die erste SMS erreichte mich um 19.30 Uhr. Und dann hörte es den ganzen Abend nicht mehr auf. Eine alte Freundin, von der ich lange nichts gehört hatte, rief gegen 21 Uhr an: «C’est horrible», sagte sie, in Tränen aufgelöst. Das Feuer sei bis ins 19. Arrondissement zu sehen, die Strasse sei voller Menschen, die sich aufmachten Richtung Notre-Dame.

Das letzte Mal haben mich so heftige Wellen eines kollektiven Schocks erreicht in der Pariser Terrornacht vom November 2015. Natürlich ist es nicht wirklich vergleichbar: Es gab nicht dasselbe Gefühl der Todesdrohung, der Panik, des Hasses. Es gab nicht das Entsetzen über die nackte Gewalt. Aber die Erschütterung ging tief. Es dürfte einmalig sein, dass eine Katastrophe, die keine Todesopfer fordert, sondern nur materiellen Schaden verursacht, eine so gewaltige symbolische Bedeutung annimmt, eine Weltstadt, ja ein ganzes Land in Verzweiflung stürzt. Und am seltsamsten erscheint mir bei der Sache: Ich selber war völlig aufgewühlt.

Es mag ja daran liegen, dass ich so etwas wie eine Geschichte habe mit Notre-Dame oder genauer: mit dem Vierungsturm. Jedenfalls wohnte ich lange Jahre ganz in der Nähe der Kathedrale, erst in der Rue de Bièvre, die auf der Höhe von Notre-Dame in die Seine-Quais mündet, dann an der gleich anschliessenden Place Maubert. Notre-Dame ist das Zentrum, das Herz, buchstäblich die geometrische Mitte der Stadt Paris, und gleichzeitig ist es ein meist menschenleerer, verwunschener, vollkommen magischer Ort – vielleicht mein bevorzugter Fleck auf diesem Erdenrund.

Allerdings gilt das nur von der Rückseite der Kirche. Die Esplanade – stets voller Touristenmassen, Strassenmusiker und was es sonst noch an Plagen gibt auf öffentlichen Plätzen – vermied ich, wenn immer es ging. Aber die Rückseite von Notre-Dame, gegen die schmale Westspitze der Ile de la Cité und die Gedenkstätte für die Opfer der Deportation, ist ruhig, kaum befahren, steht offen im Fluss. Mein Stammcafé war lange Jahre das «Flore en l’Ile», gleich gegenüber auf der mit einer Fussgängerbrücke verbundenen Ile Saint-Louis, wo man – vom richtigen Fensterplatz aus – die Sicht hat auf den Park der Kathedrale, auf das Chorgemäuer und die spinnenbeinartigen äusseren Stützstreben, die dem Gebäude seinen Stand zu geben scheinen. Aus diesem Blickwinkel sieht Notre-Dame aus wie ein gigantisches, urtümliches Insekt, gelandet mitten in der städtischen Kulisse. Der aufragende Stachel seines Vierungsturms stach in den Pariser Himmel, wie zum Zeichen eines ewigen Trotzes, zeitlos, grotesk und scheinbar unzerstörbar. Dass ich eines Tages in einer Live-Übertragung am Fernsehen zusehen würde, wie dieser Vierungsturm in Minutenschnelle von den Flammen verzehrt wird, erscheint mir immer noch vollkommen irreal.

Von biografischen Anekdoten einmal abgesehen: Es kann kein Zweifel bestehen, dass Notre-Dame de Paris einen der wichtigsten französischen Lieux de mémoire, einen der wichtigsten Erinnerungsorte darstellt, so wie sie nicht zufällig der französische Historiker Pierre Nora theoretisiert und in einem Monumentalwerk zusammengetragen hat. Erinnerungsorte schaffen kollektive Identität. Und die französische Nation konstituiert sich in besonders ausgeprägtem Masse über ihre Erinnerungs­kultur und über die Monumente, die diese Kultur symbolisieren. Es mag bizarr, ein wenig hysterisch, ja beinahe albern erscheinen, aber dass Notre-Dame in einer einzigen Brandnacht in Flammen aufzugehen drohte, empfanden viele Franzosen wie einen Anschlag auf ihre eigene Identität.

Die Heftigkeit der kollektiven Reaktion ist auch ein Symptom der katholisch-republikanischen Schizophrenie, die Frankreich bis in seine letzten Fasern prägt. Wie kein anderes Land pflegt die französische Nation ihren Staatspomp, ihre Militärparaden, ihre republikanischen Rituale. Es gibt eine identitätsstiftende Tradition des aggressiven, antiklerikalen Laizismus. Zugleich aber ist die Macht und Kontinuität des Katholizismus in allen Lebens­bereichen ständig spürbar, sei es im Bildungssystem, in der Politik, in der bürgerlichen Kultur. Staat und Kirche bekriegen sich, ergänzen sich, gehören letztlich zusammen.

Gerade auch Notre-Dame symbolisiert diesen Widerspruch: Der Bildersturm und die Entweihung der Kathedrale im Jahr 1793 war einer der Höhepunkte der Revolutions­bewegung gegen den christlichen Glauben, aber schon 1804 liess sich Napoleon ebendort zum Kaiser krönen. In jüngerer Zeit haben immer wieder religiöse Zeremonien stattgefunden in Notre-Dame, die zugleich bedeutende Staatsakte waren: die Trauer­gottesdienste für Charles de Gaulle und François Mitterrand, die Messe für die Opfer der Attentate vom 13. November 2015.

Einer der ersten Politiker, die auf den Brand reagierten, war der Ex-Trotzkist und Führer der französischen Linkspartei Jean-Luc Mélenchon, der auf Twitter eine pathosgeladene, historisch kenntnisreiche Videobotschaft absetzte. In einem später nachgelieferten Text brachte der linke, erz-laizistische Nationalist seinen Affekt prägnant auf den Begriff: «Ob wir Atheisten oder Gläubige sind: Notre-Dame ist unsere gemeinsame Kathedrale.»

Auch Emmanuel Macron hat die politische Bedeutung der Katastrophe sofort erfasst und nach den ersten Meldungen über den Ausbruch des Feuers die für den Abend geplante Ansprache an die Nation ohne Zögern abgesagt. Spätabends äusserte er sich dann live vom Schauplatz des Geschehens, zu seiner Linken der Feuerwehrkommandant, zu seiner Rechten der Erzbischof. Für den Präsidenten ist die Brandkatastrophe ein Gottesgeschenk. Obwohl die gilets jaunes-Bewegung in letzter Zeit an Dynamik verlor und Macron mit der nationalen Konsultation, deren Resultate er in seiner Ansprache vorlegen wollte, wieder etwas Boden gutgemacht hat, ist der Staatschef immer noch in einer prekären Situation und geht auf einen schwierigen Europa-Wahlkampf zu. Verschiedene Beobachter sagen schon seit längerem, die einzige echte Chance Macrons, politisch wieder aus der Defensive zu kommen, sei ein terroristischer Anschlag. Nun könnte ihm der Brand von Notre-Dame denselben Dienst erweisen.

Dass nun die Stunde des nationalen Zusammenhalts geschlagen hat, beweisen auch die französischen Milliardäre – die Arnaults, Pinaults, Bettencourts –, die darum zu rivalisieren scheinen, wer den höheren, mindestens dreistelligen Millionenbetrag für den Wiederaufbau auf den Tisch legen kann. Hier nimmt der beeindruckende kollektive Elan schon beinahe obszöne Züge an. Warum ist für einen ausgebrannten Dachstock keine Summe gross genug – und für so vieles andere nicht ein Cent vorhanden? In den sozialen Netzwerken ging folgender Tweet viral: «Victor Hugo bedankt sich bei allen grosszügigen Spendern, die bereit sind, Notre-Dame zu retten, und schlägt ihnen vor, dasselbe mit den ‹Misérables› zu tun.»

Der Schock sitzt tief, zu seiner Überwindung werden gigantische Mittel mobilisiert, aber die Politik, die Normalität, der Alltag sind zurück. Ein Bekannter, der ein grosser proustien ist, schickte mir in der Brandnacht kommentarlos ein Zitat des Schriftstellers:

«All dies liess die Kirche für mich etwas anderes sein als der Rest der Stadt: ein Bau, der, wenn man so will, einen Raum mit vier Dimensionen einnimmt – die vierte ist diejenige der Zeit –, der durch die Jahrhunderte sein Kirchenschiff entfaltet, das von Säulenbogen zu Säulenbogen, von Kapelle zu Kapelle, nicht nur ein paar Meter, sondern aufeinanderfolgende Zeitalter zu gewinnen scheint, aus denen es siegreich hervorgeht.»

Jetzt ist das Kirchenschiff beinahe untergegangen. Ist die Zeit verloren?

Illustration: Alex Solman

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