Die schönste Klimagrafik der Welt
Der Klimawandel ist in der Populärkultur angekommen – mit bunten Grafiken. Doch wie funktionieren sie genau? Ein Exkurs in die Farbenvisualisierung – mit all ihren Fallstricken.
Von Simon Schmid, 08.04.2019
Die Grafik, um die es in diesem Beitrag geht, ist, schlicht und einfach, schön.
So schön, dass sie sogar auf Krawatten, Flip-Flops und Leggings gedruckt wird – obwohl es sich nur um eine simple Temperaturvisualisierung handelt. So schön, dass sie von Greenpeace benutzt wird, um damit in einem psychedelisch anmutenden Video auf den Klimawandel aufmerksam zu machen.
So schön, dass man nicht darum herumkommt, genauer hinzuschauen. Und darüber zu sprechen, wie diese Grafik eigentlich funktioniert – und warum.
Die Grafik, um die es in diesem Beitrag geht, wurde vom britischen Professor Ed Hawkins erfunden und heisst warming stripes. Wärmestreifen. Sie zeigt, wie sich die globale Temperatur über die letzten gut 150 Jahre verändert hat.
Auf Hawkins’ Blog «Climate Lab Book» finden Sie die Grafik im Original – und so sieht sie adaptiert auf die Schweiz aus:
Wärmestreifen. Wäre dies nicht die «lange Sicht», könnten wir an dieser Stelle auch aufhören – und uns zusammen schlicht an der Ästhetik der Grafik erfreuen.
Dies ohne weitere Erklärungen – denn die Grafik spricht ja für sich: Man erkennt sofort, dass es im Verlauf der letzten gut 150 Jahre wärmer geworden ist und dass irgendetwas an dieser Entwicklung nicht normal sein kann.
Doch wir wollen etwas tiefer gehen, hinter die schöne Farbkulisse blicken. Und uns fragen: Wie kommt es eigentlich, dass diese Grafik innerhalb eines Wimpernschlags alles erklärt, keine Frage zur Erwärmung offenlässt?
1. Die Farben
Die offensichtliche Antwort lautet natürlich: Es sind die Farben. Sie üben auf unser Gehirn eine magische Wirkung aus, lassen uns Zusammenhänge erkennen, bevor wir überhaupt aktiv über diese nachgedacht haben.
Wie gross die Macht der Farben als Darstellungsmittel ist, wird klar, wenn man sich dieselben Temperaturdaten in einer anderen Form ansieht: nicht als Farbstreifen-Diagramm, sondern als gewöhnliche Liniengrafik.
Auch auf dieser Grafik erkennt man, dass ab etwa 1980 ein Aufwärtstrend bei den mittleren Jahrestemperaturen einsetzt. Zuvor bewegen sich diese Temperaturen im Bereich von 4 bis 5 Grad, danach steigen sie auf über 6 Grad.
Doch das mentale Verarbeiten dieser Information dauert länger und ist aufwendiger als beim Farbbild. Die Aufmerksamkeit ist nicht automatisch gegeben: Man muss genauer hinschauen, «den Kopf einschalten», um dieselbe Botschaft zu verstehen. Die krakelige, leicht ansteigende Linie interessiert das Auge weniger als das Farbmuster auf den Wärmestreifen.
Farben also. Doch dies ist erst der Anfang vom Zauber des Klimastreifens.
2. Welche Farben?
Nebst der Farbcodierung per se spielt auch die Farbauswahl eine wichtige Rolle. Welche Farbe symbolisiert kalt, welche Farbe symbolisiert warm?
Die naheliegendste Codierung richtet sich natürlich nach der Konvention: Blau ist kalt, Rot ist warm. Wir verstehen diese Codes intuitiv, weil wir sie aus der Natur kennen: Wasser ist blau, Feuer ist rot. Und Rot bedeutet oft auch: Achtung! Hier passiert etwas, das gefährlich sein könnte. Wir wissen dies, weil die Analogie nicht nur im Unterbewusstsein, sondern auch in der Sprache verankert ist. Ist etwas «im roten Bereich», so droht Gefahr.
Welche Wirkung entfaltet dieser Code auf der grafischen Ebene?
Um dies zu testen, schauen Sie sich die zwei folgenden Farbstreifen an. Sie zeigen dieselben Daten wie oben – allerdings in anderer Codierung: Im ersten Streifen wurden Rot und Blau vertauscht (sodass Rot für kalt und Blau für heiss steht), und im zweiten Streifen wurden statt Blau und Rot die Farben Braun und Grün verwendet. Welchen Eindruck machen diese Grafiken auf Sie?
Falls es Ihnen gleich geht wie mir, dann haben Sie beim Betrachten wohl festgestellt: Die beiden Streifen sind zwar auch irgendwie schön – aber sie vermitteln nicht dieselbe Dringlichkeit wie die ursprüngliche Grafik, in der die Farben ganz klassisch verwendet wurden: Blau = kalt, Rot = warm.
Natürlich klingt das etwas banal, und natürlich würde kein Forscher in der Praxis je auf die Idee kommen, ein Klimadiagramm mit einer invertierten Farbskala zu zeichnen: Blau = warm, Rot = kalt. Allerdings – und das merkt man, wenn man selbst ein Diagramm erstellt – ist die Kolorierung immer eine bewusste Entscheidung. Oft ist sie kniffliger, als man erwarten würde.
Stets muss dabei eine Reihe von Fragen beantwortet werden.
3. Die Normperiode
Nun wird es etwas technisch. Die erste Frage lautet: An welchem Punkt auf dem Thermometer setzt man das Farbschema eigentlich an?
In unseren bisherigen Grafiken lag dieser Punkt bei 4,6 Grad Celsius. So hoch war die mittlere Temperatur im Durchschnitt über die Jahre 1961 bis 1990. Ein solcher Zeitraum wird auch als Normperiode bezeichnet. Konventionsgemäss sieht die Weltorganisation für Meteorologie einen 30-Jahres-Rhythmus für solche Normperioden vor. 1961 bis 1990 ist demnach die aktuelle Periode.
Sie dient in unseren Wärmestreifen als Anker für das Farbschema. Das bedeutet: Jahre, in denen die Temperatur just bei 4,6 Grad Celsius lag, entsprachen genau der Norm und wurden deshalb in weisser Farbe gezeichnet. Jahre mit höheren Temperaturen lagen über der Norm und wurden in Rot, Jahre mit tieferer Temperatur in Blau dargestellt.
Es gibt jedoch kein Naturgesetz, das einer Wissenschaftlerin oder einem Journalisten sagt, welcher Zeitraum als Normperiode zu gelten hat.
So werden Temperaturabweichungen nicht immer in Bezug zur Periode von 1961 bis 1990 angegeben, sondern manchmal auch zur Periode 1981 bis 2010. Diese zusätzliche Normperiode wurde eingeführt, weil die Qualität der Messungen in diesem Zeitraum besser ist als in der älteren Normperiode.
Was dies für einen Unterschied macht, sieht man zunächst auf der folgenden Grafik: Die Normtemperatur steigt um 0,8 auf nunmehr 5,4 Grad Celsius an. Das führt dazu, dass vergleichsweise mehr Jahre unter der Norm und weniger Jahre über der Norm liegen.
Noch viel deutlicher sieht man den Unterschied aber auf den dazugehörigen Wärmestreifen. Im Gegensatz zum ersten, bekannten Streifen (der auf der Normperiode 1961 bis 1990 basiert) suggeriert der zweite Streifen (1981 bis 2010) generell ein kühleres Klima. Erst gegen Ende der Messzeit, also um die Jahrtausendwende, scheinen sich die Temperaturen langsam zu erwärmen.
Anders ist dies beim ersten Streifen. Hier scheinen sich bereits zur Mitte des 20. Jahrhunderts erste Anzeichen einer Erwärmung bemerkbar zu machen. Zudem erscheint die jüngste Vergangenheit in viel bedrohlicherem Rot, als dies beim zweiten Farbstreifen mit der Normperiode 1981 bis 2010 der Fall ist.
Die Normperiode beeinflusst also den Schluss, den wir aus der Grafik ziehen.
4. Die Skala
Doch es geht noch weiter. Denn Farbvisualisierungen sind wirklich keine triviale Angelegenheit: Es gibt unzählige Varianten, wie ein und dieselbe Temperaturdatenreihe in einen Wärmestreifen gegossen werden kann. Dabei ist nicht immer a priori klar, welche Variante davon die beste ist.
Man erkennt dies anhand des folgenden Schaubilds. Darauf sind wiederum zwei Streifen. Diesmal unterscheiden sie sich jedoch nicht hinsichtlich der Normperiode, sondern hinsichtlich der Skala – oder genauer gesagt: hinsichtlich des Temperaturspektrums, das die Farbskala abdeckt.
Beim ersten Streifen reicht dieses Spektrum von –1 bis +1 Grad Celsius: Alles, was ausserhalb dieser beiden Werte liegt, erscheint entweder tiefblau oder tiefrot. Die Skala stellt also zum Beispiel die beiden Werte von +0,2 und +0,5 Grad mit unterschiedlichen Rottönen dar, verwendet aber dasselbe dunkle Rot für die Werte +1,0 und +1,3 Grad. Ein bedeutender Anteil der Datenpunkte wird somit in den extremen Farbtönen Dunkelblau und Dunkelrot dargestellt.
Beim zweiten Streifen ist das Spektrum dagegen grösser: Es reicht von –5 Grad bis +5 Grad Celsius. Das bedeutet, dass zum Beispiel das kälteste Jahr, 1879, trotz einer Abweichung von –1,7 Grad gegenüber der Normperiode nicht im dunkelsten Blau erscheint, sondern vergleichsweise hell dargestellt wird. Ebenso erscheint das wärmste Jahr, 2018, trotz einer Abweichung von +2,3 Grad gegenüber der Norm nicht dunkelrot, sondern vergleichsweise hell.
Die zweite Frage, die wir also beantworten müssen, ist jene nach der Skala.
Beim obigen Beispiel liegt es auf der Hand, dass die beste Variante irgendwo in der Mitte liegt – zum Beispiel bei einem Temperaturspektrum von +/– 2,5 Grad. Dies ist das Spektrum, das wir ganz oben verwendet haben. Aber auch hier gilt: Es gibt kein eindeutiges Richtig oder Falsch. Welche Skala eine Forscherin verwendet, hängt davon ab, was sie mit der Grafik sagen will.
Warum das Spektrum wichtig ist, wird klar, wenn man nicht mehr bloss eine Datenreihe visualisieren will, sondern gleich mehrere Datenreihen aufs Mal.
Zum Beispiel: die Daten zu den Temperaturschwankungen der Jahreszeiten. Erneut tauchen Fragen auf, die wir beim Erstellen der Grafik klären müssen.
5. Ein Bezugspunkt
Die Analyse nach Jahreszeiten ist relevant, weil der Klimawandel kein gleichmässiges Phänomen ist: Für die Schweiz wird beispielsweise damit gerechnet, dass die Temperaturen im Sommer stärker steigen als im Winter, während sich die Niederschläge tendenziell auf den Winter konzentrieren.
Lässt sich dies bereits in den Daten erkennen? Versuchen wir es zunächst mit einer Visualisierung der Jahreszeiten anhand der absoluten Temperaturen.
Als «Norm» dient dabei die Marke von 0 Grad Celsius. In der folgenden Grafik ist dargestellt, wie stark die mittleren Frühlings-, Sommer-, Herbst- und Wintertemperaturen von 1864 bis 2018 davon abwichen. Die Skala ist auf +/– 16,8 Grad geeicht, da dies dem Rekord aus dem Hitzesommer 2013 entspricht.
Was diese Grafik zum Ausdruck bringt, ist, grob gesagt, ein Gefühl: Sie zeigt, als wie heiss wir die Temperaturen in den vier Jahreszeiten jeweils empfunden haben – vom Frühling 1864 bis zum Herbst 2018, dem neusten Datenpunkt.
Aus dieser Grafik einen Trend zum Klimawandel abzulesen, fällt allerdings nicht ganz leicht. Man ahnt, dass die Sommer zuletzt etwas heisser wurden und die Winter einen Tick weniger kalt. Auch im Frühling und im Herbst deuten die Farben gegen Ende des Zeithorizonts auf eine leichte Erwärmung hin. Wie stark sie ist, lässt sich anhand dieser Grafik aber nicht wirklich eruieren.
War es also eine schlaue Entscheidung, dieselbe Normtemperatur (nämlich 0 Grad Celsius) für alle Jahreszeiten anzuwenden? Der Blick auf eine ganz gewöhnliche Liniengrafik suggeriert: Wahrscheinlich wäre es besser, für jede Jahreszeitenkurve eine jeweils eigene Normtemperatur zu berechnen.
Probieren wir dies also aus – mit einem weiteren Wärmestreifen, der die Abweichung von vier verschiedenen Normtemperaturen zeigt.
6. Vier Bezugspunkte
Die saisonalen Normtemperaturen sind also: 3,3 Grad Celsius im Frühling, 12,1 Grad im Sommer, 5,6 Grad im Herbst und –2,7 Grad im Winter. So warm waren die Jahreszeiten im Durchschnitt der Jahre 1961 bis 1990.
Wenn wir die tatsächlichen Temperaturen mit diesen Normtemperaturen vergleichen, resultiert die folgende Grafik. Sie zeigt, in welchen Jahren der Frühling, Sommer, Herbst oder Winter übermässig kalt oder warm war.
Im Vergleich zu vorher sehen diese Streifen komplett anders aus. Der Fokus liegt auf den Unterschieden innerhalb der Jahreszeiten statt zwischen ihnen.
Auffallend ist aber, wie unordentlich die Farbtöne angeordnet sind. Blau und Rot wechseln sich sehr oft ab. Man erkennt eine Tendenz, doch es fällt immer noch schwer, sie einzuordnen. Ebenfalls auffallend ist die Intensität der Farben. Man sieht sehr kräftige Töne, viel Dunkelblau und Dunkelrot, weniger Zwischenstufen. Die Schwankungen scheinen extremer als bei der Ganzjahresgrafik, die wir im ersten Teil des Beitrags besprochen haben.
Beide Beobachtungen ergeben Sinn, und beide haben den gleichen Grund: Die Daten schwanken auf Ebene der Frühlings-, Sommer-, Herbst- und Wintertemperaturen tatsächlich stärker als bei den Jahrestemperaturen.
Auf den ersten Blick mag diese Tatsache verwirrend sein, doch statistisch gesehen ist sie völlig logisch. Sie rührt daher, dass sich extreme Werte übers Jahr hinweg vielfach ausgleichen. Ein speziell heisser Frühling und ein kalter Herbst führen aufs Ganze gesehen zu einem durchschnittlichen Jahr. Die 4-Jahreszeiten-Grafik ist dadurch automatisch weniger geglättet.
Um dieses Problem in den Griff zu bekommen, bleibt eigentlich nur eins übrig: Wir müssen die Farbskala ein weiteres – letztes – Mal anpassen.
7. Nochmals eine Skala
Das heisst: Wir verwenden statt eines Spektrums von +/– 2,5 Grad neu ein Spektrum von +/– 4 Grad. Wir passen gewissermassen den Kontrast des Wärmestreifens an, um die Extremwerte weniger extrem darzustellen:
Vielleicht ist dies nicht mehr die allerschönste Klimagrafik der Welt. Doch aus den neu geeichten Wärmestreifen lässt sich besser herauslesen, nach welchem Jahreszeitenmuster sich das Klima in der Schweiz verändert hat:
Das Bild zeigt zum Beispiel, dass es seit rund zwanzig Jahren fast keinen Frühling mehr mit unterdurchschnittlichen Temperaturen gab (im Vergleich zur Normperiode von 1961 bis 1990).
Ähnliches gilt für den Sommer: Der Übergang von kalten zu warmen Temperaturen ist hier am deutlichsten, am stetigsten ausgeprägt.
Im Herbst sind die Temperaturen zuletzt nicht so stark gestiegen. Innerhalb der letzten zwanzig Jahre lagen sie auch einige Male unter dem Durchschnitt der Normperiode. Dafür zeigt sich, dass die saisonalen Temperaturen ganz am Anfang der Messreihe im 19. Jahrhundert vergleichsweise kühler waren.
Bei den Wintertemperaturen zeigen sich insgesamt die grössten Schwankungen. Einen generellen Trend zur Erwärmung gibt es auch hier. Doch er ist weniger eindeutig als beispielsweise im Sommer.
Die letzte Serie von Wärmestreifen ist nun also recht gut lesbar. Behalten wir aber in Erinnerung, wie es dazu kam: Wir haben zuerst die Temperatur neu normiert und dann die Farbskala angepasst. Diese Operationen haben uns geholfen, die Daten zu deuten. Doch sie erschweren die Vergleichbarkeit: Gegenüber der Ganzjahresgrafik erscheinen die Schwankungen kleiner.
Mag sein, dass all diese Detailüberlegungen am Ende zu viel des Guten sind. Vermutlich wird nie ein Designer eine Kaffeetasse oder eine Tragetasche mit unseren Jahreszeiten-Wärmestreifen bedrucken. Allerdings findet gerade eine bemerkenswerte Entwicklung statt: Der Klimawandel wandert, wie Figura zeigt, von der Gelehrtenstube nach und nach in die Populärkultur.
Da ist es allemal sinnvoll, wenn man weiss, wovon man eigentlich spricht.
Sie lassen sich bei Meteo Schweiz als Textdatei beziehen. Darin findet sich das Schweizer Temperaturmittel über sämtliche Monate für den Zeitraum von 1864 bis zum aktuellen Rand. Dieses Mittel entspricht der Durchschnittstemperatur, die über die gesamte Landesfläche und die verschiedenen Höhenlagen gemessen wird. In die Zeitreihe fliessen die Daten von 19 Messstationen ein, die über den gesamten Zeitraum hinweg lückenlos zur Verfügung stehen. Um Veränderungen bei den Messbedingungen zu korrigieren, wurden diese Daten homogenisiert.
Was verändert sich auf die lange Sicht?
Haben Sie Anregungen zu unseren Datenbeiträgen? Wünschen Sie sich bestimmte Themen? Diskutieren Sie im Forum der Rubrik «Auf lange Sicht».