Öffnung oder Exodus

Vom Medtech-KMU im St. Galler Rheintal bis zur Privatbank in Genf: Viele Firmen hoffen, dass das Rahmenabkommen mit der EU zustande kommt. Warum? Vier Betriebe geben Auskunft.

Von Simon Schmid (Text) und Douglas Mandry (Bilder), 05.04.2019

Fabriziert, zertifiziert – aber vielleicht bald nicht mehr nach Europa exportiert: ein in Widnau SG handgefertigtes Operationsinstrument für Augenchirurgen.

«Die Ärztin muss die Linse mit Ultraschall zerteilen, die Trümmer absaugen und neue Flüssigkeit ins Auge nachfüllen – alles in einem Handgriff.»

Das Gerät, das Gianni Müller zwischen Daumen und Zeigefinger hält, sieht aus wie ein Kugelschreiber, mit metallischem Schaft und einer feinen Kanüle. Chirurgen brauchen es, um den grauen Star zu operieren, eine Augenkrankheit, die vor allem ältere Menschen betrifft. Hergestellt wird es bei Bürki Inno Med, einem KMU aus Widnau im St. Galler Rheintal.

Gianni Müller ist Chef dieser Firma, einer High-End-Nischen­anbieterin aus der Medtech-Industrie, die grösstenteils in Handarbeit produziert – oft nach speziellen Wünschen der Ärzte. Bereits kleinste Unsauberkeiten können bei Eingriffen am Auge zu Komplikationen führen, deshalb ist Präzision alles. Geliefert wird in kleinen Serien, vorwiegend in die Europäische Union.

Und hier liegt das Problem von Gianni Müller: Seiner Firma droht, dass sie in rund einem Jahr den Zugang zum wichtigsten Absatzmarkt verliert – wenn die Schweiz bis dahin kein Rahmen­abkommen mit der EU unterzeichnet.

Wie wichtig ist die Weiterentwicklung der bilateralen Verträge aus Sicht der Wirtschaft? Die Diskussion darüber verläuft oft in abstrakten Bahnen. Der Verband Economiesuisse schätzt den Wert der bilateralen Beziehungen mit der EU auf 20 bis 30 Milliarden Franken pro Jahr. Es heisst, dieser wirtschaftliche Vorteil würde nach und nach erodieren, wenn der bilaterale Weg nicht fortgeführt wird.

Doch was heisst das genau: Ende des Bilateralismus, Erosion des Marktzugangs, schleichende Verschlechterung des Wirtschaftsstandorts? Wie sich in der Praxis zeigt, geht es je nach Branche um ganz unterschiedliche Themen. Mal stehen sehr dringende Anliegen im Vordergrund – mal eher mittel- bis langfristige Fragen rund ums Zukunftspotenzial von bestimmten Wirtschaftszweigen in der Schweiz.

Medtech: die Drohung des Kommissars

Grenzüberschreitender Warenhandel kann ganz schön kompliziert sein. Das wird klar, wenn Gianni Müller den Gesetzestext auf den Tisch legt, der den Verkauf von Medizinaltechnik in der EU regelt: die «Medical Device Regulation», ein Dokument aus dem Jahr 2017, das einen ganzen Ordner füllt.

Die Verordnung schreibt vor, wie Hersteller­firmen organisiert sein müssen, wie Prozesse gestaltet und dokumentiert, wie Produkte beschriftet, welche Tests durchgeführt und welche Bescheinigungen eingeholt werden müssen. Müller hat sie ausgedruckt und viele Stellen darauf mit Leuchtstift markiert.

Dass Bürki Inno Med diese Vorschriften einhalten wird, sei keine Frage, sagt der 61-Jährige, der nach langjähriger Tätigkeit in der Rechtsabteilung eines Pharmaunternehmens vor zehn Jahren zur Firma stiess. Denn die Schweiz wird diese Vorschriften sowieso fast eins zu eins von der EU übernehmen.

Die Frage sei vielmehr: Ob die EU auch anerkennt, dass die Regulierung in der Schweiz EU-konform ist. Denn davon hängt ab, ob Bürki ab Mai 2020 weiterhin nach Deutschland, in die Niederlande oder nach Polen liefern darf.

Verweigert die EU diese Anerkennung, wird es für Bürki am jetzigen Standort schwierig – dann müsste das KMU einen Teil der Arbeitsplätze verlagern und beispielsweise in Deutschland ein zusätzliches Büro eröffnen.

«Für unseren 20-Personen-Betrieb wäre das ein schwerer Schlag», sagt Gianni Müller. Es ist ein sonniger Nachmittag, vom Sitzungszimmer im 3. Stock überblickt man das lokale Industrieareal, im Hintergrund sind die Bündner Berge. «Wir hätten höhere Kosten und müssten in Widnau Jobs abbauen.»

«Die Schweiz läuft Gefahr, zum Drittland zu werden – auf derselben Stufe wie Indien oder Pakistan.»
Gianni Müller, CEO von Bürki Inno Med

Anlass seiner Sorgen sind Aussagen des EU-Kommissars für Europäische Nachbarschaftspolitik, Johannes Hahn. Dieser drohte im vergangenen Dezember, dass die EU die bestehenden bilateralen Verträge nicht weiter anpassen werde, sofern das Rahmen­abkommen nicht zustande kommt.

Solche Anpassungen wurden bisher jeweils nach beidseitigen Gesprächen vorgenommen, wenn in einer bestimmten Branche (wie etwa Medtech) neue EU-Richtlinien in Kraft traten. Sie sorgten dafür, dass das Abkommen über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen – ein Teil des bilateralen Vertragspakets aus dem Jahr 2002 – stets auf der Höhe der Zeit blieb. Das Abkommen beseitigt in 20 Bereichen (Maschinen, Druckgeräte, Seilbahnen etc.) sogenannte technische Handelshemmnisse, die von unterschiedlichen Regulierungen herrühren. Davon profitieren Exporte von über 74 Milliarden Franken pro Jahr, hält der Bund fest.

Gianni Müller reisst ein weiteres Instrument aus der Plastik­verpackung, ein stiftähnliches Ding mit gebogener Spitze. Darauf aufgedruckt sind zwei grosse Buchstaben und vier kleine Zahlen: CE 1250.

Man übersieht diese Insignien leicht – die Lettern stehen für «Conformité européenne» und sind auf vielen Gegenständen zu finden, vom Spielzeug bis zum Schraubenzieher. Hersteller erklären damit, dass sie die Normen der EU anerkennen und vollständig einhalten. Für spezielle Risikoprodukte müssen sie eine zusätzliche Zertifizierung einholen, daher die vier speziellen Ziffern hinter dem CE. Für Bürki Inno Med sind diese Ziffern überlebenswichtig: Ohne das Recht, ihre Produkte als EU-konform zu deklarieren, kann die Firma dichtmachen.

«Scheitert das Rahmenabkommen, gibt es in der Medtech-Branche einen Exodus», sagt Gianni Müller. «Wir bereiten bereits Notfallpläne vor.»

«CE 1250»: wichtige Buchstaben und Zahlen für die Zulassung in der EU.

Die Schweiz ist eine kleine, offene Volkswirtschaft. Rund zwei Drittel des Geldes wird im Ausland verdient – der Exportanteil am BIP beträgt 65 Prozent. Das erklärt, warum sich vor allem exportorientierte Branchen wie die Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie für ein Rahmenabkommen starkmachen. Viele Unternehmen in diesem Sektor sind KMU. Sie sind darauf angewiesen, dass der Handel mit der EU aus der Schweiz heraus möglichst reibungslos funktioniert.

Verliert die Medizintechnikbranche den barrierefreien Zugang zum europäischen Markt, so verzögert sich die Marktzulassung für Schweizer Medizinprodukte um durchschnittlich ein Jahr, schätzt der Branchenverband. Dies käme einer totalen Umsatzeinbusse von rund einer Milliarde Franken über drei Jahre hinweg gleich.

Wie realistisch diese Zahl ist, ist schwer einzuschätzen. Auf jeden Fall macht sie klar: Die Medizinaltechnik sitzt auf glühenden Kohlen. Das ist nicht bei allen Branchen so. Und auch nicht alle Exportunternehmen sind KMU. Im Gegenteil: Viele Industriefirmen haben bereits in der Vergangenheit ins Ausland expandiert und betreiben Produktionsstätten weltweit. Trotzdem messen auch diese Firmen der Fortführung des bilateralen Weges tendenziell grossen Stellenwert bei.

Pharma: Warum noch investieren?

«Vertical Flow», ruft Peter Gehler, «hier fliesst alles von oben nach unten!» Der Kommunikationschef von Siegfried marschiert durch den Neubau, den das Unternehmen vor zwei Jahren in Zofingen AG eröffnet hat: eine turnhallengrosse, ganz in Glas eingekleidete Produktions­anlage mit optimiertem Materialfluss – quasi der letzte architektonische Schrei im Anlagenbau für die Herstellung von pharmazeutischen Wirkstoffen.

In der Fabrik stehen Metallbottiche, die über drei Geschosse hinweg reichen. Durch kleine Luken sieht man, wie darin Flüssigkeiten blubbern. Hunderte von Leitungen, Ventile und Dichtungen sind an sie angeschlossen. Fässer mit gelben Warnklebern stehen herum, die Luft riecht nach Chemie.

Gehler ist sichtlich stolz auf die Anlage. Siegfried hat in den letzten sechs Jahren 180 Millionen Franken in den Standort Zofingen gesteckt. Rund die Hälfte der Ausgaben ging ans lokale Gewerbe, betont er.

«Aber wissen Sie, was?», fragt der 61-Jährige und dreht sich um. «Ich bin nicht sicher, ob wir diesen Investitionsentscheid angesichts des unklaren Verhältnisses zur Europäischen Union noch einmal so fällen würden.»

«Wir müssten unsere Produkte erst in der Schweiz und dann erneut in der EU überprüfen lassen.»
Peter Gehler, Leiter des Pharmaparks Zofingen von Siegfried

Siegfried ist ein Pharma-Zulieferbetrieb. Streckt ein Kunde der Firma ein Forschungs­papier zu einem neuen Wirkstoff hin, produziert sie die Substanz – und macht danach auf Wunsch auch eine Tablette daraus.

Neben dem Fachwissen ist Sicherheit in diesem Metier der höchste Trumpf. Wer im Auftrag von Behörden etwa Stoffe wie Methadon herstellen will, muss eine lückenlose Überwachung der Produktions­prozesse nachweisen. Pharma ist eine der am stärksten regulierten Industrie­branchen: Jeder zehnte Mitarbeitende bei Siegfried arbeitet im Bereich Compliance. Das Unternehmen zählt total 2300 Beschäftigte, davon gut 800 in der Schweiz.

Auch für den Export in die EU gibt es Regeln. Sie sind in den bilateralen Abkommen festgehalten und garantieren, dass die europäischen Behörden die Ergebnisse der hiesigen Prüfbehörden akzeptieren – und umgekehrt.

Dringende Probleme, was den Marktzugang betrifft, zeichnen sich angesichts des Tauziehens um das Rahmen­abkommen in der Pharmabranche nicht ab. Anders als in der Medizintechnik gibt es hier keine neue EU-Vorschrift, die noch nicht ins bilaterale Vertragswerk aufgenommen wurde. Die Drohung von EU-Kommissar Johannes Hahn trifft die Branche also weniger direkt.

Trotzdem warnt Peter Gehler: «Die Technologie entwickelt sich laufend. Es entstehen immer wieder neue Verfahren, um Wirkstoffe herzustellen, die dann wiederum neue Regulierungen durch die Behörden erfordern.» Möglich sei etwa, dass die EU in einigen Jahren in der Biotechnologie, wo Substanzen aus lebenden Organismen gewonnen werden, neue Richtlinien herausgibt. «Werden die Schweizer Regulierungen von der Europäischen Union dann nicht als gleichwertig anerkannt, haben wir ein Problem.»

Durch ein Labor geht es nun ins Verwaltungsgebäude. Uhren zeigen die Zeit in New York und Tokio. Schutzanzug und Brille kommen in den Abfall, der Helm ins Regal. Im Sitzungszimmer «Zugspitze» referiert der Manager über die Zahlen, die für den Standort relevant sind.

  • Ungefähr 50 Prozent: So viel verdiene ein Arbeiter im französischen Lyon, wo Siegfried auch ein Werk betreibt, im Vergleich zur Schweiz.

  • 20 Prozent: So viele Abgaben an den Staat kämen in Frankreich noch obendrauf, was die dortige Arbeit etwas verteuert.

  • Bleibe also ein Kostenunterschied von rund 30 Prozent: Diesen müsse ein Pharmaproduzent in der Schweiz über grössere Effizienz wettmachen, um im europäischen Markt konkurrenzfähig zu sein.

«Es versteht sich bei diesen Verhältnissen von selbst, dass zusätzliche Kosten aus Sicht der Produktion in Zofingen einfach nicht drinliegen», sagt Gehler.

Kosten, die hinzukämen, würde sich der Marktzugang zur EU verschlechtern, etwa in Form von Lücken bei der Anerkennung von Compliance­vorschriften. In diesem Fall müsste die Firma in Zofingen jeden Produktions­prozess zweimal zertifizieren: einmal bei den Schweizer Behörden und ein weiteres Mal bei den europäischen Pendants. Das bedeutet einen doppelten Aufwand.

«Ohne die Bilateralen hätten wir in Zofingen niemals investiert», wiederholt Gehler. Draussen setzt die Dämmerung ein, die meisten Arbeiter sind schon zu Hause. «Ohne Bilaterale hätten wir die Anlage wohl in der EU gebaut.»

Das Beispiel zeigt, dass Handelsfragen immer aus zwei Perspektiven betrachtet werden können. Man kann einerseits in die Vergangenheit blicken, um die wirtschaftliche Bedeutung des Bilateralismus zu erfassen – so, wie es etwa der Bund in zwei Studien vor einiger Zeit gemacht hat. Diese Arbeiten schätzen, dass die Bilateralen I mitsamt der Personenfreizügigkeit ziemlich wichtig waren.

Man kann aber andererseits auch in die Zukunft schauen – und das Augenmerk darauf richten, welche Möglichkeiten sich bei einer Weiterentwicklung der bilateralen Beziehungen ergeben könnten. Welche Barrieren stehen dem Handel momentan noch im Weg, wo könnte die Wirtschaft von besserem Marktzugang profitieren? Eine Branche, die hierzu einiges zu sagen hat, ist die Finanzbranche.

Banken: keine Telefonate, keine E-Mails

Telefonat nach Genf. Yves Mirabaud ist Senior Managing Partner und damit oberster Chef der gleichnamigen Westschweizer Bank. Und darüber hinaus Präsident der Vereinigung Schweizerischer Privatbanken.

Herr Mirabaud, wie gut ist der Marktzugang von Schweizer Banken zur EU?
Bei der Vermögensverwaltung von Privatkunden ist er praktisch inexistent.

Heisst das, EU-Bürger können ihr Geld nicht in die Schweiz bringen?
Doch, aber sie müssen dazu persönlich in die Schweiz reisen. Auch für ein Beratungsgespräch müssen sie extra hierherkommen. Sämtliche anderen Kommunikationskanäle sind nicht erlaubt: Wir dürfen aus der Schweiz keine Telefonate mit ihnen führen, nicht einmal Mails verschicken. So sind die Regeln in der EU, wenn man als Bank aus einem Drittland heraus operiert.

Mirabaud ist ein Traditionshaus. Die Bank wurde vor genau 200 Jahren gegründet und beschäftigt insgesamt 700 Mitarbeiter, die Hälfte davon in der Schweiz. Die Schwerpunkte liegen im Wealth-Management und im Asset-Management, also in der Vermögensverwaltung für reiche Privatkunden und für institutionelle Kunden, zum Beispiel Pensionskassen.

Den vollen Marktzugang hat Mirabaud zurzeit nur in sechs EU-Ländern. In Grossbritannien, Luxemburg, Frankreich, Italien und Spanien, weil sie dort lokale Niederlassungen eröffnet hat – und theoretisch in Deutschland, weil die Schweiz mit der dortigen Bankenaufsicht ein spezielles Abkommen hat.

Herr Mirabaud, was würde ein Rahmen­abkommen den Schweizer Banken bringen?
Es wäre eine Vorbedingung, damit die Schweiz mit der EU über ein weiteres Abkommen im Bereich der Finanz­dienstleistungen sprechen kann.

Und was würde ein solches Finanzdienstleistungs­abkommen bringen?
Es würde den Markt für alle 28 EU-Staaten auf einen Schlag öffnen. Dann müssten Schweizer Banken keine weiteren Filialen in den einzelnen Ländern eröffnen, sondern könnten ihre Dienstleistungen von hier aus erbringen.

«Ohne Rahmenabkommen werden Schweizer Banken neue Arbeitsplätze weiterhin primär im Ausland schaffen.»
Yves Mirabaud, Senior Managing Partner der Westschweizer Bank Mirabaud

Gemäss Zahlen des Bankenverbands stammen zwei Drittel der Einnahmen in der Vermögensverwaltung aus dem Ausland, über die Hälfte davon aus der EU. 20’000 Schweizer Jobs sind direkt von europäischen Kunden abhängig. Diese Zahl könnte höher sein: Wäre der volle Marktzugang gegeben, könnten noch mehr Beratungstätigkeiten aus der Schweiz heraus ausgeführt werden. Wie viele Jobs dabei entstünden, ist schwer zu prognostizieren. Einen Impuls für die Beschäftigung in der Finanzbranche würde es auf jeden Fall bringen.

Unter den gegebenen Umständen sind die Privatbanken indes gezwungen, in den jeweiligen Ländern selbst aufzustocken. So hat sich ihr Personalbestand im Ausland über die letzten 10 Jahre verdoppelt, während die Beschäftigung im Inland nur um 20 Prozent wuchs. Der fehlende Marktzugang benachteiligt also den Schweizer Finanzplatz – und kommt die Institute obendrein teuer. Beratung, Verwaltung, Compliance: Alles muss mehrfach aufgebaut werden.

Herr Mirabaud, was passiert, wenn es kein Rahmenabkommen gibt?
Dann wird eine dauerhafte Unsicherheit die Folge sein. Und die Banken werden neue Arbeitsplätze weiterhin primär im Ausland schaffen.

Nicht alle Bankenvertreter fordern einen Ausbau der bilateralen Beziehungen so vehement wie Yves Mirabaud. Ein Finanzdienstleistungs­abkommen mit der EU wäre etwa für die Kantonalbanken nicht so wichtig, die sich zudem Sorgen um ihre Staatsgarantien machen (ob diese Garantien volkswirtschaftlich sinnvoll sind, ist allerdings eine andere Frage). Auch die Grossbanken sind weniger darauf angewiesen: In den wichtigen Märkten sind sie ohnehin präsent. Ein solches Abkommen zu verhandeln, wäre also nochmals eine grössere politische Übung.

Ohne Rahmenabkommen erübrigt sich jegliche Diskussion darüber allerdings schon im Voraus – die Tür zum europäischen Markt schliesst sich definitiv. Darum befürwortet die Finanzindustrie insgesamt das Rahmenabkommen. Ähnlich ist es in der Strombranche. Auch dort stellt sich der Verband hinter das Abkommen, weil die Schweizer Stromfirmen derzeit in ihrer Entfaltung blockiert sind.

Elektrizität: die fehlende Kopplung

«Die europäischen Nachbarstaaten betreiben über Börsen und Algorithmen einen sehr effizienten Stromhandel. Die Schweiz und ihre Unternehmen sind benachteiligt, weil sie nicht voll an der Marktkopplung teilnehmen können.»

Urs Meister empfängt am Hauptsitz der BKW-Gruppe, in einem herrschaftlichen Altbau am Berner Viktoriaplatz. Hier sitzt die Konzernleitung, und hier laufen auch alle Fäden zusammen: Über 50 Kraftwerke, Servicedienstleister, Ingenieurbüros und andere Tochterfirmen stehen in Austausch mit der Zentrale des mit 7000 Mitarbeitern grössten Schweizer Stromkonzerns.

Meister hat auf acht Uhr einen Raum reserviert. Er leitet den Bereich Markets & Regulation bei der BKW und ist damit gewissermassen der oberste Nerd, was die Ökonomie der Elektrizitätsmärkte betrifft. Wobei das Verständnis dieser Märkte auch ziemlich viel Denkarbeit abverlangt: Wenn der Handel mit Medtech­produkten schon kompliziert ist, dann ist der grenz­überschreitende Handel mit Elektrizität sogar hyperkompliziert.

Es gibt Kaffee und ein Glas Wasser – und dann geht es los mit der Erklärung. Vereinfacht gesagt steht die Branche laut Meister vor folgendem Problem:

  • Frankreich, Deutschland, Italien und eine Reihe weiterer Länder haben ihre Strommärkte weitgehend zusammengeschlossen.

  • Steigt in Frankreich der Strombedarf (weil die Nationalmannschaft gerade im WM-Final steht) und weht in der Nordsee zugleich viel Wind (was die dortigen Turbinen in Schwung bringt), dann fragen die Verteilwerke in Frankreich mehr Strom nach, und die Produzenten in Deutschland bieten mehr Strom an.

  • Über eine Börse wird daraufhin der Preis ermittelt, den das französische Verteilwerk dem deutschen Turbinen­betreiber bezahlen muss. Der Handel wird ohne weitere Schritte abgewickelt: Der Strom kann über die Grenze fliessen. Man bezeichnet diesen Zusammenschluss als Marktkopplung.

  • Das Schweizer Stromnetz ist zwar physikalisch voll an das europäische Netz angeschlossen. Fliesst Strom von Deutschland nach Frankreich oder Italien, so passiert er zuweilen auch die Schweiz.

  • Doch als Nichtmitglied der EU kann die Schweiz nur beschränkt am Börsenhandel mitmachen. Hiesige Unternehmen sind von der Marktkopplung ausgeschlossen.

Eine Zwischenfrage, ein Schluck Kaffee, ein Blick aus dem Sitzungszimmer. Der Eingangsbereich am BKW-Hauptsitz wurde kürzlich neu gestaltet: Menschen sitzen in beigen Sofas und rosa Sesseln, in einem Büchergestell steht ein Asterix-Band. Der offene Raum soll Begegnungen ermöglichen.

Warum ist internationaler Handel für die Strombranche überhaupt wichtig? «Der Schweizer Kraftwerkspark war noch nie auf Autarkie ausgerichtet», sagt Urs Meister. «Sondern auf Austausch mit dem Ausland: Wenn im Sommer viel Wasser durch die Laufkraftwerke fliesst, exportiert die Schweiz Strom. Im Winter deckt sie ihren Elektrizitätsbedarf dagegen über Importe.»

«Mit der Energiewende wird der zwischenstaatliche Stromhandel in Europa wichtiger.»
Urs Meister, Leiter Markets & Regulation bei BKW

Der Stromexport wäre für die hiesige Branche also eigentlich ein Geschäft. Neu ist, dass sich Überfluss- und Mangelphasen im Zuge der Energiewende in immer kürzeren und weniger vorhersehbaren Abständen abwechseln: Mal weht der Wind in Norddeutschland, mal ist Flaute – und dann steigt der Strompreis, den Schweizer Wasserkraft­produzenten am Markt erhalten.

Die fehlende Marktkopplung behindert allerdings dieses Geschäftsmodell, erklärt Meister, der früher beim Thinktank Avenir Suisse arbeitete und dort Studien zum Strommarkt schrieb. Denn, so der BKW-Mann:

  • Die Elektrizitätsunternehmen können zwar auf den ausländischen Grosshandels­märkten Strommengen kaufen oder verkaufen (etwa für den Folgetag), aber sie müssen separat dazu noch die Leitungskapazitäten über die Landesgrenze buchen oder ersteigern, denn diese Kapazitäten sind begrenzt. Es kann nicht beliebig viel Strom gleichzeitig fliessen.

  • Im Stromhandel zwischen Frankreich und Deutschland ist das anders: Die grenzüberschreitende Lieferkapazität ist dort von Beginn an im Handel inbegriffen und damit in der Preisbildung an der Börse integriert.

  • Grenzüberschreitende Transaktionen sind für hiesige Akteure deshalb komplizierter und aufwendiger als für die Konkurrenz in den Nachbarstaaten. Sie können weniger effizient Handel betreiben.

  • Konkret können etwa die Schweizer Wasserkraftwerke ihre flexible Produktion weniger gut auf die Preisschwankungen in den ausländischen Märkten ausrichten (die sich ergeben, wenn etwa Les Bleus Fussball spielen und gleichzeitig in der Nordsee Windstille herrscht). Das mindert den Wert des Schweizer Kraftwerkparks.

Auch aus Systemsicht ist die fehlende Marktkopplung problematisch.

  • Als Nebeneffekt des effizienteren europäischen Stromhandels entstehen nämlich ungeplante Stromflüsse über das Schweizer Übertragungsnetz, was seitens der Netzbetreiber öfter stabilisierende Eingriffe erfordert. Diese können den Nachbarländern allerdings nicht in Rechnung gestellt werden. Der Betrieb der Schweizer Stromnetze verteuert sich dadurch.

  • Ausserdem werden vermehrt die Handelsmöglichkeiten für die Schweizer Marktakteure eingeschränkt, weil die ungeplanten Stromflüsse das grenzüberschreitende Netz quasi verstopfen. Und neuerdings droht die EU der Schweiz auch mit dem Ausschluss von einer Handels­plattform für sogenannte Regelenergie, welche die Schweiz mit aufgebaut hat.

Der eingeschränkte Markzugang ist unter dem Strich also ein Hindernis. Er erschwert – bislang vor allem für die kleineren Betreiber – eine effiziente Vermarktung der Wasserkraft im Ausland. Die Betreiber von Pump- und Speicher­kraftwerken können ihre Stärken deshalb nicht voll ausspielen.

Die Wasserkraft spielt in der Schweiz eine wichtige Rolle: Die BKW betreibt etwa am Grimsel ein grosses Werk. 13 Kraftwerke mit insgesamt 28 Turbinen stehen dort, die jedes Jahr 2300 Gigawattstunden Strom produzieren. Das entspricht ungefähr dem doppelten Verbrauch der Stadt Bern.

Wie gross die Verluste wegen der fehlenden Marktkopplung sind, lässt sich insgesamt nur schwer beziffern. Und auch für die BKW kann Urs Meister keine konkrete Zahl nennen. «Man muss sich aber bewusst sein, dass der europäische Strommarkt vor grossen Umwälzungen steht», sagt der 44-Jährige. «Mit der Energiewende erhält der kurzfristige Stromhandel mit dem Ausland einen noch grösseren Stellenwert. Die hiesige Wasserkraft könnte davon profitieren, wenn sie an den europäischen Markt angekoppelt wäre.»

Um sich voll an den europäischen Markt anzukoppeln, bräuchte die Schweiz aber ein Stromabkommen mit der Europäischen Union. Und die Bedingung für ein solches Stromabkommen wäre wiederum – neben einer vollständigen Liberalisierung des Strommarkts im Inland – das Rahmenabkommen.

Marktöffnung, Exportchancen, Abhängigkeit vom internationalen Handel. Diese Rhetorik passt zwar politisch nicht ganz zum Rahmenabkommen, das bisher vor allem wegen möglicher Risiken für den Lohnschutz diskutiert wurde und unter den Gewerblern, die sich vor ausländischer Konkurrenz fürchten, auch manche Gegner hat. Doch aus der Sicht vieler Unternehmen ist genau dies die zentrale Optik, unter der sie das Abkommen beurteilen. Je länger die Debatte über das künftige Verhältnis zur EU anhält, desto lauter dürfte ihre Stimme werden.