Am Gericht

Der Revolver im Holz­schrank

Wie sicher muss der Aufbewahrungs­ort für eine Waffen­sammlung sein, wenn der Sohn psychisch angeschlagen ist?

Von Sina Bühler, 10.04.2019

Teilen1 Beitrag1

Ort: Kreisgericht Toggenburg
Zeit: 21. März 2019, 14.15 Uhr
Fall-Nr.: ST.2017.5683
Thema: Waffengesetz

An einem Samstagmittag im Januar 2017 kommt ein junger Toggenburger von der Frühschicht zurück. In seiner Firma fühlt er sich schon länger unwohl, und an diesem Morgen gab es auch noch Streit mit dem Chef. Der junge Mann fährt direkt in eine Beiz. Sieben Spezlis später verabschiedet er sich von der Kellnerin und sagt, sie sehe ihn heute zum letzten Mal – er bringe sich um. Er lebt im Haus seiner Eltern und schlägt dort mit einer Axt auf einen Holz­schrank ein, in dem sein Vater mehrere Faustwaffen aufbewahrt. Er lädt einen Revolver, richtet ihn aber nicht gegen sich, sondern schiesst in der Wohnung herum. Irgendwann, mehrere Stunden später, trifft die Polizei ein, die inzwischen – über Umwege – von der Kellnerin alarmiert worden ist. Der Mann wird zwangsweise in die Psychiatrie eingeliefert.

Die Waffe, die der Sohn benutzt hat, eine «Smith & Wesson Mod. 66-1, Kal. 357 Magnum» ist auf seinen Vater eingetragen. Früher gehörte sie dem Sohn, doch dieser darf keine Waffen mehr besitzen. Weil der junge Mann aus psychologischen Gründen für militärisch untauglich erklärt worden ist, wollten die Behörden den Revolver vor sechs Jahren einziehen. Doch der Vater, der über eine grössere Waffen­sammlung verfügt, übernimmt den Revolver und verstaut ihn bei seinen übrigen Faust­feuerwaffen: im besagten, abschliessbaren Sperrholz­schrank.

War diese Vorsichts­massnahme ausreichend? Diese Frage hat das Toggenburger Kreis­gericht in Lichtensteig zu beurteilen. Die Staats­anwaltschaft ist der Ansicht, der Vater habe eventual­vorsätzlich gegen das Waffen­gesetz verstossen, und stellt einen Straf­befehl mit 500 Franken Busse aus. Dagegen rekurriert der Vater Ende 2017. Vor dem Kreis­gericht bleibt er erfolglos und zieht das Verfahren weiter. Ein Jahr später gibt ihm das Kantons­gericht teilweise recht und spediert den Fall zurück an die Vorinstanz. Einzel­richter Andreas Hagmann hatte bei der ersten Prozess­runde vor dem Kreis­gericht unerwartet angekündigt, dass er nicht nur eine eventual­vorsätzliche Wider­handlung gegen das Waffen­gesetz, sondern auch eine Fahrlässigkeit prüfen werde. Weil der Beschuldigte und sein Verteidiger dies im Vorfeld nicht wussten, konnten sie ihre Verteidigung nicht gebührend vorbereiten. Er habe damals einen Fehler gemacht, sagt Richter Hagmann bei der zweiten Prozessrunde.

Der Vater, der im Warte­zimmer noch Galgen­humor zeigt, ist im Saal sichtlich nervös. Er stockt bereits bei der dritten Frage – es geht um die Namen seiner sechs Söhne. «Ich habe ein Blackout, ich bin so aufgeregt», räumt er ein und schweigt dann minutenlang, während die Gerichts­schreiberin erfolglos in den alten Protokollen sucht. Endlich überspringt der Richter die Frage und konzentriert sich auf den einen Sohn, «der, der das gemacht hat», wie der Vater immer wieder sagen wird.

Schon vor dem Vorfall war dieser Sohn wegen Depressionen in Therapie, nahm Psycho­pharmaka. Die Eltern glaubten, das habe nur mit dem Mobbing am Arbeits­platz zu tun, Anzeichen für Selbst­mord hätten sie keine erkannt, so der Vater. Nicht einmal seine Frau, «die ein Sensorium für so etwas hat». Heute lebe der Sohn wieder zu Hause, und man hoffe, dass er den Rank noch finden werde.

Damals, als die Behörden die Waffe einziehen wollten, hatte die Familie wenig Verständnis für diese Mass­nahme. Der Sohn sei doch nur untauglich erklärt worden, weil die Armee weniger Soldaten gebraucht habe, mutmasst der Vater. Er habe den Revolver übernommen, weil der Sohn gehofft habe, ihn später wieder zurücknehmen zu dürfen, mit einem entsprechenden Gutachten. Er habe nie das Gefühl gehabt, der Sohn ginge verantwortungslos mit der Waffe um. Und überhaupt: Alle seine Söhne hätten sich an die Anweisung gehalten, den Waffen­schrank und die Waffen nicht ohne seine Erlaubnis anzufassen, erzählt der Vater weiter. Er habe seinen Kindern den Umgang mit Waffen beigebracht und den Schlüssel zum Waffen­schrank immer bei sich gehabt. «Ich hatte keinerlei Disziplinar­probleme. In dreissig Jahren nicht!»

Seine erste Waffe, ein Kleinkaliber­gewehr, kaufte der Vater als 15-Jähriger, kurz nachdem er in der Waffen­fabrik Hämmerli in Lenzburg angestellt worden war. «In der Fabrik konnte ich mich austoben», formuliert er es, ein wenig ungeschickt. Seither kaufte er sich «einen Haufen Waffen», wie es der Richter nennt, die genaue Anzahl bleibt in der Verhandlung offen. Warum? «Die Funktion, das System, das Schloss­werk interessierten mich», sagt der Waffen­fan; am meisten stehe er auf Revolver. Er fachsimpelt ausführlich über Waffen­technik und Waffen­geschichte, bevor er über den Waffen­schrank spricht – den Sperrholz­schrank, den er mit Riegel und Vorhänge­schloss gesichert hatte. Heute ist er nicht mehr in Gebrauch. Am Tag nach dem Vorfall kaufte sich der Vater einen Metall­schrank. Ob dieser allerdings wesentlich sicherer ist, bezweifelt der Beschuldigte: «Wäre der Sohn stundenlang allein zu Hause gewesen, hätte er auch den aufbekommen. Mit einer Trennscheibe, einem Winkel­schleifer in wenigen Minuten.» Konsequenterweise lasse er den Sohn einfach niemals alleine.

«Das tun Sie, weil Sie denken, der Sohn bricht den neuen Waffen­schrank auf?», fragt der Richter nach. «Ja. Nein.» Der Vater zögert. «Eigentlich nicht», sagt er schliesslich. Der Sohn sei sich einfach nicht klar darüber gewesen, welche Konsequenzen der Vorfall für die Familie haben werde. Er nehme nicht an, dass er so etwas nochmals machen würde. Aber sicher sei sicher. Obwohl die «alte» Waffen­sammlung immer noch bei der Polizei eingelagert ist, bleibt diese Einschätzung von Bedeutung: Denn in der Zwischenzeit hat sich der Vater bereits wieder neue Waffen angeschafft.

Sein Verteidiger, Fred Hofer, ist ein Spezialist für das Waffen­gesetz. Früher übernahm er Fälle für die Waffen­lobby «Pro Tell», bevor es im Verband zu einem Putsch und damit zu einer radikaleren Ausrichtung kam. Hofer argumentiert vor dem Kreis­gericht vor allem prozessual: Das Anklage­prinzip sei durch die wenig präzise Beschreibung der Vorwürfe im Straf­befehl verletzt worden – es stehe beispielsweise nicht konkret drin, wie sein Mandant Waffen und Munition aufbewahrt habe. Der Verteidiger stellt ausserdem die Frage, ob Fahr­lässigkeit nach dem Waffen­gesetz überhaupt strafbar sei. Doch selbst wenn dem so wäre, so Hofer, könne er keine pflichtwidrige Unterlassung erkennen. Das einschlägige Schweizer Gesetz präzisiere nämlich nicht, in welcher Art von Schrank die Waffen aufbewahrt werden müssten: «Deutschland ist viel strenger. Früher hat mich das immer gestört, aber heute muss ich ehrlich sagen, ich wäre froh um Klarheit», sagt Hofer.

Im Schlusswort wird deutlich, warum der Vater den Weg durch die Gerichts­instanzen auf sich nimmt. Es geht ihm nicht um sein Recht, die Waffen zu Hause haben zu dürfen, es geht ihm auch nicht um das Waffen­gesetz. Was ihn trifft, ist der implizierte Vorwurf, ein wenig umsichtiger Vater zu sein. Der Rentner steht nun sogar auf, um seinen Worten die notwendige Wirkung zu verleihen: «Es wird mir eigentlich gesagt, es sei mir als Vater scheissegal, ob jemand meine Waffen holt. Dieser Vorwurf tut sehr weh. Er trifft nicht zu, ich habe Vorkehrungen getroffen. Ich habe dafür gesorgt, dass es keine gefährlichen Situationen geben kann. Und niemand, der einen nicht abschliessbaren Schrank in einen abschliessbaren umbaut, will sich nicht die Mühe zur sorgfältigen Aufbewahrung machen.»

Der Richter verkündet das Urteil mündlich und bestätigt seinen ersten Entscheid – diesmal hat er allerdings bereits in der Vorladung darauf hingewiesen, dass er auch eine Fahrlässigkeit überprüfen werde. Es sei korrekt, dass der Staat die Frage nach einer sorgfältigen Aufbewahrung den Waffen­besitzern überlasse, begründet Hagmann das Urteil. Seiner Meinung nach sei dies richtig so – «denn es kommt auf die Umstände an». Und diese seien hier strenger: Nachdem der Sohn ein Waffen­verbot erhalten habe, sei die Sorgfalts­pflicht des Vaters gestiegen.

Der Vater wird wegen Fahrlässigkeit verurteilt. Die Busse von 500 Franken und vier Fünftel der Gerichts­kosten von 1450 Franken muss er übernehmen. Die Partei­kosten von rund 3500 Franken übernimmt hingegen der Staat. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, der beschuldigte Vater hat Berufung angemeldet.

Illustration Friederike Hantel