Die Nebelpetarden der ETH
Von Christof Moser, 25.03.2019
Die Gegendarstellung der ETH finden Sie am Ende des Artikels.
60 präzise Fragen zum «Fall Carollo» und zu seinen Hintergründen stellte das Rechercheteam der Republik den ETH-Verantwortlichen. Dem früheren Präsidenten Lino Guzzella und dem Vizepräsidenten Ulrich Weidmann ebenso wie dem ehemaligen Ombudsmann Wilfred van Gunsteren, Prorektor Antonio Togni, Physikdepartementsleiter Rainer Wallny und dem Präsidenten des ETH-Rats Fritz Schiesser.
Das war am 4. März.
Die Republik konfrontierte die ETH-Verantwortlichen mit den Recherchen über die gravierenden Führungs- und Verfahrensfehler im Fall der angeblich mobbenden Astronomie-Professorin Marcella Carollo. Und über die Intrigen und die Machtspiele hinter den ETH-Fassaden, die in dieser Affäre aufblitzen.
Zum Beispiel wollten wir wissen:
Warum wurden die in der Doktoratsverordnung vorgeschriebenen Prozesse im «Fall Carollo» nicht eingehalten?
Welche Schritte wurden unternommen, um den Wahrheitsgehalt der vorgebrachten Anschuldigungen gegen Professorin Carollo zu prüfen?
Warum richtete sich die Administrativuntersuchung einzig gegen die Person Carollo?
Als Antworten erhielt das Team Medienstellen-Sätze von der Medienstelle.
Zehn Tage nach der Anfrage dann die hastig einberufene Medienkonferenz.
Vergangene Woche, während der Publikation der Serie zum «Fall ETH»: Regungslosigkeit. «Schockstarre», wie jemand innerhalb der Mauern flüsterte.
Dann, am Freitagabend, um 18.34 Uhr: eine E-Mail an die gesamte ETH, Professoren, Doktorandinnen, Mitarbeiter und Studentinnen*; Absender: Präsident Joël Mesot. Und eine fast gleich lautende Medienmitteilung.
Darin wirft die ETH der Republik drei «grundlegende Falschaussagen» vor.
Hier unsere Entgegnungen:
Der Vorwurf der Professorin, sie sei nicht angehört worden, stimmt nicht. Sie wurde im Frühjahr 2017 in mehreren Gesprächen mit den Vorwürfen aus den Testimonials konfrontiert.
Republik: Gespräche fanden statt, das ist korrekt. Die dort vorgebrachten Vorwürfe waren jedoch unkonkret und schwammig. Und sie wurden nicht auf ihre Richtigkeit untersucht.
Aus «Das Versagen» (Teil 1, Akt 1): «Am 9. Februar 2017 treffen sich Togni, Wallny und Professorin Carollo. Die Vorgesetzten lesen ihr Ausschnitte aus dem Compliance Guide der ETH vor und halten ihr vor, laut den Testimonials dagegen verstossen zu haben: So habe sie ihre Doktoranden nicht zu Konferenzen geschickt, ihnen keine fürsorgliche Supervision geboten, unklar mit ihnen kommuniziert und manche von ihnen gedrängt, kompromittierende Dokumente zu unterschreiben. Einsicht in die Testimonials erhält Carollo nicht. Sie soll Stellung nehmen, ohne den Kontext der Vorwürfe zu kennen. Die Professorin fühlt sich verurteilt, ohne angehört worden zu sein.»
Aus «Das Versagen» (Teil 1, Akt 2): «Am 1. März 2017 wird Marcella Carollo zu einem Gespräch mit ETH-Vizepräsident Ulrich Weidmann geladen. (...) Sie ist überzeugt, dass sie vieles widerlegen und mit allfälligen Missverständnissen aufräumen kann. Doch Weidmann will keine Erklärungen hören. (...) Carollo wird mitgeteilt, dass in der Zwischenzeit auch ihre beiden verbleibenden Doktoranden den Wunsch geäussert hätten, sie zu verlassen. Gründe dafür teilt ihr Weidmann keine mit, erst drei Monate später werden die beiden Doktoranden Testimonials nachliefern. Auch sie werden mit Carollo hart ins Gericht gehen.»
Aus «Das Versagen» (Teil 1, Akt 2): «Für den 24. März hat ihr Vizepräsident Weidmann ein weiteres Treffen in Aussicht gestellt. Ob sie dann endlich ihre Sicht der Dinge darlegen kann? Als sie ihm gegenübersitzt, spricht Carollo die Zusammenfassung von Ombudsmann van Gunsteren an. Sie enthalte etliche unhaltbare Vorwürfe. Unter Punkt 12 gebe es sogar ein Zitat, das auf wissenschaftliches Fehlverhalten hindeute – die Todsünde schlechthin unter Wissenschaftlern. (...) Carollo verlangt, dass diese Anschuldigung untersucht wird. (...) Doch Weidmann winkt ab. Er versichert der Professorin, dass der Ombudsmann auf eigene Faust handle und seine Behauptungen, zumindest was wissenschaftliches Fehlverhalten angeht, keine Relevanz hätten.»
Sie konnte während der Administrativuntersuchung ihre Sicht der Dinge ausführlich darlegen. Sie wurde mit den Aussagen der Befragten konfrontiert und erhielt im Nachgang deren Gesprächsprotokolle.
Republik: Professorin Carollo konnte sich zwar in der Administrativuntersuchung äussern, ihre Äusserungen blieben im Bericht von Untersuchungsleiter Rüssli aber fast vollständig unberücksichtigt. Im Untersuchungsbericht listet Rüssli bloss ausführlich Vorwürfe auf und schreibt dann verkürzt, was Carollo dazu meint.
Aus «Abgekartetes Spiel» (Teil 3, Akt 5): «Am 4. Mai 2018 befragt Rechtsanwalt Rüssli Professorin Carollo im Beisein ihres Anwalts. Die Fragen, die der Untersuchungsleiter stellt, sind mehrheitlich suggestiv, aber allgemein gehalten.»
Aus «Abgekartetes Spiel» (Teil 3, Akt 5): «Weil die Testimonials vor einem Jahr als vertraulich klassifiziert wurden, hat Professorin Carollo sie nie einsehen dürfen. Offiziell darf sich Rüssli bei seiner Untersuchung deshalb nicht auf die Testimonials stützen. Doch laut mehreren voneinander unabhängigen Quellen hat Rüssli die Testimonials bei den Befragungen vor sich liegen. Er lässt sich die Schilderungen von den Doktorandinnen und Postdocs bestätigen – und konfrontiert Carollo bei deren Befragung dann mit den Aussagen. So vermeidet er es, Carollo die Testimonials zeigen zu müssen. Deshalb kann die Professorin weiterhin bloss vermuten, wer sie mit welchem Vorwurf belastet.»
Zudem nahm sie zum Entwurf des Untersuchungsberichtes ausführlich Stellung. Auch bei der Überprüfung der Angemessenheit der Entlassung konnte sie vor der Professorenkommission ihren Standpunkt darlegen.
Republik: Professorin Carollo erhält den Entwurf des Berichts von Untersuchungsleiter Markus Rüssli gleichzeitig mit der ETH. Die Stellungnahme von Carollo ignoriert er komplett. Sein Schlussbericht unterscheidet sich vom zuvor verfassten Entwurf einzig in Nuancen. Von der Professorenkommission wird Carollo nur sehr oberflächlich befragt. Die Kommission kommt dennoch zum Schluss, dass eine Kündigung Carollos aus juristischer Sicht nicht angemessen sei. Die ETH-Schulleitung ignoriert diese Empfehlung und beantragt die Kündigung.
Aus «Abgekartetes Spiel» (Teil 3, Akt 5): «Zwei Wochen nach ihrer Befragung erhält Professorin Carollo zum ersten Mal detaillierte Unterlagen zu ihrem Fall – mehr als ein Jahr nachdem sie tröpfchenweise von Anschuldigungen gegen sich erfahren hat. Die geheimen Testimonials sind nicht dabei. Kurz darauf schickt Rüssli die erste Fassung seines Berichts an die ETH-Schulleitung. Er empfiehlt, sofort das Kündigungsverfahren einzuleiten. (...) Nachdem die ETH-Leitung die erste Fassung des Berichts gelesen hat, teilt sie Marcella Carollo mit, sie solle besser von sich aus kündigen. (…) Die Professorin lehnt ab. Drei Monate später schickt Carollos Anwalt eine 90-seitige Stellungnahme an Untersuchungsleiter Rüssli, in der er jeder Anschuldigung entgegnet. Zudem bemängelt er, dass Rüssli gezielt bloss jene Leute befragt habe, von denen man annehmen konnte, dass sie Carollo belasten würden. Doch Markus Rüssli ignoriert die Einwände und schliesst die Untersuchung ab.»
Aus «Abgekartetes Spiel» (Teil 3, Akt 6): «Am 23. Januar 2019 wird Professorin Carollo vor der sechsköpfigen Entlassungskommission angehört, im Hotel Schweizerhof in Zürich.» ‹Bitte erläutern Sie Ihr PhD-Programm›, fordert ein Kommissionsmitglied. ‹Konnten die Studenten ihre Programme gemeinsam besprechen und gab es Arbeitsgruppen?›, fragt ein anderes. ‹Wurden in Diskussionen auch das Doktorat betreffende Themen behandelt?›»
Summa summarum hält die ETH fest:
Die Unterstellung, die ETH habe die Vorwürfe im Falle der Astronomie-Professorin nie mit der gebotenen Sorgfalt untersucht, ist falsch. Die Administrativuntersuchung wurde nach rechtsstaatlichen Grundsätzen geführt.
Republik: Die Administrativuntersuchung wurde als verkappte Disziplinaruntersuchung gegen eine Einzelperson durchgeführt, obwohl die rechtlichen Grundlagen dies ausschliessen; damit sparte sich die ETH den ordentlichen Rechtsweg.
Aus «Abgekartetes Spiel» (Teil 3, Akt 5): «Eigentlich dürfen sich Administrativuntersuchungen gemäss Art. 27a Abs. 2 der Regierungs- und Verwaltungsorganisationsverordnung nicht gegen bestimmte Personen richten. Entsprechend heisst es im Untersuchungsauftrag der ETH-Schulleitung an Anwalt Rüssli, er habe die Vorwürfe zu klären, die seit bald einem Jahr gegen Professorin Marcella Carollo im Raum stehen. Zu beurteilen seien dabei ‹die gesamten Umstände, die ein allfälliges Fehlverhalten ermöglicht oder begünstigt haben könnten›. Tatsächlich jedoch führt Rechtsanwalt Markus Rüssli in der Affäre Carollo eine verkappte Disziplinaruntersuchung durch. Dieses Vorgehen erspart der ETH den ordentlichen Rechtsweg, der bei Vorwürfen gegen Einzelpersonen eingeschlagen werden muss.»
Weiter schreibt die ETH:
Die Berichterstattung ist voller einseitiger Anschuldigungen und Unterstellungen. Die massiven Angriffe auf die ETH Zürich und auf einzelne ETH-Angehörige befremden uns. Das Interview der Professorin beinhaltet schwerwiegende, jedoch unbelegte Vorwürfe in Bezug auf Führungsmängel, Sexismus und Korruption.
Bemerkenswert: Die ETH unterscheidet nicht zwischen der beschuldigten Professorin Marcella Carollo und ihrer Kollegin Ursula Keller, der zweiten ordentlichen Professorin am Physikdepartement. Im Interview mit der Republik kritisiert Keller die Untersuchung gegen Professorin Carollo und ihre geplante Entlassung scharf – und wirft der ETH Zürich gravierende Führungsmängel, Sexismus und Korruption vor.
Zum Schluss der ETH-Mitteilung beisst sich die Katze in den Schwanz:
(...) die Administrativuntersuchung [ist] zum Schluss gekommen, dass seitens der Professorin ein schwerwiegendes pflichtwidriges Verhalten über einen längeren Zeitraum hinweg vorliegt. Der Untersuchungsführer empfahl daher die Auflösung des Arbeitsverhältnisses.
Republik: Der Untersuchungsführer hat nicht untersucht. Und die eigens einberufene Entlassungskommission kam zu einem anderen Schluss.
Kurzum: Die Medienmitteilung war ein Kunstwerk der Vernebelung. An den Fakten ändert sie nichts.
* Präzisierung: Studenten mit Assistenz- und Hilfsstellen.
Gegendarstellung der ETH
Die Republik schreibt (S. 2): «Professorin Carollo konnte sich zwar in der Administrativuntersuchung äussern, ihre Äusserungen blieben im Bericht von Untersuchungsleiter Rüssli aber fast vollständig unberücksichtigt. Im Untersuchungsbericht listet Rüssli bloss ausführlich Vorwürfe auf und schreibt dann verkürzt, was Carollo dazu meint.» Das trifft nicht zu.
Zutreffend ist: Der unabhängige externe Untersuchungsbeauftragte nimmt in seinem Schlussbericht bei jedem Vorwurf auf die entsprechenden Einwendungen von Prof. Carollo Bezug und geht auf die von Prof. Carollo eingereichten Akten ein.
Die Republik schreibt (S. 2): «Die Stellungnahme von Carollo ignoriert er [Untersuchungsleiter Markus Rüssli] komplett.» Das trifft nicht zu.
Zutreffend ist: Der unabhängige externe Untersuchungsbeauftragte geht im Einzelnen auf die Stellungnahme von Prof. Carollo ein.
Die Republik schreibt (S. 2): «Von der Professorenkommission wird Carollo nur sehr oberflächlich befragt.» Das trifft nicht zu.
Zutreffend ist: Frau Carollo konnte in der mündlichen Befragung gegenüber der Kommission zur Überprüfung der Angemessenheit der Kündigung ausführlich Stellung nehmen.
Die Republik schreibt (S. 3): «Die Administrativuntersuchung wurde als verkappte Disziplinaruntersuchung gegen eine Einzelperson durchgeführt, obwohl die rechtlichen Grundlagen dies ausschliessen; damit sparte sich die ETH den ordentlichen Rechtsweg.» Das trifft nicht zu.
Zutreffend ist: Im Gegensatz zu einer Disziplinaruntersuchung richtet sich eine Administrativuntersuchung nicht direkt gegen eine bestimmte Person, sondern analysiert ein behauptetes Fehlverhalten umfassend und unter Prüfung der strukturellen und organisatorischen Umstände. Dies geschah auch im vorliegenden Fall. So ist im Auftrag an den externen unabhängigen Untersuchungsbeauftragten klar festgehalten, dass dieser u. a. zu untersuchen hat, weshalb frühere Hinweise auf allfälliges unkorrektes Führungsverhalten nicht bis zur Schulleitung vorgedrungen sind oder ob es Hinweise auf sonstiges Fehlverhalten im Departement Physik gegeben hat. Die Regierungs- und Verwaltungsorganisationsverordnung sieht explizit vor, dass das Ergebnis einer Administrativuntersuchung Anlass für die Einleitung personalrechtlicher Verfahren sein kann. Der Rechtsweg wurde Frau Carollo in keiner Art und Weise verwehrt.
Die Republik schreibt (S. 3): «Der Untersuchungsführer hat nicht untersucht.» Das trifft nicht zu.
Zutreffend ist: Der unabhängige externe Untersuchungsbeauftragte hat die Vorwürfe untersucht.
ETH Zürich
Die Redaktion hält an ihrer Darstellung fest.