Finita la commedia!
Lucia Calamaro im LAC
Ihr Theater ist von federleichter Wucht. In ihrem jüngsten Stück folgt die Dramatikerin und Regisseurin Lucia Calamaro einem Misanthropen ins selbst gewählte Exil. Eine Reise durch Licht und Schatten der Seele.
Von Barbara Villiger Heilig, 10.04.2019
Wo sind wir, wenn wir allein sind? Irgendwo, nirgendwo. Es kann passieren, dass wir uns abhandenkommen. Soziale Isolation ist eine Gefahr.
Ist sie auch ein Thema fürs Theater? Ja – jedenfalls dann, wenn die Bühne zur Seelenlandschaft wird wie bei der italienischen Dramatikerin und Regisseurin Lucia Calamaro. Ihre Figuren loten die tausend Facetten der Einsamkeit wortreich aus. Und beweisen, dass ein Konversationsstück, so leicht es klingt, nicht seicht sein muss. Ganz im Gegenteil.
In der Dämmerung
Silvio ist Witwer. Nach dem Tod seiner Frau hat er sich aufs Land zurückgezogen. Dort geht er Pilze suchen und verkehrt sporadisch mit den Leuten aus dem nahen Dorf, etwa, wenn er an der Coop-Kasse Schlange steht. Doch hauptsächlich sitzt er in seinem Haus herum, blättert in Gedichtbänden und betrachtet abends vom Liegestuhl aus den Sonnenuntergang: jenen Moment, in dem die Sonne gerade noch da ist und dann plötzlich nicht mehr. Weg, verschluckt. So geht es bisweilen auch mit Menschen. «Da bin ich jetzt, allein, im Nichts.» Silvio richtet den Satz gegen Ende des zweistündigen Theaterabends an sich selbst.
«Si nota all’imbrunire» (Man merkt es beim Eindunkeln) heisst das neue Stück von Lucia Calamaro. Es trägt, wie die meisten ihrer Stücke, ausser dem poetisch-symbolischen Titel einen sanft konkretisierenden Untertitel: «Solitudine da paese spopolato» (Einsamkeit wie in entvölkertem Gebiet). Sie erforsche darin, so die Autorin, den mentalen Zustand der Vereinsamung, die mehr und mehr zur Volkskrankheit werde. Doch nicht der statistische Befund gab den Ausschlag für das Stück, sondern die persönliche Erfahrung mit dem Phänomen und das Bedürfnis, herauszufinden, woraus es sich zusammensetzt. Anatomie einer Gefühlslage: Calamaro seziert am Herzen.
Was nach klinischer Operation klingt, erweist sich als hinreissende Komödie. Sprühend vor Wortwitz, funkelnd vor Intelligenz schwebt sie über ihrem melancholischen Grundton. Soeben gastierte sie zweimal im LAC (Lugano Arte Cultura/LuganoInScena).
Aufmarsch der Familie
In ihrer Inszenierung – wie immer führt Lucia Calamaro selbst Regie – wird der eigenbrötlerische Hausherr von Silvio Orlando gespielt, dem aus Nanni Morettis Filmen bekannten Schauspieler. (Das Fernsehpublikum kennt ihn dank Paolo Sorrentinos Serie «The Young Pope» als Kardinal Angelo Voiello.) Ihren zivilen Vornamen nehmen auch die übrigen Figuren mit auf die Bühne.
Ausnahmsweise ist Silvio nämlich nicht allein. Zu seinem Geburtstag sowie zum 10. Todestag der Ehefrau sind die drei erwachsenen Kinder angereist: Alice (Alice Redini), eine bisher und vermutlich auch weiterhin erfolglose Dichterin; Maria (Maria Laura Rondanini), ihre ewig sich übergangen fühlende kleine Schwester; Riccardo (Riccardo Goretti), der seine existenzielle Orientierungslosigkeit mit treffsicherer Kritik an den anderen kaschiert und die klaffende innere Leere mit Snacks stopft. Ebenfalls zu Besuch ist Roberto (Roberto Nobile), Silvios Bruder. Als Einziger wirkt er zufrieden – und gilt bei den andern prompt als Langweiler.
Die Sache mit den Namen ist keine äusserliche Koketterie. Statt feste Rollen vorzuschreiben, sucht sich Calamaro Schauspielerinnen und Schauspieler auf der Basis gegenseitiger Sympathie und entwickelt das Stück mit ihnen während den Proben. Sie bringt zwar einen Text mit, modifiziert ihn aber laufend, bis er für alle Mitspielenden sitzt wie ein massgeschneidertes Kleidungsstück. In den Figuren stecke viel von ihr selber, sagt Calamaro, aber genauso viel von den jeweiligen Schauspielerpersönlichkeiten – nur so kann das laute Denken funktionieren, wie sie es Aufführung für Aufführung mit der allergrössten Nonchalance praktizieren. Wir schauen der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden zu. Das ist es, was fasziniert.
Denn an Action passiert wenig auf der Bühne, wo sich halb transparente Wände zu immer neuen Räumen formen und in wechselnden Pastellnuancen aufleuchten – aus Morgen wird Abend. Die Farbsinfonie täuscht als Stimmungsaufheller über den dramatischen Ernst der Lage hinweg. Ein Paradox: Der Mensch braucht Gesellschaft, erträgt sie aber nicht.
Denkmal der Einsamkeit
Man kann dieses Stück kaum zusammenfassen. Es besteht einerseits aus Selbstgesprächen des Protagonisten, der unablässig sein Alleinsein hinterfragt. Nachdem sich Silvio von allem, was ihn störte, befreit hat und nichts anderes übrig geblieben ist als er selbst, dämmert ihm: «Ich genüge mir nicht.» Andererseits lässt er sich nun, da sie hier sind, ins Gespräch mit den Familienmitgliedern verwickeln. Ihre Mission: den Vater zurückzugewinnen, der als trotziges «Denkmal der Einsamkeit» der Gesellschaft den Rücken kehrt. Doch alsbald wird klar, dass sich weder der Sohn noch die Töchter weniger einsam fühlen als ihr Familienvater im Exil.
Nein, er sei weder depressiv noch traurig, beteuert Silvio, «nur nachdenklich». Kein zynischer Menschenfeind. Das macht ihn so liebenswürdig, wenn er im zerknitterten Geburtstagsanzug vom Sessel zur Sitzbank humpelt auf O-Beinen, die seinen gesamten Ausdruck prägen. Ein geschrumpfter Mann, der sich seiner Lächerlichkeit bewusst ist und gerade deshalb Würde behält. Auch, weil er seine Sicht der Dinge mit entwaffnender Direktheit beschreibt: «Die menschlichen Beziehungen sind unmöglich.» Dass solch apodiktische Feststellungen von Ironie und Charme gedämpft werden, nimmt dem Stück die Ausweglosigkeit.
Silvio ist ein geplagtes Wesen. Alles geht ihm auf die Nerven. Weshalb stehen die Gäste nie auf? Warum servieren sie keinen Kaffee? Der Apfel für den Papa kommt zwar geschält daher, aber es ist die falsche Sorte. Und schon stellt sich das familiäre Chaos ein – ohne allerdings in die Katastrophe auszuarten. Nein, wir sind nicht bei Yasmina Reza und auch nicht bei Thomas Bernhard. Sondern bei einer zeitgenössisch-resignierten Variante von Tschechow: «Finita la commedia!», heisst es dort einmal.
Menschliche Komödie
Im Tête-à-tête mit den Kindern bahnt sich Silvios Frustration ihren Weg: Wann beginnt Alice endlich, eigene Gedichte zu schreiben, statt immer nur Klassiker zu zitieren? Und überhaupt: Es reicht jetzt mit den ständigen Suiziddrohungen nachts per Telefon! Das sieht auch die Tochter ein. Zerknirscht gibt sie zu: «Mir geht es gut, wenn es mir schlecht geht.»
Maria, die eifersüchtige Jüngere, mischt kräftig mit im kindlichen Kampf um Aufmerksamkeit. Doch auch Marias Dauerbeleidigtsein, das sie wie ihren erhobenen Zeigefinger vor sich herträgt, kippt nie ins Extrem. Calamaro wirbt um Verständnis für jede der Figuren – die wir auch gar nicht mitleidig zu belächeln brauchen. Dafür sehen sie uns viel zu ähnlich.
Eher stellt sich Rührung ein angesichts der beiden gealterten Brüder und der drei Kinder, die längst keine Kinder mehr sind und es trotzdem nicht schaffen, richtig erwachsen zu werden. Zum Leidwesen des Vaters wursteln sie sich durch ihre Existenz, wobei offenbleibt, ob – eine Realität im heutigen Italien – die berufliche Perspektive fehlt oder bloss der Ehrgeiz. In einem nostalgischen Anflug stöhnt Silvio, wie sehr sich seine Kinder verändert hätten. Doch bevor die Erinnerung an früher in Sentimentalitäten versinkt, erfolgt die Wende ins Urkomische: «Ich glaube, ihr wurdet ausgewechselt!»
Ganz zuletzt spricht Silvio, einen Blumenstrauss im Arm, mit seiner verstorbenen Frau. Alle anderen sind verschwunden. Selige Zweisamkeit – wenn auch nur in der Illusion. Ja, die Zeit vergeht, das Leben zieht vorbei, schliesslich, so das bittersüsse Fazit, «sieht man es nur noch von hinten».
Aus allen Blickwinkeln hingegen schaut Calamaro ihren Leuten beim Leiden am Leben zu und begleitet sie mit nachgerade zärtlicher Zuneigung. Wenn laut dem Anna-Karenina-Prinzip jede Familie auf ihre eigene Weise unglücklich ist, beschert uns das Unglück dieser Familie ein ganz besonderes Theaterglück. Quadratur des Kreises: Aus der schonungslosen Analyse einer gesellschaftlichen Institution – der Familie – wird eine Liebeserklärung.
Das Lehrstück liegt Lucia Calamaro fern. Sie schafft Kunststücke.
Italienische Erfolgsverhinderung
Umso mehr stellt sich die Frage: Wieso gilt diese aussergewöhnliche Theaterfrau nach wie vor als Geheimtipp? In der sonst so italienbegeisterten Deutschschweiz konnte man noch kein einziges Stück von ihr sehen. Doch sogar in ihrer Heimat stehen die Dinge nicht zum Besten. Das hat Gründe.
Lucia Calamaro wurde in Rom geboren, hat ihre Jugend in Montevideo verbracht und in Paris studiert. Der Start ihrer Karriere im römischen Off-Theater der Nullerjahre versprach Erfolg. Indessen: Den grossen Durchbruch erlaubte ihr das italienische Theatersystem bisher nicht.
Anderswo würde man eine solche Künstlerin längst an ein festes Haus gebunden haben. Nicht so in Italien. «Feste Häuser» – die nicht sehr zahlreichen Teatri Stabili und neuerdings ein paar vereinzelte Teatri Nazionali – sind dort auch in festen, stets männlichen Händen. Junge Theaterschaffende kriegen kaum je eine Chance. (Ein aktuelles Beispiel: Unlängst wurde das Teatro die Roma neu besetzt mit Giorgio Barberio Corsetti als künstlerischem Leiter, einem Regisseur im Pensionsalter.)
Wie die meisten ihrer italienischen Kollegen ist Lucia Calamaro auf multiple Kooperationen mit öffentlichen und privaten Theatern und Festivals angewiesen. Kleinteilige Tourneen: zwei Abende hier, zwei Abende dort (und, immerhin, längere Gastspiele in Frankreich). «Si nota all’imbrunire» kann mit dem Schauspielstar Silvio Orlando auf einen Publikumsmagneten zählen (und zudem auf die Beteiligung seiner Produktionsgesellschaft). Vielleicht erhält Lucia Calamaro dank ihm endlich die verdiente Resonanz.
«Si nota all’imbrunire. Solitudine da paese spopolato»: Hier finden Sie die Tourneedaten.
In Venedig bei der Biennale Teatro 2019 (22.7. bis 6.8.) wird Lucia Calamaro ein neues Stück zeigen: «Nostalgia di Dio».