Bergs Nerds

Nerds retten die Welt

Folge 13: Gespräch mit Carl Safina, Professor für Natur- und Menschenkunde an der Stony Brook University sowie Gründer des Safina Center.

Von Sibylle Berg, 02.04.2019

Der Meeresökologe Carl Safina ist an der Stony Brook University im US-Bundesstaat New York tätig. Er ist Autor mehrerer Bestseller – zuletzt «Beyond Words. What Animals Think and Feel» sowie Gründer der Natur- und Umweltschutzorganisation The Safina Center.

Guten Morgen, Professor Safina, haben Sie sich heute schon um den Zustand der Welt gesorgt?

Sehr witzig, aber ja. Häufig geschieht das sogar in meinen Träumen. Allerdings ist eben das auch ein Grund, weshalb wir unsere Hunde morgens nach dem Aufwachen auf dem Bett liegen lassen: damit sie uns an die Freude am Leben und die Schönheit des Lebens erinnern und wir so den Tag glücklich angehen.

Können Sie Ihren Beruf in drei Sätzen zusammenfassen?

Ich schreibe – in Artikeln und Büchern – über die ethische Bedeutung aller Lebens­formen, mit denen Menschen den Planeten teilen. Die Beziehung des Menschen zur lebenden Welt ist eine sich beschleunigende Katastrophe. Deshalb schreibe und spreche ich darüber.

Erinnern Sie sich an den Moment oder die Situation, als Ihnen klar wurde, womit Sie Ihr Leben verbringen möchten?

Das passierte eigentlich während meiner gesamten Kindheit und vieler Erlebnisse in der Natur. Angefangen mit Angeln, Zelten und durch das Halten verschiedener Wild- und Haustiere. Ich war stets fasziniert von Tieren. Als ich vielleicht sieben Jahre alt war, lernte ich das Wort «bedroht» kennen, und ich hatte das Gefühl, dass es sich dabei um etwas Schlimmes handeln müsse. Da liegt also vielleicht eine Art Anfangs­punkt meines Bedürfnisses, irgendwie zu helfen. Später verfestigte sich dieses und wurde zu einer Berufung. Es folgten eine fachspezifische Ausbildung in Umwelt­wissenschaften und Ökologie und abschliessende Promotion. Ich folgte meiner Leidenschaft aus der Kindheit und fand einen Weg, sie allmählich in ein berufliches Dasein zu überführen. Ich bin ein begeisterter Freund der natürlichen Lebens­welt. Meine Arbeit hat als Wissenschaftler begonnen, heute arbeite ich vermehrt als Autor.

Tiere zu erforschen bedeutet, sie zu beobachten?

Ja. Hauptsächlich geht es darum, Tieren dabei zuzusehen, wie sie Entscheidungen treffen und ihr natürliches Verhalten in ihren natürlichen Lebens­räumen ausüben. Darüber hinaus beinhaltet es Neuro­wissenschaft. Und einige Labor­experimente darüber, wie sie sich verhalten und sich entscheiden, wie sie Werkzeuge bauen, einander helfen und dergleichen.

Gerade im Bereich der Erforschung von Lebe­wesen mit neuronalen Netzen hat sich in den letzten Jahren sehr viel getan.

Wir wissen viel mehr über Gehirne, Nerven­systeme, neuronale Chemie und die Psyche als noch vor ein paar Jahren. Wir können MRT-Geräte benutzen, um die Gehirn­aktivität zu beobachten. Man kann die Funktions­weise eines Geistes in der Logik des Verhaltens sehen – wie andere Kreaturen handeln, ist sehr logisch. Sie haben die gleichen Arten von Sinnes­organen wie wir. Auch wenn die Gewichtung womöglich anders ist, werden doch immer Augen zum Sehen verwendet, Ohren zum Hören und Nasen zum Riechen. Wenn man also eine Kreatur auf der Suche nach Nahrung sieht, auf der Flucht vor Gefahr oder bei der Sorge um ihre Jungen, so ist das alles für uns vollkommen plausibel, denn sie agiert in ihrem Leben auf die gleiche Weise sinnvoll, wie wir das auch tun. Man blickt nicht auf andere Kreaturen und sagt: «Ich habe keine Ahnung von diesem bizarren Verhalten.»

Die Gehirne von Menschen und Tieren ähneln sich.

Unsere Gehirne und Nerven­systeme sind fast identisch. Menschen sind grosse Tüftler und Werkzeug­macher, was zu einer umfangreichen materiellen Kultur und Technologie führt. Und die menschliche Sprache ermöglicht eine sehr differenzierte Kommunikation. Insoweit sind wir intelligent. Aber wir sind auch nur klug genug, um die gewaltigsten Probleme zu schaffen, während wir nicht klug genug sind, sie zu erkennen, zu vermeiden oder zu lösen.

Dass praktische und theoretische Tier­forschung oft getrennt betrieben wurden, ist neben der Versachlichung der Tiere vielleicht ein Grund, warum die Erforschung der Tiere lange Zeit stagnierte?

Die Literatur von Laboranten zeigt, dass sie total in ihre Konzepte und die dünnen Gegen­argumente ihrer Konzepte verwickelt sind. Sie sehen einfach keine echten Tiere. Meistens streiten sich die theoretischen Wissenschaftler darüber, wer selbstbewusst handelt – dabei haben die meisten von ihnen nicht einmal die gleichen Definitionen dieser Themen. Es sind meist Menschen, die noch nie systematisch wilde Tiere beobachtet haben, die ratlos zu sein scheinen, was man aus deren Verhalten schliessen kann und was nicht – Forscher im Labor eben. Sie sehen nicht wirklich, wie das Tier seine Umgebung erkundet. Sie stecken es in ein Labyrinth, konfrontieren es mit einer Rätsel­aufgabe oder dergleichen, was nichts mit seinem eigentlichen Leben zu tun hat.

Ines Duran
Wir Menschen sind die kreativsten und destruktivsten, die mitfühlendsten und grausamsten aller Spezies.
Carl Safina, Professor für Natur- und Menschenkunde

Ich meine damit bei weitem nicht alle. Sie können viele Fälle sehen, wo Tiere in Labor­umgebungen versetzt werden und ein Papagei dabei beobachtet wird, wie er aus Situationen herausfindet, aus denen ein Hund oder Kleinkind nicht herausfinden könnte. Oder dass bestimmte Vögel ihre Nahrung in ein anderes Versteck bewegen, wenn sie merken, dass ein anderer Vogel sie beim Verbergen ihrer Nahrung beobachtet hat. Wenn ihnen aber keine anderen Vögel dabei zugesehen haben, lassen sie ihre Nahrung an diesem Ort. Dies sind Laborversuche, die kognitive Fähigkeiten zeigen. Man kann zum Beispiel auch bestimmte Teile im Gehirn einer Katze reizen und sofort eine Aggression auslösen und erkennen, dass Menschen in der gleichen Versuchs­anordnung die gleichen Teile des Gehirns aktivieren. Ich will also nicht sagen, dass man im Labor nichts lernen kann, sondern nur, dass es einige Wissenschaftler gibt, die keine Tiere beobachtet oder Experimente gemacht haben, um daraus Erkenntnisse zu ziehen. Feld­biologen interessieren sich viel mehr dafür, was Tiere tun, als dafür, ob ihr Verhalten in eine Definition passt.

Viele Studien belegen, dass Tiere wie wir über ein Bewusstsein verfügen, dass sie Mitgefühl und Anteil­nahme entwickeln (wie manche Menschen auch), dass sie boshaft sein können.

Viele Menschen haben immense Vorurteile gegen die Vorstellung, dass Tiere Emotionen haben. Wir zögern nicht, ein Tier als hungrig zu bezeichnen, wenn es isst, als durstig, wenn es trinkt, oder als müde, wenn es sich nach einer grossen Anstrengung ausruht. Aber wenn es spielt oder sich liebevoll verhält, sagen wir, dass wir keine Ahnung haben, was es möglicherweise erleben könnte.

Nehmen wir Mitgefühl und Anteilnahme: Jeder Hund erkennt, wenn eine Person weint. Elefanten besuchen die Knochen ihrer Toten. Wale, Wölfe und sogar Vögel rufen tagelang nach einem Gefährten, der getötet wurde. Ich würde gerne mehr Beweise für menschliches Mitgefühl und menschliches Bewusstsein für das Leiden und die Zerstörung sehen, die wir anrichten, für das Elend, das andere Menschen und Nichtmenschen ständig erleiden. Elefanten zum Beispiel scheinen sich ihrer Umgebung ebenso bewusst zu sein wie jeder einzelne Mensch. Sie sind ihren Familien gegenüber weitaus loyaler und sind friedlicher, als es die Menschen sind. Sie scheinen in vielerlei Hinsicht ein besseres, ruhigeres, ein sich gegenseitig mehr unterstützendes Leben zu führen – mal davon abgesehen, dass alle von ihnen überall unter dem lebens­gefährlichen Einfluss von Menschen stehen. Was Schimpansen betrifft, so sind ihre mentalen Prozesse zumindest in mancher Hinsicht viel schneller als unsere.

Kichern Mäuse und Ratten nicht ebenfalls, wenn man sie kitzelt?

Wissenschaftler haben die Laute von Ratten aufgezeichnet, die gekitzelt werden. Die Ratten kommen immer wieder zurück, um mehr zu bekommen. Sie haben die Aufnahmen verlangsamt, und es klingt nach menschlichem Kichern. Also ja.

Wo haben Sie Tiere mit einem Sinn für Humor erlebt?

Viele Tiere spielen gerne, vor allem Säugetiere und einige Vögel, aber auch einige andere. Wir zogen ein verwaistes Eichhörnchen auf, das es wirklich liebte, gekitzelt zu werden, und kichernde Laute von sich gab. Wir zogen einen jungen Wasch­bären auf, der es liebte, im Wasser zu ringen und zu spielen. Hunde spielen natürlich auch sehr gerne. Und Delfine, Papageien, Krähen … Für mich ist dieser Sinn für Vergnügen eine Art Humor. Affen machen tatsächlich Dinge, die wie praktische Witze sind, zum Beispiel wenn sie Aufseher mit Wasserschläuchen anspritzen.

Sie haben schon einige Beispiele genannt, aber wie reagieren Tiere auf Krankheit und Tod? Es scheint mir sehr logisch, dass sie zum Beispiel Todes­angst empfinden, Trauer und Panik, wenn sie zum Schlachten abtransportiert werden, sich auf dem Weg zu den Bolzen­schussgeräten befinden.

Diejenigen, die in sozialen Gruppen leben, sind in der Regel nach einem Todesfall sehr niedergeschlagen; sie vermissen denjenigen, der gestorben ist, und sie sind in diesem Sinne traurig. Einige wie Elefanten, Affen und Delfine scheinen Krankheiten zu verstehen und sich oft zu trösten und sich um denjenigen zu kümmern, der leidet.

Sie haben von Tieren gesprochen, die ihre Jungen unterrichten. Das wäre eigentlich ein eindeutiges Indiz für ihre Intelligenz, die sie kaum vom Menschen unterscheidet, sie wird aber oft als Instinkt abgewertet. Als ob unser menschliches Verhalten nicht auch zum Grossteil instinktgetrieben wäre …

Ein Instinkt, ein evolutionärer Faktor des Verhaltens, ist genau das, was beim Menschen die Lehre ist. Die Sprache des Menschen ist übrigens ebenfalls ein Instinkt, ein evolutionärer Faktor des Verhaltens. Wir nutzen diesen Instinkt, um zu unterrichten und Französisch oder Deutsch zu lernen. Tiere werden, wie auch Menschen, in ihrer Jugend unterrichtet. Wir verhalten uns dabei oft auf dieselbe Weise, wie sich unsere Eltern mit uns verhalten haben. Viele Tiere lernen, indem sie ihre Eltern in den ersten Entwicklungs­monaten oder -jahren begleiten, beobachten und imitieren. Elefanten und Schwert­wale bleiben jahrzehntelang bei ihren Müttern. Andere Tiere trennen sich nach wenigen Wochen. Die Bandbreite ist enorm.

Wir haben über Humor gesprochen, über Gefühle. Gibt es Tiere, die in irgendeiner Art künstlerisch tätig sind, also etwas, das zur Entwicklung des Verstandes beiträgt, aber im engeren Sinne nicht überlebenswichtig ist?

Ich glaube, dass es nur sehr wenige Beispiele für nichtmenschliche Kunst gibt. Affen und Elefanten, denen man das Malen beigebracht hat, tun dies in der Regel, um eine Belohnung zu erhalten, nicht als eigenen Ausdruck. Daher glaube ich nicht, dass das Kunst ist. Die Art und Weise, wie Lauben­vögel ihre Nestbauten mit einem ästhetischen Sinn dekorieren, ist das, was ich Kunst nennen würde. Und viele, viele Tiere verwenden ein ästhetisches Gespür, um das Aussehen und den Gesang potenzieller Partner zu beurteilen; das könnte eine Art Kunst­verständnis sein.

In einem südafrikanischen Aquarium lebte einst ein Babydelfin namens Dolly. Eines Tages, als sie gerade mal sechs Monate alt war, beobachtete Dolly einen Trainer, der am Fenster stand, eine Zigarette rauchte und den Rauch in die Luft blies. Dolly schwamm zu ihrer Mutter, saugte kurz an ihr, kehrte dann wieder zur Scheibe zurück und blies eine Milch­wolke ins Wasser, die ihren Kopf umhüllte. Irgendwie kam Dolly auf die Idee, mit der Milch Rauch darzustellen. Mit einer Sache etwas anderes darzustellen, ist das, was wir Kunst nennen.

Was würden Sie also sagen – was unterscheidet den Menschen von Tieren?

Menschen sind Tiere. Was unterscheidet uns von anderen Tieren? Sie können die Fragen nach Elefanten, Löwen und Haus­katzen stellen. Sie sind alle einzigartig. Die Verherrlichung unserer eigenen Einzigartigkeit, während wir gleichzeitig versäumen, ihre Einzigartigkeit zu sehen und zu schätzen – und es gleichzeitig versäumen, unsere tiefe Zusammen­gehörigkeit zu erkennen –, ist ein entscheidendes Anzeichen für die Grenzen des menschlichen Intellekts. Was den Menschen auszeichnet, ist sein Extremismus: Wir sind die kreativsten und destruktivsten, die mitfühlendsten und grausamsten aller Spezies.

Die Grenzen unseres Verstandes – mein Lieblings­thema – zeigen sich oft darin, dass Menschen Tieren, die ihnen zu nichts nützlich sind, eine Existenz­berechtigung absprechen.

Sind wir fähig zu Mitgefühl – oder kümmern wir uns nur darum, was wir zum Überleben gebrauchen können? Warum essen wir uns nicht gegenseitig, «um zu überleben»? Warum töten wir unsere Konkurrenten? Nun tatsächlich tun wir all diese schrecklichen Dinge ja.

Warum reden wir nicht darüber, wie alle Lebe­wesen gleichermassen zu dieser Erde gehören, wie ihre aussergewöhnliche Schönheit – die sie untereinander schätzen – das menschliche Leben lohnend macht? Warum hinterfragen wir nicht unseren eigenen Moral­kodex und sprechen über die Tatsache, dass alle Religionen im Hinblick auf die menschliche Verantwortung innerhalb der heiligen Schöpfung zumeist Lippen­bekenntnisse ablegen? Warum verhandeln wir nicht die Frage, ob Tiere und Natur eigentlich von uns Menschen ein viel besseres Verhalten benötigen?

Was halten Sie von der Jagd und all den Argumenten, die die Jagd für sinnvoll oder notwendig erklären?

Auch hier: Es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher Umstände und Beweg­gründe für die Jagd, und ich glaube nicht, dass ein Urteil für sie alle gleichermassen gilt. Vieles davon finde ich sehr bestürzend und grausam. In einigen wenigen Fällen halte ich sie nicht für eine schlimme Sache – beispielsweise die Jagd auf überreiche Rotwild­arten, deren Fressfeinde wir eliminiert haben, und wenn wir sie als Nahrung verwenden. Wenn nichts unternommen wird, um ihre Bestände zu reduzieren, verhungern sie oft im Winter, was sie noch mehr leiden lässt.

Die Tiere beschliessen ja auch nicht, die Menschen aufgrund der Überbevölkerung zu reduzieren. Auch von uns sterben viele wegen des Mangels an Nahrung oder einfach: wegen der Armut. Jagen Sie?

Ich habe früher Falken trainiert und mit ihnen Kaninchen gejagt; das war eine ziemlich natürliche Sache, und ich habe viel gelernt. Allerdings habe ich irgendwann auch gelernt, dass es für die Kaninchen nun nicht gerade toll war, also beschloss ich, mich da rauszuhalten und wilde Falken ihre Bedürfnisse ausleben zu lassen. Für mich war das irgendwann nicht mehr angenehm, also hörte ich mit der Falknerei auf, aber ohne Frage liebe ich Falken. Und Kaninchen auch. Ich gehe aber nach wie vor angeln, um Nahrung zu gewinnen, das heisst: im Wasser zu jagen. Ich weiss, dass die Fische Angst und Stress empfinden, und ich bemühe mich, dies so gering wie möglich zu halten. Ich mag Muscheln, und Muscheln sind Tiere, also zählt das wohl als eine Art der Jagd. Andere Arten der Jagd, insbesondere die Trophäen­jagd auf Raub­tiere wie Wölfe, Bären und Grosstiere wie Elefanten, sind eine Horrorshow.

Der Mensch hat sich alle Lebe­wesen mit neuronalen Netzen nach seinen Bedürfnissen zum Untertanen gemacht, weil er es aufgrund seiner wunderbaren Extremitäten konnte. Vermutlich wurde mit Tieren verfahren wie mit Kindern und Frauen, in der Überzeugung, etwas Sächliches vor sich zu haben, weil es früher kein Bewusstsein dafür gab, dass Tiere empathisch sind, dass sie ein Bewusstsein haben.

Das trifft im Übrigen auch auf nicht wenige Männer zu – wenn man nur mal daran denkt, was ablief, wenn westliche Kulturen auf andere Kulturen mit weniger gewalttätigen Neigungen und weniger zerstörerischen Waffen trafen. Gleichwohl muss man vielleicht wissen: Die ursprüngliche Auffassung – vor unserer Zivilisation – war es, andere Tiere für ihre unglaublichen Kräfte und Sinne zu verehren und zu respektieren. Erst als wir uns niederliessen und uns von der natürlichen Welt trennten, war unsere Anschauung im Wesentlichen geprägt von Respektlosigkeit und dem Drang zur Unterwerfung. Heute erkennen einige Menschen wieder, dass andere Lebe­wesen auf ihre eigene Weise denken und fühlen.

Offensichtlich sind Tiere in der Lage, Tiere zu lieben. Ist der Mensch auch in der Lage, Tiere zu lieben?

Einige Menschen sind dazu in der Lage – gegenüber einzelnen Tieren. Den Menschen, der zur Liebe zu allen Tieren fähig war, bezeichneten wir als Heiligen: Franziskus. Interessanterweise las ich heute Morgen eine Geschichte darüber, wie deutsche Feuerwehr­leute eine halbe Stunde damit verbrachten, eine Ratte zu retten, die in einem Schacht gefangen war. Es ist bemerkenswert, dass wir in der Lage sind, uns auf ein Individuum zu konzentrieren. Ich nehme an, dass sie alle Ratten getötet hätten, wenn fünfzig Tiere aus diesem Schacht gekommen wären.

Temple Grandin erfand Methoden, um Tiere – für den Menschen verträglicher – entspannt zur Schlachtung zu führen. Gehen Ihnen Entwicklungen, die den Tieren ihr kurzes Leben minimal verbessern, zu wenig weit?

Genau. Die Art und Weise, wie sie zum Sterben gebracht werden, ist oft besser als die, wie sie ihr Leben führen dürfen.

Mit Ihrem Wissen um das Empfinden der Tiere – wie geht es Ihnen, wenn Sie sehen, dass Tintenfische zu Tode geschlagen werden, Schweine in Schlacht­häuser geführt werden und Kühe in Massen­tierhaltungs­boxen gepfercht stehen? Sie wissen schon, all die Massaker, die Menschen täglich gegenüber Tieren ausüben.

Das alles erschüttert mich. Das Schlimmste an unserem Umgang mit anderen Tieren ist allerdings nicht das Töten. Schliesslich ist der Tod an sich eine Erfahrung, der wir alle gegenüberstehen, und das Sterben ist eine unausweichliche natürliche Angelegenheit. Aber ein Leben in Gefangenschaft ist unnatürlich und erbärmlich. Auch Menschen halten sich in vielerlei Hinsicht gegenseitig gefangen. Das ist eines der Haupt­merkmale der Zivilisation: dass der Kampf um Freiheit und Würde – Lebens­qualitäten, die für jeden Wildvogel grundlegend sind – für den Menschen in vielerlei Hinsicht seit so vielen Jahr­hunderten und bis mindestens heute andauert. Wir können uns nicht einfach gegenseitig in Ruhe lassen; wir sind von der Kontrolle besessen.

In Deutschland wurde gerade entschieden, dass Ferkel weiter ohne Betäubung kastriert werden dürfen – Schweizer Bauern können ihre Kühe weiterhin enthornen. Können Sie anhand der beiden Beispiele erklären, was das für die Tiere bedeutet. Und wie sieht es mit den Tier­schutz­gesetzen in Amerika aus?

Nun, als jemand, der ohne Betäubung beschnitten wurde, kann ich lediglich sagen, dass Babys weinen, aber normalerweise keine Erinnerung daran haben. Ich weiss nicht, wie schmerzhaft die Enthornung für die Kälber ist. Die Hauptfrage ist, welche Art von Leben diese Ferkel und Kälber vor sich haben. Meistens ist ihr Leben ein absolutes Elend. In Amerika sind die Massen­tier­haltungen im Laufe der Zeit immer schlimmer geworden. Das ist für mich das eigentliche Problem. Natürlich gibt es auch viele Menschen, die sich dagegen einsetzen. Aber in vielerlei Hinsicht ist die moderne Land­wirtschaft eine Katastrophe und ein Schrecken.

Mich würde interessieren, ob die Menschen darauf verzichten würden, Tiere zu essen, wenn vegetarische Fleisch­ersatz­nahrung zum gleichen Preis wie das billige Fleisch der Massen­produktion erhältlich wäre – oder ob es Ihrer Meinung nach eine Art Nerven­kitzel ist, eine «minderwertige» Kreatur in sich aufzunehmen. Geht es da zum Teil auch um den Mythos der Macht durch Fleisch … Männer, die Fleisch grillieren? Was könnte es möglicherweise bedeuten? Ein steinzeitliches Vergnügen, kombiniert mit einer Verbrüderung?

Bitte, bitten Sie mich nicht, die Macht­motivationen von Männern zu erklären! Als Mann empfinde ich zu viele Männer als ziemlich deprimierend. Anderseits sind wir auch zu facettenreich für eine schnelle allgemeine Erklärung von Hinterhof-Fleischgrillierern.

Als Jäger haben sich die Menschen weiterentwickelt. Aber nicht als Bauern. Ich bekomme den gleichen Nerven­kitzel beim Kauf einer Aubergine wie beim Kauf eines Stücks Fleisch, das heisst: gar keinen. Ich verstehe, warum Menschen in bestimmten Arten der Jagd einen Sinn sehen, obwohl ich viele Formen der Jagd verabscheue. Ich fange Fisch und esse ihn, damit ich verstehe, was es bedeutet, sein Essen aus der Natur zu holen und es mit einer Geschichte nach Hause zu bringen. Ich betrachte Fische aber nicht als untergeordnet, und wenn ich schwimmen würde und ein Hai mich angreifen würde, dann wäre die Überlegenheit der Fische beweiskräftig, und ich würde es ihnen nicht verdenken, dass sie eine Mahlzeit wollen.

Doch ernsthafter zum Thema Fleisch­ersatz­produkte: Diese Sicht­weise ist ein Grund, dass es überhaupt ein «Problem» ist. Warum ersetzen, wenn es unglaublich leckeres Gemüse und vor allem Pilze und Nudeln gibt sowie viele, viele neue und kreative Wege, sie zuzubereiten und zu servieren? Es ist eine grosse Aufbesserung meiner Küche, eine tolle Gemüse­mahlzeit zuzubereiten, statt Säuge­tier­blut auf meinen Arbeits­platten und Schneide­brettern zu haben. Oder an Salmonellen und Fäkalien zu denken, die in das Essen gemischt sind. Vegan ist so viel sauberer. Die vielen gesunden Veganer beweisen, dass der Mensch keine Tiere als Nahrungs­quelle benötigt.

Kann man Menschen zu Vegetariern machen? Und wie?

Wenn Sie erfahren, was ich erfahren habe und was ich in meiner Arbeit mitteile – ganz zu schweigen von den umfangreichen Informationen, die von vielen anderen Gruppen zur Verfügung gestellt werden – und Sie immer noch regelmässig Fleisch essen, haben Sie eine Schwachstelle in Ihrem Mitgefühl, in Ihrem Verantwortungsbewusstsein.

Weil wir gerade von Krieg reden: Was halten Sie von militanten Tierschützern?

Ich bin kein Fan von militanter Haltung in jeglicher Hinsicht. Ich bin dagegen, wenn Leute in Universitäten einbrechen und die Forschung ruinieren, indem sie zum Beispiel Hunderte von Labor­mäusen aus den Käfigen lassen. Ich wäre glücklicher, wenn ich die gleiche Leiden­schaft für natürliche Lebens­räume und den Schutz von Wild­tieren sehen dürfte. Aber ich sympathisiere mit diesen Aktivisten und ihren Gesinnungen mehr als mit der kapitalistischen Art der Land­wirtschaft, mit Monsanto, Exxon und der Republikanischen Partei in den Vereinigten Staaten, deren Handeln eher durch brutale Unmenschlichkeit und Unterdrückung als durch Mitgefühl und den Kampf für die Freiheit aller Menschen und aller Lebe­wesen motiviert ist.

Was würden Sie also von der Fleisch­wirtschaft erwarten oder verlangen? Was muss Ihrer Meinung nach dringend geändert werden?

Ich würde alle Tier­haltungen abschaffen. Die Fleisch­produktion ist in mehrfacher Hinsicht schlecht für die Welt: Sie verursacht Leiden, zerstört den Lebens­raum von Millionen von Wild­tieren und trägt viel zum Klima­wandel bei. Die Massen­tierhaltung ist auf allen Ebenen abscheulich. Sie trägt in hohem Masse zur Wald­vernichtung bei, weil wir gewaltige Lebens­räume zerstören, nur um die Tiere zu füttern, die wir zur Schlachtung halten. Und sie trägt immens zum allgemeinen Leid in der Welt bei.

Wenn die Menschen Fleisch wollen, sollten sie ihre eigenen Tiere halten und sie töten. Wenn sie das nicht können oder wollen, entsteht daraus kein wirklicher Verlust, weil es keinen echten Bedarf an Fleisch gibt. Zumindest sollten die Betriebe kleinbäuerlich sein und keine Fabriken für lebendes Fleisch, und die Tiere sollten sich weiträumig umherbewegen können. Wir haben vier Hühner für Eier. Sie können sich jeden Tag ohne Einschränkung und ohne Zäune bewegen. Nachts gehen sie in ihren Stall, und wir schliessen einfach die Tür. Bevor wir sie angeschafft haben, wollte ich keine Eier kaufen.

Wie wird die Erde für den Menschen aussehen, wenn sich das Arten­sterben in gleicher Geschwindigkeit fortsetzt?

Erstens wird die Welt immer mehr aus monströsen Städten bestehen. Mehr Stress, mehr Anonymität, mehr Gedränge. Wir töten die Wunder. Aus diesem Grund sind wir auch mit Umwelt­verschmutzung, globaler Erwärmung, Übersäuerung der Ozeane und Entwaldung einverstanden. Und diese Dinge verursachen bereits spürbare Destabilisierungen. Mehr Erwärmung und das Insektensterben werden das Ende der Zivilisation sein, wie wir sie kennen. Die landwirtschaftlichen Erträge werden sinken. Wir werden in einem ständigen Umbruch und Rückzug leben, in einer Welt des ständigen selbstverschuldeten Konflikts. In den Vereinigten Staaten erleben wir erst seit dem Hurrikan Katrina im Jahr 2005 Sturm-, Flut- und Brand­katastrophen, die so gross, teuer und häufig sind, dass wir die Schäden nicht wieder beheben können.

Viele Menschen reagieren erst, wenn sie selber betroffen sind. Erklärt das die Trägheit im Umgang mit der Erkenntnis des Arten- und Insektensterbens?

Auch hier geht es um die Grenzen der menschlichen Intelligenz, des Mitgefühls und der Ethik. Was wir nicht brauchen, ist uns egal. Das ist nicht sehr edel von uns. Und einige dieser Dinge, wie das Zusammenbrechen der Insekten­populationen, könnten für die Land­wirtschaft verheerend sein. Wir reagieren immer noch nicht so, als wäre es der Notfall, der es ist. Wir sind nicht klug genug, um das Ausmass unseres Schadens zu erkennen. Und wir sehen, dass wir in der Lage sind, globale Probleme zu schaffen, aber nicht, sie zu lösen.

Wir essen heute Plastik in unseren Meeresfrüchten. Einige der Chemikalien in einigen Kunst­stoffen beeinflussen unser Immun­system und unsere Hormone. Viele Kunststoffe sondern giftige Chemikalien ab. Wenn man sich Krebs­erkrankungen, Östrogen­konzentrationen, reduzierte Spermien­zahlen usw. ansieht, ist offenkundig, dass unsere Vergiftung der Welt uns selbst keineswegs ausschliesst.

Wir zerstören und degradieren einen Grossteil des Lebens auf der Erde, verschmutzen Luft und Grund­wasser, ersticken den Ozean mit Kunst­stoffen. Wir haben die Ausrottung der Tier- und Pflanzen­arten auf das Tausendfache der natürlichen Rate beschleunigt, und die globale Erwärmung und Übersäuerung der Ozeane wird im nächsten Jahrhundert unermessliches Leid verursachen. Doch all das kümmert uns nicht sonderlich. Das verdeutlicht die Beschränktheit der menschlichen Intelligenz. Und wir sind nicht intelligent genug, um unsere eigene Begrenztheit zu sehen, was uns sehr destruktiv und gefährlich macht.

Das wird ein Gespräch über die geballte Dummheit unserer Spezies. Schade, dass es nicht millionenfach an Konzern­vorstände und an Lobbyisten und Politikerinnen verteilt wird, die erst nach der Antwort auf die Frage: «Was zum Teufel unternehmen Sie dagegen?» den Raum verlassen dürfen. Gerade gefallen sich alte Politiker in der Beschimpfung von Kindern, die es wagen, sich Gedanken um den Planeten zu machen.

Ich sehe die Auswirkungen des Klima­wandels überall. Ich sehe Entwaldung, gewaltige Einbussen bei den natürlichen Lebens­räumen, die Zersplitterung wildlebender Tier­populationen und den massiv abnehmenden Bestand frei lebender Tiere.

Weiter gefragt: Fänden Sie das Aussterben des Menschen einen drastischen Verlust für den Planeten?

Die Existenz des Menschen ist ein Nachteil für fast alle anderen Lebens­formen. Die wichtigsten Lebensräume – Wälder, Feucht­gebiete, Gras­land, Süss­wasser, Korallen­riffe, das Meer – sind am stärksten gefährdet und abgebaut, und die Wild­populationen befinden sich fast alle auf einem äusserst niedrigen Stand im Vergleich zu noch vor wenigen Jahrhunderten und sind in einem beschleunigten Rückgang begriffen. Das bedeutet letztlich etwas sehr Erschreckendes für uns: Menschen sind mit dem Rest des Lebens auf der Erde nicht mehr vereinbar.

So, Zeit für gute Laune. Gibt es Anzeichen eines Umdenkens in breiteren Schichten der Gesellschaft?

Ich sehe in der Tat eine ganze Menge Anzeichen für ein Umdenken – dass viele Probleme mittlerweile in ihrer Relevanz erkannt und nicht mehr verdrängt werden und eine Bewegung hin zu grösserer Anteilnahme. Aber dieses Problemelösen und Mitfühlen ist bislang noch nicht der bestimmende Faktor für den Kurs der Zivilisation. Die Zerstörung von lebenserhaltenden Systemen und Lebens­gemeinschaften ist nach wie vor der dominierende Teil des Ganzen.

Jetzt haben Sie es wieder ruiniert. Welche Hoffnungen haben Sie, dass der Mensch seinen Umgang mit der Natur und den Tieren ändert?

Die Geschichte zeigt, dass wir uns im Laufe der Zeit überwiegend in bessere Richtungen bewegen. Das Problem ist, dass der Fortschritt viel zu langsam ist.

Wenn Sie Verstand verteilen könnten, wie würde das Resultat in einem utopischen Fall aussehen?

Einfache Menschen­würde für alle Frauen zum Beispiel könnte das Problem der menschlichen Überbevölkerung lösen, die alle unsere Umwelt­probleme antreibt oder verschlimmert. Das liegt daran, dass Frauen, die zur Schule gehen können, Eigentum besitzen, Bewegungs­freiheit haben und eigene Entscheidungen treffen können, in der Regel kleinere, besser betreute Familien wählen. Wenn wir das Bevölkerungs­wachstum umkehren und uns von der Energie aus fossilen Brenn­stoffen verabschieden und die Land­wirtschaft entgiften, könnte der Mensch eine Zukunft haben, die dem Begriff Mensch würdig ist. Wenn wir von zivilisiert zu humanisiert übergehen, werden wir in unserem Leben Platz für ein vertretbares Zusammenleben mit dem Rest des Lebens auf der Erde schaffen.

Ein schönes Schlusswort und ein lieber Gruss an die wachsende Zahl sogenannter Lebens­schützer. Die Schützer. Männlich. Amen und vielen Dank, Herr Professor, für Ihre Zeit und Ihren geringfügigen Optimismus.

Illustration Alex Solman