Tuvia bei den Briten – Interview

«Das britische Volk wird von seinen Politikern bevormundet»

Filmemacher Tuvia Tenenbom war in Grossbritannien unterwegs und hat mit Menschen über den Brexit geredet. Der Entscheid habe den tiefen Graben offengelegt, der die britische Gesellschaft spaltet.

Ein Interview von Simon Schmid, 06.04.2019

«Die Engländer wollen selbst über ihr Schicksal bestimmen. Darum haben sie vor drei Jahren Ja gestimmt»: Tuvia Tenenbom, Autor, Theaterchef und Rechercheur in Sachen Brexit. Max Zerrahn

Herr Tenenbom, Sie waren sechs Monate in Gross­britannien unterwegs. Wie geht es den Menschen, die dort wohnen?
Die Leute sind verwirrt und deprimiert. Das gegenseitige Misstrauen ist riesig. Der Brexit hat einen tiefen Graben in der Gesellschaft offengelegt.

Was für einen Graben?
Den Graben zwischen den sozialen Klassen, zwischen Arm und Reich.

Wo haben Sie diesen Graben beobachtet?
Überall – und ganz besonders in London. Hier trifft man Bank­angestellte in Nadel­streifen und Obdachlose auf engstem Raum an. Man sieht Väter und Mütter, die rund um die Uhr arbeiten, dabei vielleicht sechs Pfund pro Stunde verdienen und trotzdem für subventionierte Lebens­mittel Schlange stehen. Und im Hinter­grund den Buckingham Palace, wo die Queen wohnt, mit ihrem Millionen­vermögen und dem staatlich alimentierten Pomp.

«Tuvia bei den Briten», Episoden 1 bis 6

Der Autor, Regisseur und Filmemacher Tuvia Tenenbom ist durch England, Schottland, Irland und Nord­irland gereist. Er hat Brexit-Gegnerinnen und Befürworter des Austritts aus der EU getroffen und mit ihnen diskutiert. Daraus entstand eine sechsteilige Video­dokumentation, den ersten Teil sehen Sie am kommenden Montag.

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Was machen solche Eindrücke mit einem?
Wenn arbeitende Menschen um Essen für ihre Familie betteln müssen, ist das erniedrigend. Mir brach fast das Herz. Man realisiert in Gross­britannien auch, wie stark die Gesellschaft noch immer von Klassen­gegensätzen geprägt ist. Es fängt bei der Sprache an: Arme und Reiche verwenden einen völlig unterschiedlichen Akzent. Und es setzt sich im Habitus fort: Die höheren Klassen schauen die niedrigen Klassen nicht als gleichwertige Menschen an.

Eine ziemlich harte Aussage.
Aber es ist so. Und durch die Brexit-Abstimmung wurde es offensichtlich.

Warum wurde es offensichtlich?
Weil sich in den letzten drei Jahren gezeigt hat, wie die Oberschicht über die Unterschicht denkt. Die Leute hatten im Referendum eine Chance zu sagen, wie sie zur EU stehen wollen – doch die Politik will diese Äusserung nicht anerkennen. Sie betrachten den Brexit als Entscheid von Idioten im Fussvolk.

Die Wahrheit ist doch: Die Briten haben keinen Schimmer, was sie wollen. Viele kennen nicht einmal den Unterschied zwischen hartem und weichem Brexit.
Die Medien vermitteln dieses Bild. Aber ich denke nicht, dass es stimmt. Die Briten wissen genau, was sie wollen. Es wurde im Referendum klargemacht.

Raus aus der Europäischen Union – egal wie?
Genau. Dafür haben sie gestimmt. Zwar nicht mit grossem Abstand – 52 zu 48 Prozent –, aber trotzdem. Die Briten haben den Austritt gewählt. Die Leute in der Regierung und im Parlament wollen aber mehrheitlich nicht aus der EU. Sie wollen den Entscheid nicht umsetzen.

Weil sie auf das Volk hinunterschauen?
Ja. Die Politiker, die ein zweites Referendum fordern, nennen es «people’s vote». Aber was war denn das erste Referendum, etwa kein «people’s vote»? Das britische Volk wird von seinen Politikern bevormundet. Für viele Leute, mit denen ich auf dem Trip gesprochen habe, ist der Fall klar. Sie wollen raus.

Umfragen zeichnen aber ein anderes Bild: 54 Prozent sind für «remain», nur 46 Prozent für «leave». Haben Sie mit den falschen Leuten gesprochen?
Ich habe mit allen gesprochen, die bereit dazu waren. Natürlich spielt die Geografie eine Rolle. Im multikulturellen London sind die meisten für remain. Das ist klar: In der Hauptstadt ist die Finanz­industrie, viele gebildete Menschen wohnen hier, die Kultur ist sehr europäisch geprägt. Aber im Rest des Landes herrscht eine andere Mentalität vor.

Welche?
Die Vorstellung, dass Grossbritannien ein unabhängiges Land ist, das seine eigenen Wege geht und als Handels­nation mit der ganzen Welt vernetzt ist. Das geht tief in die Volks­psychologie hinein. Ja, die Engländer wollen selbst über ihr Schicksal bestimmen. Darum haben sie vor drei Jahren Ja gestimmt.

Aber wofür? Für welche Art von Brexit? Genau da liegt doch das Problem.
Natürlich waren die Details zum Austritt vor drei Jahren noch nicht bekannt. Das ist aber kein Grund, das Ergebnis nicht zu akzeptieren. Im Gegenteil. Die Administration, mit all ihren Juristen, Ökonomen und sonstigen Experten, wäre in der Pflicht gestanden, eine reibungslose Umsetzung zu ermöglichen.

Auch wenn sich der Brexit überhaupt nicht als das herausstellt, was sich viele Bürger darunter vorgestellt hatten?
Ich würde den Stimmbürgern durchaus zutrauen, dass sie sich im Grundsatz der Folgen bewusst waren. Diese Annahme muss man fast treffen – sonst könnte man jede Volks­abstimmung relativieren und sagen: Die Bürger hätten dies oder jenes nicht gewusst. Letzten Endes sind die Leute aber nie bis ins hinterste und letzte Detail informiert. Das ist bei jeder Abstimmung so.

Sind Sie für den Brexit?
Mir persönlich ist es egal, ob Grossbritannien in der EU bleibt oder nicht. Ich beobachte nur: Es gibt in der Bevölkerung mehr leaver als im Parlament.

Die Idee, eine allfällige Brexit-Lösung zur definitiven Bestätigung erneut dem Volk vorzulegen, ist in Ihren Augen also falsch.
Jene Politiker, die das vorschlagen, haben remain gestimmt und wollen jetzt das Ergebnis umkehren. Das ist antidemokratisch.

Wie bitte? In der Schweiz stimmen wir andauernd über Vorlagen ab, die nur im Detail modifiziert wurden – siehe Steuervorlage. Dieses repetitive Vorgehen gehört zur Kompromiss­findung in der direkten Demokratie.
Ja, aber die politische Kultur der Schweiz ist anders gelagert. Hier wird über alles Mögliche abgestimmt – sogar über Minarett­verbote und Burkas. Das wäre in Gross­britannien undenkbar. Hier sind die politischen Spielregeln anders: Die Bürger gehen davon aus, dass es genau einmal eine Abstimmung zu einer Sache gibt – und dass danach feststeht, wohin die Reise geht.

Politiker wie Nigel Farage, die diese Reise hätten anführen können, haben sich nach dem Referendum allerdings aus der Verantwortung gestohlen. Warum halten Sie ihm jetzt trotzdem wieder das Mikrofon hin?
Ich habe Farage getroffen, weil er eine Galionsfigur der Brexit-Bewegung ist. Und zwar seit Beginn der Sache im Jahr 2013, als der damalige Premier David Cameron als Reaktion auf das Erstarken der Ukip-Partei ein Referendum ansetzte. Farage ist nach der gewonnenen Abstimmung zwar untergetaucht, hat aber nach wie vor viele Fans. Die Leute skandieren bei Versammlungen von «Leave means Leave» euphorisch seinen Namen: «Nigel, Nigel, Nigel!»

Nigel ist ein Scharlatan: Nach dem Ja verschwand er ganz einfach von der Bühne. Und scherte sich keinen Deut um die Umsetzung des Brexit.
Das kann man mit Ausnahme von Theresa May allerdings über viele Politiker sagen. Auch über jene der Labour-Partei: Sie haben die ganze Zeit über nur auf der Regierung herumgehackt – aber selbst nie einen klaren Plan vorgelegt.

Mögen die Leute eigentlich Theresa May?
Natürlich ist sie keine grosse Anführerin wie Winston Churchill oder Maggie Thatcher. Aber sie hat eine Qualität, mit der sich viele Leute identifizieren können: Sturheit. May versucht mit Beharrlichkeit, ein Projekt umzusetzen, das ihr als ursprünglicher «Remainerin» eigentlich gegen den Strich geht. Sie muss Welle über Welle an Kritik über sich hereinbrechen lassen, aber lässt sich nicht unterkriegen. Das ist sehr britisch.

Welche Rolle spielt der englische Nationalismus beim Brexit?
Eine grosse Rolle. 55 von 66 Millionen Briten sind Engländer. Und stolz auf ihre Geschichte: Sie waren Herrscher über ein Weltreich. Natürlich schwingt dies bis in die Gegenwart und in den Brexit mit. Die Briten sind hochmütig.

Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall.
Viele Leute, speziell in der Upper Class und auch in London, halten sich für besser, stärker als die Europäer. Sie glauben, trotz allen Turbulenzen werde am Ende das britische Finanz­genie obsiegen. Man wird sehen.

Sie waren auch in Nordirland. Ist es wirklich ein Pulverfass?
Das ist extrem schwer zu sagen. Als ich vor einiger Zeit im Grenzgebiet war, hat die irisch-republikanische Partei Sinn Fein zu einer Demonstration gegen eine harte Grenze aufgerufen. Doch am Schluss tauchte nur eine Handvoll von Aktivisten auf. Momentan mobilisiert der Brexit in Nordirland noch nicht allzu viele Leute. Möglich, dass dies anders wird, sollte es wieder eine harte Grenze zu Irland geben. Im Moment fühlt es sich allerdings nicht so an.

Wenn man Ihre Filme schaut, erhält man den Eindruck, Sie spazierten einfach in der Gegend herum und redeten mit Leuten. Ist es so einfach?
Nicht ganz. Meine Frau und ich waren Outsider, als wir vor sechs Monaten nach Grossbritannien kamen. An gewisse Personen heranzukommen, hat sich als sehr schwierig herausgestellt. Die Politiker sind im Prinzip zwar redefreudig, werden aber von ihren Presse­leuten sehr effektiv abgeschirmt. Der Dokumentar­film, an dem wir arbeiten, ist ein grosses Stück Arbeit.

Gab es einen Schockmoment während der Reise?
Deprimierend war, wie bereits erwähnt, die Armut. Persönlich hat mich auch der Antisemitismus getroffen. In Gross­britannien ist er viel stärker verbreitet, als man vermuten würde. Einmal stand ein 14-jähriger Junge neben mir und machte den Hitlergruss. Er fand das lustig.

Ein Einzelfall?
Leider nicht. Die Führungs­riege der Labour Party flirtet in der Öffentlichkeit mit judenfeindlichen Gruppierungen und hat Mühe, sich klar vom Antisemitismus abzugrenzen. Das macht Angst.

Sie stammen aus Israel. Wie beeinflusst das Ihre Arbeit?
Ich konnte den Leuten alles Mögliche erzählen: Ich sei aus Jordanien oder meinetwegen aus Äthiopien – und sie redeten mit mir. Aber sobald ich meine jüdische Herkunft erwähnte, ging nichts mehr. Auch bei Jeremy Corbyn.

Wie lief das ab?
Ich habe ihn an einer Veranstaltung zweimal angequatscht, ohne gleich meine Identität preiszugeben. Es wurde ein sympathischer Wortwechsel, wir haben uns zum Abschied sogar umarmt. Aber als ich bei ihm um ein formelles Gespräch nachgefragt habe und dabei aus Versehen meine offizielle Mailadresse vom Jewish Theater statt meine private Mailadresse verwendete, war dies das Ende der Beziehung.

Ist Antisemitismus der Grund, warum Sie als Filmemacher gegenüber Ihren Gesprächs­partnern unter fiktiven Persönlichkeiten auftreten?
Ja. Man würde ja erwarten, dass Menschen gegenüber einem Journalisten dasselbe sagen – egal, woher er kommt. Aber es ist nicht so. Erst recht nicht gegenüber Juden. Da verstellen sich die Leute nicht nur, sondern sie sprechen überhaupt nicht mit dir. Ich gebe mich deshalb oft als Deutscher aus. Es ist die einzige Möglichkeit, überhaupt ins Gespräch zu kommen.

Zur Person

Tuvia Tenenbom ist 1957 geboren und ein israelisch-amerikanischer Autor, Regisseur und Filmemacher. Tenenbom ist Gründer und Leiter des Jewish Theater of New York und Kolumnist bei der «Zeit». Seine Markenzeichen sind kulturelle «Entdeckungsreisen», auf denen er Menschen trifft und sie zum Sprechen bringt. Im Suhrkamp-Verlag erschienen von ihm «Allein unter Deutschen» (2015), «Allein unter Juden» (2016), «Allein unter Amerikanern» (2016) und «Allein unter Flüchtlingen» (2017). Für November 2019 ist sein neues Werk geplant: «Allein unter Briten» (2019). Zurzeit arbeitet Tenenbom auch an einem Film über Gross­britannien und die Wirren des Brexit. Die Republik zeigt einen Teil der dabei entstandenen Aufnahmen in Form von sechs Kurzfilmen über den Zeitraum einer Woche.

Update: In einer vorherigen Version des Artikels wurde die Bevölkerung von Grossbritannien fälschlicherweise mit 80 Millionen angegeben und die Stadt London, anders als vom Interviewten intendiert, mit «City of London» übersetzt.

Tuvia bei den Briten

Episode 2

Farage und die Lügen

Episode 3

Wer ist schuld?

Episode 4

Der Fehler der Alten

Episode 5

Ein Herz für Palästina

Episode 6

Hässlicher Ka­pi­ta­lis­mus

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Tuvia Tenenbom über seine Reise