Das bunte Europa der Regionen
Severozapaden, Attika, Inner London: Die Regionen in der EU haben sich ökonomisch extrem unterschiedlich entwickelt. Eine Übersicht über neun Jahre in drei Karten.
Von Simon Schmid, 01.04.2019
Jeder Wirtschaftsraum hat seine eigene Geografie.
In den USA gibt es das reiche Neu-England, den ärmeren Süden und die fortschrittliche Westküste. In China den prosperierenden Südwesten, den stagnierenden Nordwesten und das unterentwickelte Landesinnere.
Und in Europa?
Trotz unmittelbarer Nähe – oder gerade deshalb – fällt es uns zuweilen schwer, uns ein klares Bild von den räumlichen Wirtschaftsstrukturen auf unserem Kontinent zu machen. Wo ist Europa reich, wo arm? Wo steigt der Wohlstand, wo sinkt er? Wo wächst die Bevölkerung, wo schrumpft sie?
Um das geografische Auge zu schärfen – im Hinblick auf die Europawahlen Ende Mai –, zeigen wir in diesem Beitrag drei Karten. Und zwar in etwas feinerer Auflösung, als dies üblicherweise gemacht wird: Wir untersuchen die 28 EU-Staaten nicht auf Länderebene, sondern auf jener der Regionen.
Anhand der Karten wollen wir erstens herausarbeiten, wo die ökonomischen Bruchlinien in der EU verlaufen; und zweitens verdeutlichen, wie heterogen die Wirtschaftsgeografie dieses Staatengebildes ist.
Los gehts – mit dem ersten Thema: Wohlstand.
1. Wo ist Europa reich?
Die erste Karte zeigt das Bruttoinlandprodukt pro Kopf in 276 EU-Regionen und in der Schweiz. In dieser Kennzahl kommt die Wirtschaftskraft und damit auch das potenzielle Einkommen pro Person zum Ausdruck.
Ausgedrückt ist dieses Einkommen hier in sogenannten Kaufkrafteinheiten. Das bedeutet, dass die unterschiedlichen Lebenskosten je nach Region beim Vergleich berücksichtigt sind. Gemessen wurde – natürlich – in Euro.
Die Zahlen datieren aus dem Jahr 2016 und sind damit einigermassen aktuell (die aktuellsten Zahlen stammen von 2017, sind aber nicht vollständig).
Die Einfärbung der Regionen je nach Wirtschaftskraft macht mehrere Zusammenhänge sichtbar:
In Europa ist der Reichtum nicht wie in den USA am Rand, sondern im Zentrum konzentriert. Die wohlhabendsten Gebiete liegen entlang einer Achse, die von Südengland über die Niederlande, Deutschland, Österreich und die Schweiz bis nach Norditalien reicht. Je näher eine Region an dieser Achse liegt, desto grösser ist die Chance, dass das Pro-Kopf-Einkommen dort über dem europäischen Durchschnitt liegt.
Städte sind wohlhabender als ländliche Regionen. Dies fällt in den mittelreichen bis ärmeren Ländern besonders auf: In Paris, Madrid, Warschau oder Budapest hebt sich das BIP pro Kopf deutlich gegenüber dem Umland ab. Der Unterschied ist teils massiv: So wird etwa in Bukarest (40’492 Euro) pro Kopf dreimal mehr erwirtschaftet als in der umliegenden Region Sud-Muntenia (13’450 Euro).
Die innereuropäischen Differenzen sind riesig. Als wirtschaftsstärkste Region in der Statistik erscheint Inner London West (178’441 Euro). Die schwächste Region ist Severozapaden im Nordwesten Bulgariens (8605 Euro). Ein Unterschied des Faktors 20 (würde man die Zahlen nicht in Kaufkrafteinheiten umrechnen, wäre er sogar noch grösser).
Das Pro-Kopf-Einkommen in der Schweiz (47’085 Euro) ist übrigens rund eineinhalb Mal so gross wie jenes im EU-Gesamtschnitt (29’200 Euro).
Die europäische Wirtschaft ist allerdings kein statisches Gebilde. Das zeigt die nächste Karte, die einen leicht anderen Aspekt aufgreift: Wachstum.
2. Wo ist Europa dynamisch?
Eingetragen darauf ist, wie sich das BIP pro Kopf in den einzelnen Regionen zwischen 2007 und 2016, über neun Jahre hinweg, verändert hat.
Zur besseren Vergleichbarkeit wurde wiederum die Kaufkraft bereinigt, und es wurde die Differenz zum Gesamtdurchschnitt gebildet. Regionen, die auf der Karte mit einem Wert über null eingezeichnet sind, wuchsen also rascher, solche mit einem Wert unter null langsamer als die gesamte EU.
Das Farbbild unterscheidet sich markant von jenem auf der vorigen Karte.
Nicht der Zentrumsgürtel, sondern Osteuropa verzeichnet die höchsten Wachstumsraten. Das ist auf den ersten Blick nicht weiter erstaunlich, sondern ökonomisch folgerichtig: Je ärmer eine Region zu einem bestimmten Ausgangszeitpunkt ist, desto grösser ist das Aufholpotenzial dieser Region in den Folgejahren. Trotzdem ist die Entwicklung bemerkenswert. Denn es bedeutet, dass in Europa ein genereller Trend zur Konvergenz existiert. Oder anders gesagt:
Die Diskrepanz zwischen den reichsten und den ärmsten Regionen nimmt tendenziell ab – und nicht zu, wie es beispielsweise in den USA der Fall ist. So liegen sechs der zehn Regionen mit den höchsten Pro-Kopf-Wachstumsraten in Osteuropa. In der polnischen Region Mazowieckie stieg das BIP pro Kopf innerhalb von neun Jahren beispielsweise um 26 Prozent stärker an als im EU-Durchschnitt. Doch im EU-Regionalgefüge ist trotz Konvergenz nicht alles rosig.
Es gibt grosse Unterschiede beim Wachstum. Schuld daran ist vor allem die Eurokrise. Sie führte etwa in Griechenland zu drastischen Einbrüchen. Dort liegen acht der zehn Regionen mit den tiefsten Pro-Kopf-Wachstumsraten, und dort liegt auch das Schlusslicht beim Wachstum: In der Region Attika rund um Athen schrumpfte das BIP pro Kopf gegenüber dem EU-Schnitt um 31 Prozent. Am anderen Ende der Rangliste steht die irische Region Southern and Eastern mit einem Wachstumsvorsprung von 53 Prozent.
Die Schweiz figuriert bei dieser Statistik im vorderen Mittelfeld. Das BIP pro Kopf legte von 2007 bis 2016 knapp fünf Prozent mehr zu als im Durchschnitt über die gesamte EU. Die Schweiz war zuletzt also die Ausnahme von der Regel, wonach reiche Regionen tendenziell langsamer wachsen.
Die Pro-Kopf-Vergleichsmethode hat jedoch gewisse Tücken. Damit befasst sich die dritte und letzte Karte in diesem Artikel: jene zur Bevölkerung.
3. Wo ist Europa attraktiv?
Die Karte zeigt, wie hoch der Bevölkerungszuwachs war, den die Regionen zwischen 2007 und 2016 verzeichneten, also im selben Zeitraum wie oben.
Erneut unterscheidet sich das Farbbild – neue Schlüsse drängen sich auf:
Das Bevölkerungswachstum konzentriert sich in regionalen Hotspots. Zu diesen Hotspots gehören etwa London, die Balearen, Zypern, Luxemburg, Helsinki, die Region Südböhmen rund um Prag – und die Schweiz. Eine wichtige Rolle dabei spielt die Migration, die in Hauptstädten, Wirtschaftszentren und Tourismusgebieten zu einem Bevölkerungsanstieg führt.
Manche Regionen entvölkern sich trotz Wohlstandsgewinnen. Das zeigt sich etwa in Rumänien und Bulgarien, wo die Bevölkerung trotz verhältnismässig hohen Pro-Kopf-Wachstumsraten schrumpft (kleine Nebenbemerkung: Die Abwanderung trägt mathematisch dazu bei, dass sich das BIP pro Kopf erhöht, erklärt aber nicht das gesamte BIP-pro-Kopf-Wachstum). Etwas abgeschwächt zeigt sich dies auch in Deutschland: Hier wuchs das BIP pro Kopf flächendeckend, und die meisten Regionen haben ein hohes Wohlstandsniveau. Bis auf Oberbayern im Südosten des Landes weist allerdings keine Region ein besonders hohes Bevölkerungswachstum auf. Gerade umgekehrt verhält sich die Sache in Südspanien oder in der Gegend um Rom, wo die Bevölkerung trotz wirtschaftlicher Stagnation relativ stark wächst.
Mit einem Plus von 10,9 Prozent wies die Schweiz zwischen 2007 und 2016 das vierzehnthöchste Bevölkerungswachstum unter den EU-Regionen auf.
Am stärksten wuchs die französische Überseeregion Guyana (25,2 Prozent, nicht abgebildet), die grösste Abwanderung wies eine Region auf, der wir bereits begegnet sind: Severozapaden (–14,4 Prozent), das bulgarische Armenhaus. In der gesamten EU wuchs die Bevölkerung um gut zwei Prozent. Auch hier gilt also: Innerhalb der Europäischen Union gibt es grosse Unterschiede.
Schluss
Was kennzeichnet die europäische Wirtschaftsgeografie? Der vielleicht wichtigste Eindruck, den die drei Karten vermitteln: Vielfalt.
Es fällt schwer, die ganze EU über einen Kamm zu scheren: Deutschland ist zwar reich und wächst wirtschaftlich, doch die Bevölkerungszahl stagniert. Spanien, Frankreich, Italien und Grossbritannien sind in sich sehr heterogen. Länder wie Polen oder Ungarn sind noch verhältnismässig arm, holen aber rasch auf. Die Schweiz ist ihrerseits reich, wächst rasch und zieht Menschen an. Griechenland, am anderen Ende, weist keine der drei Eigenschaften auf.
Wenn die EU-Länder am 29. Mai ihre gewählten Parlamentarier für eine neue Legislaturperiode nach Brüssel schicken, so wird diese Heterogenität eine Herausforderung sein. Europa braucht eine Politik, die nicht nur für 28 Staaten, sondern sogar für 276 unterschiedliche Regionen stimmig ist. Dies zu bewerkstelligen, wird eine grosse Aufgabe in den kommenden Jahren.
Europäische Regionalstatistiken sind eine mühsame Angelegenheit, da sie oft mit Verzögerung auf die nationalen Daten erscheinen, Lücken bei der Abdeckung aufweisen und die Schweiz nicht berücksichtigen. Für die Aufbereitung ist das Statistikamt Eurostat zuständig. Drei geografische Gliederungsstufen werden dort unterschieden; in den obigen Karten kommt die zweite Stufe (NUTS 2) mit 276 EU-Regionen gemäss der Klassifikation von 2013 zum Zug. Eurostat hat die Angaben zum BIP pro Kopf sowie zum BIP-Wachstum dafür in einem Artikel aufbereitet. Die Bevölkerungsdaten stammen aus einer Datenbankabfrage beim Statistikamt.
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